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Regen klatschte wie mit Peitschenschlägen an das Fenster, durch das Kriminalinspektor Fusil auf die verschwommenen Bilder der Außenwelt starrte. Der Wetterbericht hatte einen ungewöhnlich freundlichen November vorausgesagt.

Es klopfte, und Constable Yarrow betrat den Raum. »Hier, vom Präsidium – noch mehr für Ihren Papierkorb«, sagte er und legte einige Akten auf den Schreibtisch. »Übrigens, Sir – ich habe läuten hören, daß bei dieser Fabrikgeschichte in der Blind Lane unser guter alter Freund Tommy Manderton wieder ins Geschäft eingestiegen sein soll.«

Yarrow schaffte es fast immer, Fusil zu irritieren. Er war nicht nur anmaßend und eitel – Eigenschaften, auf die der Inspektor immer gereizt reagierte –, sondern ergriff obendrein jede sich bietende Gelegenheit, alle Welt daran zu erinnern, daß sein Onkel Chiefsuperintendent im Grafschaftspräsidium war.

Jetzt fuhr er sachlich fort: »Ich werde dem Gerücht nachgehen, Sir, und Sie das Ergebnis wissen lassen.«

Fusil grunzte zustimmend.

»Scheußliches Wetter! Was gäben Sie für eine Stippvisite auf die Bahamas?«

Was gäbe ich drum! dachte Fusil mißmutig, während er Yarrow hinterhersah. Bei all den Veränderungen, die die Zusammenlegung der Stadtpolizei von Fortrow mit der Grafschaftspolizei mit sich gebracht hatte, hätte es doch möglich sein müssen, diesen Yarrow zu »verlieren« – aber er war immer noch da und wußte immer noch auf alles eine Antwort, selbst auf ungestellte Fragen. Fusil seufzte. Intoleranz, heißt es, ist ein untrügliches Zeichen dafür, daß man alt ist. Er zog eine der Schreibtischschubladen auf, holte seine älteste Pfeife heraus und stopfte sie. Er zündete sie an, und als sie gut zog, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und sann über die Verschmelzung der beiden Polizeieinheiten nach. Erstaunlich, dachte er, daß diese durchgreifende Veränderung letztlich so wenig verändert hatte. Noch immer leitete er die Abteilung Ost des C.I.D., der Kriminalpolizei in Fortrow, auch wenn sie jetzt Abteilung K hieß und zu ihrem Bereich Teile der mehr ländlichen Umgebung hinzugekommen waren. Ihr Bezirkspräsidium war weiterhin in denselben veralteten, aus allen Nähten platzenden Gebäuden untergebracht, und ihr Etat immer noch so knapp bemessen, daß auch nicht eine der längst überfälligen Veränderungen oder Modernisierungen hätte ausgeführt werden können, obwohl sie heute, wo weitere Abteilungen hinzugekommen waren, nötiger denn je gewesen wären. Nicht eine neue Schreibmaschine war angeschafft worden, geschweige denn ein tragbares Tonbandgerät; und die Zahl der Zivilangestellten war angesichts eines ständig wachsenden Papierberges unzureichender als je zuvor …

Er gab sich einen Ruck und begann, die Papiere durchzublättern, die Yarrow auf seinem Schreibtisch zurückgelassen hatte. Aktennotizen, Listen, Memos, Ersuche um Imformationen, Statistiken … Bei der Armee schinden sie einen, daß man auf dem Zahnfleisch kriecht, bei der Polizei wird man mit Papierkram fertiggemacht. Er kam zum letzten Blatt. Absender: Büro von Chiefsuperintendent Menton. Frage: Ob es irgend etwas Neues bezüglich des Mattock Cross-Bankraubs vom Juni gäbe?

