11

Das Konferenzzimmer im Grafschaftspräsidium war ein eleganter, langgestreckter Raum mit Bogenfenstern und einer Tür, die auf einen Balkon mit kunstvollem schmiedeeisernen Gitter führte. Zu beiden Seiten gab es einen Kamin mit holzgeschnitzten Simsen, doch wegen der benötigten großen Menge Brennmaterials wurden sie beide nie benutzt.

Der ovale Tisch, eine Regency-Nachbildung, war ziemlich wuchtig, wirkte aber in diesem Raum eher mittelgroß. An seinem Kopfende, dicht bei einem der an der Wand angebrachten Heizstrahler, auf die man die Hoffnung setzte, sie würden das Zimmer angemessen heizen, hatte der Chiefconstable Platz genommen, ein gutaussehender, stets tadellos gekleideter Mann Anfang Fünfzig. Sein Benehmen war höflich, solange er nicht auf Begriffsstutzigkeit stieß; dann duldete er keinen Widerspruch mehr.

Er wandte sich an Fusil, der rechts von ihm an der Mitte des ovalen Tisches stand. »Die Quintessenz Ihrer Ausführungen ist demnach, daß Sie mehr denn je davon überzeugt sind, es mit Verbrechern und nicht mit Terroristen zu tun zu haben?«

»Ja, Sir.« Fusil war sich bewußt, daß ein etwas vorsichtigerer Mann an seiner Stelle seine Antwort ein wenig verpackt haben würde. »Die Garagentür besaß ein ziemlich kompliziertes Schloß, das fachmännisch geknackt wurde.«

Der Stellvertreter des Chiefconstable, ein griesgrämiger Mann, älter als sein Vorgesetzter und dem Gesicht eines Preisboxers, sagte in seiner kurzangebundenen Art: »Und warum sollte ein Terrorist nicht in der Lage sein, ein Schloß zu knacken?« Er drehte sich zur Seite und blickte Lancome an: »Na?«

»Die Möglichkeit besteht durchaus, Sir«, antwortete Lancome ruhig. »Auch Terroristen können zu Meistern ihres Faches werden. Denken Sie nur an die zum Teil hervorragende Qualität der selbstgebastelten Zeitbomben, oder an die perfekte Organisation hinter ihren politischen Kidnappings.«

»Also, Fusil«, sagte der Chiefconstable, »hätten Sie vielleicht noch stichhaltigere Gründe für Ihre Überzeugung anzubieten?« Fusil konnte seine Verwirrung nur schwer verbergen; Menton preßte die Lippen zusammen. Doch der Chiefconstable sah sich nicht genötigt, einen Kommentar abzugeben.

»Sollten wir nicht besser an dieser Stelle …« begann Menton schwerfällig, wurde jedoch vom Chiefconstable unterbrochen.

»Einen Augenblick, bitte.« Er wandte sich an Lancome. »Bevor wir hier fortfahren, hätte ich gern von Ihnen einen generellen Überblick.«

Fusil setzte sich, Lancome stand auf. Er blickte kurz auf den Aktendeckel, der vor ihm lag, schlug ihn jedoch nicht auf. »Was Beweise betrifft, habe ich nichts Neues zu melden. Im Terrorismus-Dezernat haben wir nicht den kleinsten Anhaltspunkt auf eine terroristische Vereinigung namens O.F.S.G. Dies führt jedoch nicht notwendigerweise, wie ich schon früher klarzustellen versuchte, zu einer negativen Schlußfolgerung.«

