13
Vier Zusatzleitungen waren eingerichtet worden; die Telefone standen im früheren Wachraum, der jetzt sozusagen zum Hauptquartier umfunktioniert worden war. Jeder das Feuer oder die Lösegeldforderung betreffende Anruf aus der Öffentlichkeit landete in diesem Raum und wurde von einem der vier Kriminalconstables beantwortet. Ihre Instruktionen waren recht einfach: Beruhigen Sie den Anrufer, versichern Sie ihm oder ihr, daß wir alles unter Kontrolle haben, notieren Sie gewissenhaft alles, was Ihnen gesagt wird, und leiten Sie es an die Auswertungsstelle weiter.
An diesem Platz saßen zwei Kriminalsergeants. Auch sie arbeiteten nach einem bestimmten Schema, nur ließ dieses ihnen einen größeren Spielraum. Sie sollten nicht nur alles sammeln und überprüfen, sondern auch zu entscheiden versuchen, wie genau die Informationen waren oder ob der Anrufer sich nur einen Scherz erlaubte; und das erforderte eine geschickte Kombination von Intuition, Erfahrung und gesundem Menschenverstand.
Exakte und glaubwürdige Angaben zu einem bestimmten Sachverhalt wurden so schnell wie möglich überprüft: »Hören Sie – ich lebe in der XY-Straße und habe gestern abend gesehen, wie mein Nachbar eine Flüssigkeit aus einem Benzinkanister in eine Flasche abfüllte. Werden so nicht Molotow-Cocktails hergestellt? …« In solch einem Fall stattete ein Polizist dem erwähnten Nachbarn einen Besuch ab und bat so zuvorkommend wie möglich um eine Erklärung für seine Tätigkeit. – Allgemeine Angaben wurden erst einmal notiert und festgehalten, aber meistens nicht gleich überprüft: »Neben mir wohnt so ein Typ, der ständig mit irgendwelchen Chemikalien herumfummelt. Und in der Zeitung steht doch, daß die Erpresser beim Feuerlegen wahrscheinlich Chemikalien verwenden. Also wollte ich nur mal fragen …« – Riefen Sonderlinge an: »Das ist die Strafe für unsere Sünden. Der Herr wird das Übel ausrotten mit Feuer und Schwert …«, wurden sie kurz abgefertigt.
Immer mehr Anrufe kamen und drohten schließlich, jede sonstige Tätigkeit in diesem Raum unmöglich zu machen; den Männern, die sie beantworteten, schien es, als läge der Hörer noch keine halbe Minute auf der Gabel, da läutete es schon wieder. Männer und Frauen, vom niedrigsten bis zum höchsten Dienstgrad, versahen ihren Dienst, ohne auf das Ende ihrer Schicht zu achten, vereint in dem Wunsch, die Verbrecher zu stellen. Und die Verantwortlichen in den höchsten Positionen diskutierten über die eine quälende Frage – wann diese tödliche Bedrohung ein solches Ausmaß erreicht haben würde, daß man das Lösegeld zahlen müßte.
Kerr ging mit schnellen Schritten den gut beleuchteten Gang entlang, vorbei an großen viktorianischen und edwardianischen Bürgerhäusern, die längst in Büros oder Wohnungen aufgeteilt worden waren. Er war schlecht gelaunt, da er lieber auf dem Polizeirevier geblieben wäre und mit den anderen weitergearbeitet hätte; aber Fusil hatte ihn losgeschickt, diese Peggy zu befragen. Auf seinen Einwand hin, ob es denn sinnvoll sei, noch mehr Zeit für diesen Fall zu verschwenden, hatte Fusil ihn nach allen Regeln der Kunst zusammengestaucht und von Insubordination gesprochen. Fusils größter Fehler, dachte Kerr, war der, daß er einfach vor keinem Fall kapitulieren konnte, selbst wenn etwas Wichtigeres anstand. Nun ja – Hanner hatte also von Zeit zu Zeit eine Prostituierte aufgesucht … War es nicht jetzt, wo eine Verbrecherbande mit Massenmord drohte, eigentlich völlig egal, den Verräter in dieser Bank zu entlarven?