Dieser Überfall, der für die Räuber längst nicht so erfolgreich wie geplant ausgegangen war, hatte vor der Fusion der Polizeieinheiten stattgefunden, und mit den Ermittlungen war damals Browning, genannt »Babs«, von der Abteilung J beauftragt worden. Es hatte kaum Fortschritte gegeben. Fusil zog an seiner Pfeife. Er und Browning waren im Abstand von nur sechs Monaten zur Polizei gekommen, und er erinnerte sich, Browning gleich bei ihrer ersten Begegnung für jemanden gehalten zu haben, der an Vorschriften glaubt, als seien sie gottgewollt; und Brownings weitere Karriere hatte ihm nicht den geringsten Anlaß gegeben, sein ursprüngliches abfälliges Urteil zu revidieren. Ein Inspektor, der eine neue Abteilung innerhalb des C.I.D. übernahm, kam in den Genuß eines ungeschriebenen, äußerst beliebten Gesetzes: Sämtliche noch nicht zu den Akten gelegten, also ungelösten, Fälle wurden in den folgenden Statistiken nicht aufgeführt. Auf diese Weise belastete man die Akten des Neuen nicht mit den Mißerfolgen seines Vorgängers. Einzige Ausnahme von dieser Regel war natürlich, wenn der neue Inspektor die Untersuchung eines alten Falles weiterführen wollte. Dann wurde er auch wieder in die Statistiken aufgenommen, was bedeutete, daß die so eminent wichtige Aufklärungsquote sank. Fusil nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete die dünne Rauchwolke, die sich in diesem Raum, in dem es immer irgendwo zog, schnell in Luft auflöste. Natürlich hatte er die Akte über diesen Bankraub schon wenige Stunden nach der Übernahme der Abteilung K gelesen. Etwas war ihm sofort aufgefallen: Die Verbrecher waren mit Sicherheit von einem Insider informiert worden. Fusil verabscheute Verräter.

Jedem nicht aufgeklärten Bankraub folgten zwei neue, da bei Verbrechen – wie bei jedem anderen Geschäft – nur der Erfolg zählt. Außerdem waren Banküberfälle immer potentiell gewalttätig. Wenn also der Mattock Cross-Raub nicht aufgeklärt wurde, würden früher oder später bei einem der nächsten Banküberfälle mit ziemlicher Sicherheit unschuldige Mensche schwere Verletzungen davontragen, was direkt auf das Versagen der Polizei zurückzuführen wäre. Fusil hatte den Fall übernommen. Er behauptete von sich, ein selbstkritischer Mann zu sein, immer bereit, auch einmal zurückzustecken und sich und seine Motive zu überprüfen. Es gab aber ein paar Winkel in seinem Innern, die er nicht allzu gründlich untersuchte, vielleicht weil er einen unbewußten Widerstand spürte. So auch in diesem Augenblick, wo er es sorgfältig vermied, sich zu fragen, ob nicht in Wahrheit seine Entscheidung – wenigstens teilweise – auf dem nicht gerade lobenswerten Wunsch beruhte, erfolgreich zu sein, wo der andere versagt hatte, und damit Babs Browning eins auszuwischen …

Er griff nach dem Haustelefon und befahl Campson zu sich ins Büro. »Setzen Sie sich, Sid.« Fusil redete nicht allzu oft jemanden beim Vornamen an.

Kriminalsergeant Campson folgte der Aufforderung. Mit einer schnellen Bewegung rückte er den Schlips zurecht, dann verschränkte er die Arme vor der Brust. Er war erst Anfang Dreißig, fing aber schon an, kahl zu werden, so daß es schien, als wüchse ihm über seinem länglichen, ausgeprägten Gesicht eine immer höhere Denkerstirn.

»Es handelt sich um die Bankgeschichte am Mattock Cross«, sagte Fusil. »Wie steht’s damit?« Campson war genauso tüchtig wie einst Braddon und zeigte zudem entschieden mehr Vorstellungsvermögen und Initiative. Und doch hätte Fusil liebend gern seinen früheren Sergeant wiedergehabt. Campson war ein zweiter Babs Browning, der erst langatmig prüfte, ob etwas getan oder nicht getan werden mußte.