Er rieb sich die lange, dünne Nase, zog aber gleich wieder hastig die Hand weg, als habe man ihn bei einer affektierten Geste ertappt. »Ich glaube jedoch, daß es berechtigt ist, der Tatsache eine gewisse Bedeutung beizumessen, daß in den Briefen sozusagen keine Werbung gemacht wird: Da gibt es keine Aufzählung der Ziele, die sie verfolgen, keine Schlagworte gegen die Ungleichheiten in unserer Gesellschaft, die es abzuschaffen gilt, und auch keine begeisterte Schilderung ihres Utopia.« Er hielt inne, überlegte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich erinnere mich, gesagt zu haben, daß ein Terrorist sich normalerweise alle Mühe gibt, unauffällig zu bleiben, während der Verbrecher es im allgemeinen liebt, sich in den Vordergrund zu stellen. Nun, der Terrorist als Einzelperson mag zwar unsichtbar bleiben wollen, doch er hat auch den Wunsch, als Idealist dazustehen und seine Ziele und Ideale so weit wie möglich verbreitet zu sehen. Im vorliegenden Fall steckt jede Menge Publicity, und doch hat noch niemand auch nur mit einer Silbe auf sich aufmerksam gemacht.« Er brach so abrupt ab, daß seine Zuhörer im ersten Moment glaubten, er habe noch mehr sagen wollen.

Der Chiefconstable stellte die nächste Frage: »Und welchen Wert messen Sie diesem Punkt bei?«

Lancome zögerte mit der Antwort.

»Wir werden Sie nicht darauf festlegen.«

»Dann würde ich folgendes sagen, Sir. Unter Berücksichtigung der anderen Faktoren, die wir diskutiert haben, neige ich jetzt bedeutend stärker dazu, Inspektor Fusils Ansicht zuzustimmen als ihr zu widersprechen.«

»Schlagen Sie also vor, bei unseren Untersuchungen eine neue Richtung einzuschlagen?«

»Ich könnte mir vorstellen, Sir, daß Inspektor Fusil uns jetzt sagen wird, daß dies nicht notwendig ist.«

Alle lächelten, außer Menton.

»Wird der Fall, soweit er Ihre Abteilung betrifft, weiterhin vorrangig behandelt werden?« fragte der Chiefconstable.

»Selbstverständlich, Sir.«

»Dann können wir, glaube ich, folgendes festhalten: Ausgehend von den derzeit bekannten Tatsachen sind wir zu der Ansicht gelangt, es mit Verbrechern und nicht mit Terroristen zu tun zu haben. Und das bedeutet, daß jetzt der richtige Augenblick gekommen ist, Mr. Fusil zu bitten, uns einen Oberblick über den aktuellen Stand der Dinge zu geben.«

Fusil erhob sich wieder. Er hätte nun ausführen können, daß die Ermittlungen nicht allzu schlecht verliefen, entschloß sich aber, den Tatsachen ins Auge zu sehen und ohne Umschweife zuzugeben, daß praktisch keine Fortschritte gemacht worden waren. Menton sah verdrossener denn je aus. Er hatte vor langer Zeit einmal gelernt, daß sich eine bittere Medizin mit ein bißchen Zucker tatsächlich besser schlucken ließ.

»Wenn Sie noch keine Fortschritte erzielt haben«, sagte der Chiefconstable, »dann müssen Sie sich doch wohl gefragt haben, warum das so ist?«

»Ja, Sir. Und eine der Antworten lautet, daß uns bis dato durch die Notwendigkeit, alles hinter verschlossenen Türen machen zu müssen, praktisch die Hände gebunden waren. Die Veröffentlichung eines dritten Briefes – einmal unterstellt, wir bekommen ihn – wird sehr viele Menschen in Angst und Schrecken versetzen, die sich bisher ruhig verhalten haben; der Witz an der Sache ist aber, daß uns genau das helfen würde. Wir könnten zugeben, daß die Lage ernst ist, und die Öffentlichkeit um Hilfe bitten. In diesem Zusammenhang schlage ich als ersten Schritt vor, daß jemand im Fernsehen die Situation schildert und um Hinweise aus der Bevölkerung bittet. Ich wäre froh, wenn es mir anschließend ermöglicht würde, die ausgesetzte Belohnung zu erhöhen, sagen wir auf fünftausend Pfund.«

Der stellvertretende Chiefconstable pfiff durch die Zähne.