»Was meinen Sie damit im besonderen, Sir?« fragte Campson mit seiner tiefen, melodischen Stimme. Er war auch nicht gerade glücklich, Fusil unterstellt zu sein, weil unorthodoxe Methoden früher oder später Ärger bedeuteten.

»Sie haben doch mit Mr. Browning an diesem Fall gearbeitet. Wie weit sind Sie gekommen?«

Campson war sicher, daß Fusil die Akte studiert hatte. »Nicht allzu weit, Sir. Die Bande hinterließ nicht eine Spur, die uns weitergebracht hätte. Es handelt sich also um echte Profis.«

»Eine Spur hätte Sie weiterbringen müssen: Von irgend jemandem haben sie Informationen bekommen.«

»Das war uns selbstverständlich klar. Doch bei der Überprüfung der Bankangestellten fand sich nur eine Person, die vielversprechend aussah. Aber der Mann stellte sich als unschuldig heraus.«

»Dann sind Sie der Sache nicht auf den Grund gegangen.«

»Auf Mr. Brownings Anweisung haben wir so gründlich wie möglich recherchiert, aber es tauchten immer die gleichen Antworten auf. Wir fanden nicht den leisesten Beweis, daß jemand der Bande detaillierte Angaben über die Alarmanlage gemacht haben könnte.«

»Verdammt noch mal, die Hinweise sieht doch ein Blinder! Die Gangster wußten genau Bescheid, welche Leitungen sie durchschneiden mußten, um die Hauptalarmanlage stillzulegen, und immerhin wurde der Konstruktionsplan für das ursprüngliche System im Tresorraum aufbewahrt. Daß sie von dem zusätzlichen Gewichtsalarm nichts wußten, lag daran, daß er zwei Jahre später installiert worden ist und die entsprechenden Pläne nicht im Tresorraum lagen.«

»Bestimmt hat es Kopien der Originalpläne gegeben.«

»Selbstverständlich. Also wo sind sie? Im Architekturbüro? Bei der Firma, die die Anlage installiert hat?«

»Auch das haben wir überprüft, Sir.« Campsons Stimme verriet, daß er gekränkt war. Schließlich hatte die Abteilung J nicht nur aus lauter ausgemachten Idioten bestanden und die Abteilung K nicht als einzige die Weisheit gepachtet. »Wir kamen zu dem Ergebnis, daß es weder beim Architekten noch bei der Installationsfirma eine undichte Stelle gegeben hat. Also mußten wir annehmen, daß die Gangster ganz einfach ihr Geschäft verstanden.«

»Und zogen sich damit aus der Affäre.«

Campson lief rot an. »Sir, wir haben sämtliche Möglichkeiten gründlich überprüft …«

»Aber offensichtlich nicht gründlich genug. Ich möchte, daß Sie sich die Bankangestellten noch einmal vornehmen. Früher oder später wird der Verräter unter ihnen in Panik geraten.«

»Sie wollen also den Fall neu aufrollen? Aber wir haben doch immer und immer wieder …«

»Hören Sie – mit uns beiden wird es flutschen wie bei der Feuerwehr, wenn Sie endlich begreifen, daß ich nur dann einen Fall beiseite lege, wenn sämtliche Verbrecher hinter Schloß und Riegel sitzen.«

»Ja, Sir«, sagte Campson knapp.

»Okay. Dann bringen Sie also so schnell Sie können die Untersuchungen wieder in Gang.«

Campson erhob sich. »Nur noch eins, Sir: Jeder von uns hat Arbeit für zwei. Wenn ich also jetzt Männer abkommandieren muß, um diesen Fall wieder aufzunehmen, dann müssen notwendigerweise laufende Arbeiten liegenbleiben …«

»Nein, Sergeant. Es bleibt keine Arbeit liegen. Jeder von uns wird eben das bißchen Mehrarbeit leisten.«

Campson ging.