»Setzen wir die Summe nicht zu hoch an?« fragte der Chiefconstable ruhig. »Es wird schwer werden, so viel Geld aus unserem Etat lockerzumachen.«

»Wir müssen genug Anreiz bieten, um jemanden, der sonst schweigen würde, zum Reden zu bringen.«

»Ich glaube, Sie haben recht«, meinte der Chiefconstable langsam. »Obwohl – ich wünschte bei Gott, ich könnte Ihnen die Auseinandersetzung mit der Finanzabteilung überlassen!« Seufzend machte er sich eine Notiz auf dem vor ihm liegenden Schreibblock.

»Sir? Zu allem Übel brauchen wir auch noch eine Verstärkung der Fußstreifen in Fortrow, und das bedeutet die Abkommandierung zusätzlicher Leute. Und wenn der Zustrom von Hinweisen aus der Bevölkerung einsetzt, dann brauche ich wenigstens ein Dutzend zusätzliche Arbeitskräfte für die Kriminalpolizei.«

»John? Darum werden Sie sich kümmern.«

Sein Stellvertreter notierte es sich.

»Ein letzter Punkt noch, Sir: Wir müssen landesweit sämtliche Verbrecher, die in der Lage wären, eine derartige Sache aufzuziehen, überprüfen, und nicht nur diejenigen, die mit Brandstiftung zu tun haben.« Er setzte sich.

Einige hüstelten, Papier raschelte, leise Unterhaltungen setzten ein. Lancome bat gehen zu dürfen, da er mit seinem Präsidium sprechen müsse. Als er den Raum verließ, blickte der Chiefconstable auf seine flache goldene Armbanduhr, das Geschenk einer Frau, die er vor vielen Jahren, als er noch Sergeant war, das Leben gerettet hatte. »Gentlemen, uns bleibt noch ein Problem zu besprechen. Wir wollen einmal das Schlimmste annehmen: Daß es uns nicht gelingt, die Brandstifter aufzuspüren. Ihre Drohung lautet, daß die Brände immer ernstere Folgen haben werden, wenn das ebenfalls ständig erhöhte Lösegeld nicht gezahlt wird. Also sind Menschen in Gefahr, und es wäre unrealistisch, nicht damit zu rechnen, daß es einigen, wenn nicht vielen, das Leben kosten wird. An welchem Punkt also empfehlen wir, daß das Lösegeld, in welcher Höhe auch immer, gezahlt werden muß?«

»Nie!« sagte Fusil sofort.

Der Chiefconstable blickte ihn fragend an.

»Wenn die ihr Geld bekommen, wird dieser Fall zur erfolgreichsten Erpressung in diesem Land. Unweigerlich hätte dies eine Flut von ähnlichen Verbrechen zur Folge, bis schließlich keine Ortschaft mehr sicher wäre.«

»Ich möchte Ihnen hier nicht widersprechen; aber die Unruhe in der Bevölkerung wird doch solange wachsen, bis wir einfach gezwungen sind, nachzugeben, was auch immer die Folgen sein mögen. Wir müssen uns stets vor Augen halten, daß hier nicht nur ein Menschenleben auf dem Spiel steht, wie bei einer Entführung, sondern höchstwahrscheinlich hunderte!«

»Unser Prinzip, Sir, muß das gleiche bleiben.«

»Prinzipien, mein lieber Fusil, können uns sehr schnell sehr teuer zu stehen kommen … Offensichtlich ist also die einzige wahre Lösung, die Verbrecherbande zu identifizieren und zu zerschlagen. Nachdem wir also vorhin das Schlimmste angenommen haben, wollen wir nun auch einmal annehmen, daß es uns gelingt, es zu verhindern. Menton – Sie werden sich nach Fortrow begeben und den Fall übernehmen, wobei Sie mir persönlich Bericht erstatten. Fusil – zweifelsohne fühlen Sie sich durchaus in der Lage, die Leitung der Untersuchung beizubehalten, doch in einer so ernsten Angelegenheit wie dieser muß ich sie dem ranghöchsten Beamten, der uns zur Verfügung steht, übertragen.«

In diesem Punkt war Fusil offensichtlich anderer Meinung.

 

In sein Büro zurückgekehrt, trat Fusil ans Fenster und starrte hinaus. Es gab keinen vernünftigen Grund, sich gekränkt zu fühlen, daß Menton die Gesamtleitung der Ermittlungen übertragen worden war, doch er konnte nicht anders. Sein Instinkt sagte ihm, daß dieser Fall früher oder später Erfahrungen erfordern würde, die man nur in der rauhen Praxis erwarb, wo sofortige Entscheidungen gefällt und Vorschriften umgangen werden mußten, und daß es dann nicht um die Erfahrungen gehen würde, die man durch geschicktes Manövrieren innerhalb der Verwaltung erlangte, wo alle Entscheidungen sorgfältig abgewogen wurden und Vorschriften unantastbar blieben.

Er wandte sich um, ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich auf die Kante. Der Beantwortung einer der dringlichsten Fragen waren sie noch immer nicht nähergekommen: Stammten die Verbrecher aus Fortrow, oder kamen sie von außerhalb? Der erste Brief und die Tatsache, daß die ortsansässigen Spitzel nichts herausgefunden hatten, wies auf eine auswärtige Bande hin (obwohl nicht-ortsansässige Verbrecher gewöhnlich auffielen). Es stimmte schon, der zweite Brief war im Ort aufgegeben worden, aber das war möglicherweise nur aus dem Grund geschehen, daß die Bande sowieso nach Fortrow hatte kommen müssen. Andererseits – würden überhaupt bei solch einem Vorhaben, wo Ortskenntnisse von eminenter Wichtigkeit waren, die Verbrecher von auswärts kommen? Würden sie sich nicht den sicheren, vertrauten Boden aussuchen, wo ihre Anwesenheit nicht weiter auffiel, es sei denn, sie waren noch nie in eine Brandsache verwickelt und damit auch nicht automatisch verdächtig? … Es gab Argumente für beide Möglichkeiten.

Hatte er alles getan, was getan werden konnte? Oder hatte er etwas übersehen, und sei es auch nur eine winzige Kleinigkeit? Wie stellte man es eigentlich an, eine unbekannte Zahl von Männern dingfest zu machen, deren Existenz bis jetzt nur durch zwei Briefe und zwei Brände bewiesen war? Er beugte sich über seinen Schreibtisch und sprach über das Haustelefon mit Kerr. »Diese Mrs. Nesbitt, die gesagt hat, sie habe das Kennzeichen des Autos vor der Garage nicht feststellen können und auch keine Ahnung, um welche Marke es sich handeln könnte – glauben Sie, es würde etwas nützen, nochmal hinzugehen und zu versuchen, ihr auf die Sprünge zu helfen?«

»Nein, Sir, ich bin ziemlich sicher, daß es keinen Zweck hat. Sie erwähnte ja, daß sie nicht mehr allzugut sieht. Selbst wenn sie versucht hätte, die Buchstaben und Zahlen von ihrem Haus aus, das ein gutes Stück entfernt liegt, zu entziffern, glaube ich nicht, daß es ihr gelungen wäre. Und die Sache ist eben die, daß es ihr gar nicht in den Sinn kam, es zu versuchen. Nicht, daß sie nicht ganz richtig im Kopf wäre, weit gefehlt; aber sie ist alt und recht abgeklärt, und sie kam gar nicht auf den Gedanken, daß diese Männer etwas Unrechtes tun könnten. Für sie waren es eben Freunde von Mr. Huggins. Und was die Marke anbelangt – ich bezweifle, daß sie einen Citroën von einem Cadillac unterscheiden kann.«

Fusil fluchte. »Außerdem hatte das Auto bestimmt gefälschte Kennzeichen! Verdammt noch mal, wir tappen völlig im dunkeln, dazu noch mit auf dem Rücken gefesselten Händen!« Er glitt vom Schreibtisch. »Na schön. Wenn Sie Sergeant Campson sehen, sagen Sie ihm, daß ich ihn sprechen möchte.«

Er legte den Hörer auf. Menton würde ein Büro brauchen, also müßte man ihn wohl in dieses hier setzen. Demnach müßte Campson aus seinem ausziehen …

Das Auswärtstelefon läutete; der Anrufer war Harvey.