 

Der Brief kam in einem hellgrauen Kuvert. Da als Adresse nur Fortrow Gazette angegeben war, wurde er schon in der Poststelle der Zeitung geöffnet, um festzustellen, an welche Abteilung er weiterzuleiten war. Die Sekretärin, zwanzig Jahre alt und mit einer neuen Frisur, von der sie nicht genau wußte, ob sie ihr nun gefiel oder nicht, schlitzte den Umschlag auf, zog ein gefaltetes Blatt Papier hervor und las die maschinengeschriebene Botschaft. »Heh!« rief sie. »Sieh dir das mal an!«

»Hast du wieder einen von diesen Briefen bekommen?« fragte ihre blonde Kollegin. »In unserer Stadt wimmelt es anscheinend von Typen mit schmutziger Phantasie.«

»Ach was, darum geht’s überhaupt nicht. Komm her und lies selbst.«

Die Blonde kam von ihrem Schreibtisch über den vollgestellten Gang, wobei sie sich an einem Stapel alter Zeitungen vorbeiwinden mußte. Sie nahm den Brief und las ihn. »Total meschugge!« behauptete sie mit der überheblichen Sicherheit von Menschen ohne Erfahrung.

»Und an welche Abteilung geht so etwas, Dulcie?«

»Gib’s doch der dummen Zicke in der Herstellung. Die macht sich vor Angst in die Hosen!«

Sie schickte es rauf zur Chefredaktion.

Der Chefredakteur der Fortrow Gazette, der gewöhnlich nicht ganz so sorgenvoll war, wie er aussah, las die Botschaft nun schon zum drittenmal:

Die O.F.S.D. braucht Geld zur Unterstützung ihres Kampfes für die Unterprivilegierten, und die Stadt Fortrow wird es ihr geben. Wir werden mit einer kleinen Brandstiftung unsere Tätigkeit aufnehmen. Unser Preis beträgt eine Million Pfund. Zahlen Sie umgehend, sonst werden größere Brände folgen, und nach jedem verdoppelt sich die Rechnung.

Teilen Sie uns auf der Titelseite der Fortrow Gazette mit, daß das Geld bereitliegt. Wegen der Übergabe werden wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen. Achten Sie darauf, unsere Forderungen in allen Einzelheiten einzuhalten. Zögern Sie nicht zu lange, sonst wird es ausgesprochen teuer für Sie und für ziemlich viele Menschen ungemütlich heiß. Unterschrieben war der Brief mit Organisation für soziale Gerechtigkeit.

War dieser Brief ernstgemeint, oder handelte es sich um das Werk eines Geistesgestörten? Der Stil des Schreibens ließ ihn eher das erstere vermuten. Die Zeitung erhielt des öfteren Briefe von Verrückten, und daher kannte der Chefredakteur sich recht gut aus. Er griff nach dem Telefon für Auswärtsgespräche, wählte die Nummer des Bezirkspräsidiums und bat, mit dem Kriminalinspektor verbunden zu werden. Er erfuhr, daß Mr. Fusil außer Haus sei.

»Verflucht!« Er hatte sich Fusils rasche Beurteilung dieses Schreibens gewünscht. »Hören Sie – können Sie ihn bitten, mich umgehend anzurufen, wenn er wieder da ist? Unsere Zeitung hat einen Brief bekommen, von dessen Inhalt er unbedingt Kenntnis haben muß.«

Er verabschiedete sich und legte den Hörer auf. Falls die Polizei diesen Brief ernstnahm, würde sie ihn auf Fingerabdrücke untersuchen, und dann sollte man ihn jetzt lieber nicht mehr in die Hand nehmen. Die Zeitung brauchte aber eine Kopie für ihre Unterlagen. Er rief seine Sekretärin und gab ihr den Auftrag, den Brief zu kopieren, ihn aber nur noch vorsichtig am Rand anzufassen.