»Ich habe einen weiteren Brief bekommen, Bob, in London abgestempelt.«

Hatte die Bande ihn auf ihrem Heimweg nach Norden aufgegeben? Oder hatte man ihn in London eingeworfen, um die Spuren noch mehr zu verwischen? »Übernehmen die Gangster die Verantwortung für den Garagenbrand?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen – es ist mir nämlich gelungen, hier Ordnung reinzubringen und alles so zu organisieren, daß der Brief sofort herausgefischt wurde und ungeöffnet blieb.«

»Erinnern Sie mich gelegentlich daran, mich bei Ihnen zu bedanken.«

»Das können Sie sofort tun. Sie brauchen mir nur zu erklären, was das alles zu bedeuten hat, bevor es veröffentlicht wird … Sie begreifen doch sicher, daß sich die Story, wenn die Gangster den Garagenbrand auf ihre Kappe nehmen, nicht mehr zurückhalten läßt? Die Hälfte meiner Leute sitzt bereits auf Kosten der Firma in Londons Fleet Street, bastelt an der Story und versucht, Geld für Extra-Zeilen zu schinden.«

»Wir haben tatsächlich vor, bald die Presse um Veröffentlichung der Tatsachen zu bitten, und zwar möglichst ohne Panikmache, und die Bevölkerung aufzufordern, uns zu helfen.«

»Und wenn Sie’s ihnen noch so vorsichtig servieren – Sie bekommen auf jeden Fall eine stark beunruhigte Öffentlichkeit. Verdammt, ich mache mir doch auch schon dauernd Sorgen um meine Frau. Heute habe ich bereits dreimal zu Hause angerufen und mich erkundigt, wie’s ihr geht. Wahrscheinlich denkt sie, ich hätte ein Verhältnis mit meiner Sekretärin.«

»Und stimmt das etwa nicht?«

»Sehr schmeichelhaft, aber bedauerlicherweise bin ich über den jugendlichen Leichtsinn hinaus.«

Fusil verabschiedete sich. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. Vor Müdigkeit flimmerte es ihm vor den Augen, und er schloß sie. Wie das wohl sein mochte, einen geregelten Arbeitstag zu haben und keine Entscheidungen treffen zu müssen, von denen unmittelbar Menschenleben abhingen?

Telefonisch beauftragte er den diensthabenden Sergeant, die Abholung des Briefes aus dem Gazette-Haus zu veranlassen; dann ging er die Papiere und Meldungen auf seinem Schreibtisch durch: weitere Verbrechen, von den geringfügigsten bis hin zu den schwerwiegendsten. Es würde sich nicht vermeiden lassen, daß viele dieser Delikte nur sehr oberflächlich untersucht werden würden, so daß die Täter gute Aussichten hatten, sich der Gerechtigkeit zu entziehen. Daß es nicht in seiner Macht stand, dagegen etwas zu unternehmen, trug auch nicht gerade zur Verbesserung seiner Laune bei.

Plötzlich verspürte er Hunger, und erst jetzt fiel ihm ein, daß er nicht nur vergessen hatte, nach Hause zu gehen, sondern überhaupt noch nichts gegessen hatte.

 

Zu Bressetts Bestürzung lächelte Mrs. Nuttek, sichtlich angetrunken, ihm kokett zu, als sie die Haustür weit öffnete. »Aber natürlich erinnere ich mich – an so einen hübschen, jungen Mann!«

Und dabei hatte sie ihn überhaupt nicht beachtet, als Fusil dabeigewesen war. Er wünschte, sein Inspektor wäre jetzt hier. »Es tut mir sehr leid, Sie nochmal belästigen zu müssen …«

»Sie kommen jetzt mit in die gute Stube und genehmigen sich ein Schlückchen mit mir, damit Sie endlich aufhören, so ein finsteres Gesicht zu machen!«

»Ich fürchte, es ist noch etwas früh am Tag …«

Doch er war zu höflich, ihre Einladung abzulehnen, und folgte ihr ins Wohnzimmer, wo er den wohl stärksten Gin-Tonic seines Lebens angeboten bekam. Zwei Gläser lang begnügte sie sich damit, ihm schöne Blicke zuzuwerfen, doch dann wurde sie ungeduldig und setzte sich zu ihm aufs Sofa, legte ihm liebevoll die Hand auf die Schenkel und versicherte ihm, daß auch einer alten Geige noch wundervolle Töne zu entlocken seien. Bressett, überzeugt davon, daß diese Geige hier schon vor langer Zeit kaputtgespielt worden war, trank hastig aus, befreite sich aus ihrer Umklammerung, stand auf und fragte sie, wer in diesem Haus ihm wohl am ehesten erzählen könne, was er wissen wollte, und verließ eiligst das Zimmer. Sie rief ihm hinterher, er müsse aber unbedingt noch ein Gläschen mit ihr trinken, wenn er seine Arbeit erledigt habe.

Er ging die Treppe hoch in den ersten Stock. Er stammte vom Land, und die abgestandene Luft in diesem Haus verursachte ihm Übelkeit. Er ging bis ans Ende des Flurs und klopfte an die rechte Tür. Eine müde, zittrige Stimme antwortete ihm.

Nolan gab zwar sein Alter mit fünfundfünfzig an, konnte aber auch ohne weiteres siebzig sein: Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht, er hatte eine graue Haut und kaum noch Haare, seine Zähne saßen schlecht, und beim Sprechen lief ihm der Speichel aus dem Mund.

»Bei Gott, das hat mich glatt umgehauen – der gute alte Bert hat sich erhängt! Und dabei habe ich noch ’n Abend vorher mit ihm gesprochen. In diesem Zimmer. Er kam rein wegen ’nem Stäbchen; hat er öfter gemacht: is’ ja auch billiger, anderen die Stäbchen wegzurauchen …«

Es gelang Bressett, ihn zu unterbrechen. »Was war er für ein Typ, dieser Mickey?« fragte er.

»Ganz in Ordnung, wenn man nich’ von Fußball anfing. Dann hat er ein’ in Grund und Boden gequasselt, der Kerl – dabei hatte er kein’ Schimmer!«

»Ging er denn oft zum Fußball?«

»Nie. Hat nur in ’n Zeitungen darüber gelesen und im Fernseh ’n die Spiele angeguckt, wenn Ma ihn gelassen hat.« Er blinzelte, was bei ihm äußerst obszön wirkte. »Sie war scharf auf’n. Spendierte ihm schon mal was zu trinken und ging mit ihm essen. Und dann kam er doch zurück, der Kerl, und hat uns den Mund wäßrig gemacht, was es alles Feines gab. Hat ihm kein’ Segen gebracht, nich’?«

Offensichtlich war Mickeys Verhältnis mit Mrs. Nuttek zumindest bei einem Teil der anderen Zimmerbewohner auf Mißgunst gestoßen. »Hatte er Ersparnisse?« fragte Bressett.

»Der hätte nie mit ’nem Penny nach ’nem zweiten werfen können. Immer nur am Schnorren.«

»Das hat er aber wohl kaum deshalb gemacht, weil er pleite war; denn als er starb, hatte er zweiundfünfzig Pfund in der Brieftasche.«

»Zweiundfünfzig Pfund? Das glaub’ ich nich’!«

»Todsicher.«

»Das verdammte Schwein!« sagte Nolan plötzlich zutiefst erbittert. »Aber die Runde machen und Stäbchen schnorren!«

»Sie hatten keine Ahnung, daß er dieses Geld besaß?«

»Glauben Sie, dem hätt’ ich was zum Rauchen gegeben, wenn ich das gewußt hätte? Zweiundfünfzig Pfund! Schon meine Alte hat gesagt, ich sei zu weichherzig. Ich war mal verheiratet, früher.« Er starrte ins Leere, und plötzlich füllten sich seine Augen mit Tränen.

Bressett, völlig verwirrt, mußte sich kräftig räuspern. »Haben Sie eine Vermutung, woher dieses Geld stammte?«

Nolan blinzelte heftig. »Kein’ Schimmer. Wenn ich’s gewußt hätte, hätt’ ich mich mal bei ihm umgesehen.«

»Er hat Ihnen gegenüber also nie den Anschein erweckt, als sei er plötzlich auf eine Geldquelle gestoßen?«

»Wie meinen Sie das, Mister?«

»Er fing also nicht eines Tages an, öfter in die Kneipe zu gehen oder fertige Zigaretten zu rauchen statt selbstgedrehte?«

»Bert hat nie was anderes gemacht als ein’ anzuhauen … Sie, die Ma sagt, vielleicht hat er sich nich’ selbst aufgehängt, sondern is’ erhängt worden?«

»Wir sind nicht ganz sicher, aber die Möglichkeit besteht, daß er ermordet wurde.«

Nolan murmelte etwas vor sich hin; er sah plötzlich sehr verängstigt aus.

»Also – soviel Sie wissen, besaß er überhaupt kein Geld?«

»Stimmt.«

»Hat er jemals mit Ihnen darüber gesprochen, was er so machte, wenn er ausging? Sie wissen schon – mit welchen Leuten er sich traf und wo er gewesen war?«

»Nichts in der Art, nie. Hat nich’ viel geredet, der Bert.«

»Hat er mal erzählt, wo er lebte, bevor er hierher kam?«

»Hab’ ihn nie was erwähnen hör’n, außer daß ihm London viel besser gefiel als Fortrow, und daß er wünschte, er wär’ wieder dort.«

»Und wie lange ist es her, daß er in London lebte?«

»Weiß ich nich’.«

»Er starb am Dienstag spät nachts oder am frühen Mittwochmorgen. Haben Sie in der Nacht irgendwas gehört, zum Beispiel, daß jemand umherlief oder die Treppen rauf- oder runterging?«

Nolan schüttelte den Kopf.

»Sie haben doch sicher über all das mit den anderen Personen hier im Haus gesprochen – hat von denen jemand etwas Verdächtiges gehört?«

»Niemand hat was gehört, nich’ mal Andy, wo der doch immer behauptet, nich’ schlafen zu können; muß also stocktaub sein.«

»Hat Mickey Dienstag abend nochmal das Haus verlassen?«

»Aber ja, nachdem er sich ’ne Zigarette geschnorrt hatte – un’ das mit zweiundfünfzig Scheinen in der Tasche!«

»Sagte er, wohin er gehen wollte?«

»Nein.«

»Und um wieviel Uhr war das?«

Nolan zuckte die Achseln. »’s war schon dunkel.« Zeit schien keine allzu große Bedeutung für ihn zu haben.

Bressett überprüfte noch einmal seine Notizen, steckte das Heft in die Manteltasche und stand auf. »Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt, rufen Sie uns bitte auf der Wache an, ja?«

Er ging nach unten. Gerade als er von der letzten Stufe trat, öffnete Mrs. Nuttek die Wohnzimmertür. »Da sind Sie ja! Und ich habe schon so auf Sie gewartet! Kommen Sie und holen Sie sich Ihr Gläschen!«

»Es tut mir entsetzlich leid, aber … Mein Inspektor …« Er stürmte aus dem Haus und schickte im stillen Stoßgebete zum Himmel, daß die Kollegen auf dem Revier nie erfahren würden, wie er rennen mußte, um seine Ehre zu retten.

 

Der Brief, noch ganz staubig von dem dunklen Puder, mit dem Sergeant Walsh den Umschlag bestäubt hatte, wurde Fusil von einem Polizeiconstable hochgebracht. Er las die kurze Mitteilung: »Jetzt sind Sie mit zwei Millionen dabei. Von uns aus geht alles in Ordnung: Bringen Sie die bewußte Meldung auf der Titelseite der Gazette, oder es werden vier daraus. Beim nächsten Mal könnte nicht etwas, sondern auch jemand verbrennen.«

Fusil hieb mit der geballten Faust auf den Schreibtisch.