Das Haus Nummer vierzehn, ein riesiger Kasten, wirkte im spärlichen Licht der Straßenbeleuchtung ziemlich bedrückend, so als arbeiteten hinter seinen Mauern Lebewesen ohne Gesichter. Doch unter dem großen Vordach stellte sich seine Annahme als falsch heraus, denn hinter den beiden Reihen von Klingelknöpfen und Namensschildern verbarg sich nicht die kalte Unmenschlichkeit einer verwalteten Welt, sondern die Einsamkeit von Menschen in Einzimmer-Apartments.
Er überflog die Schilder, dann drückte er bei Wohnung Nummer fünf – Peggy Lea – auf den Knopf. Durch die Gegensprechanlage ertönte eine Frauenstimme: »Wer ist da, bitte?«
»Hallo, Peggy! Bist du frei?«
Hinter der schweren Eingangstür summte es; er drückte, und sie öffnete sich. Vor ihm lag ein langer Korridor, von einer Lampe ohne Lampenschirm erleuchtet, mit vier Türen hintereinander und einem sich schön einpassenden, nach rechts schwingenden Treppenaufgang am hinteren Ende.
Die Nummer fünf befand sich im ersten Stock. Er klingelte, und die Tür wurde ihm von einer Blondine geöffnet, deren Kleid großzügig, aber nicht freizügig war. »Ich kenne Sie nicht«, sagte sie nach kurzer Musterung.
»Pech für Sie.«
Mit professionellem Geschick wurde er taxiert. »Ich bin beschäftigt. Suchen Sie sich jemand anderen …«
»Kriminalpolizei.« Er trat ein.
Sie bedachte ihn mit einigen nicht sehr damenhaften Ausdrücken.
Sie standen in einem großen Raum, der rechts als Schlaf- und links als Wohnzimmer diente. Er hatte zwei Türen, eine davon führte in eine kleine Küche.
»Was zum Teufel, wollen Sie von mir?«
Sie sah jung und gleichzeitig alt aus; ein- oder zweiundzwanzig, schätzte er schließlich. Mit etwas weniger Make-up würde sie noch als relativ unschuldig durchgehen, vorausgesetzt, sie vergaß nicht zu lächeln und ließ ihren Mund nicht zu dieser harten, geraden Linie werden.
»Sie haben kein Recht, hier einzudringen.«
»Sagten Sie eindringen? Sie haben mich doch hereingebeten.« Früher, als Neuling in seinem Beruf, hatten ihm alle Prostituierten leid getan, da er sie auf die herkömmliche Weise für Frauen hielt, die durch widrige finanzielle Verhältnisse zu dieser entehrenden Beschäftigung gezwungen waren. Aber Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß es fast so viele Motive gab, Prostituierte zu werden, wie Prostituierte selbst, und daß einige dieser Motive wenig Raum ließen, Sympathie für diese Frauen zu empfinden.
Sie ging zu einem reichlich beschädigten Beistelltisch und nahm eine Zigarette aus einer Messingschachtel. Sie zündete sie an und ließ sich in den einzigen Sessel fallen. »Ich habe nichts verbrochen.«
»Nur keine Aufregung. Ich komme lediglich wegen einiger Auskünfte. Sagt Ihnen der Name Steve Hanner etwas?«
»Und was ist, wenn ich ja sage?«
»Was wissen Sie von ihm?«
»Er ist ein Freund. Mehr nicht.«
»Zahlt er gut?«
»Was meinen Sie damit?«
»Ob er Sie gut bezahlt.«
»Verdammt, für wen halten Sie mich denn?«
Kerr grinste. »Also – wie teuer, wie oft, seit wann?«
Mit einem Fluch drückte sie ihre Zigarette in dem bereits halbvollen Ascher aus. »Er ist ein Waschlappen«, sagte sie verächtlich. »Als das Rückgrat an die Menschen verteilt wurde, hat er in der falschen Reihe gestanden.«
»Wenn Sie seine Frau kennen würden, urteilten Sie bestimmt weniger hart.«
»Kennen Sie sie denn?«
»Als ich sie kennenlernte, brauchte ich anschließend zwei Stunden, bis mir wieder warm wurde.«
»Er sagt, sie sei die reinste Hexe. Aber so reden alle Ehemänner.«
»Bei ihm ist es die Untertreibung des Jahres.«
Sie steckte sich eine neue Zigarette an.
»Ist er ein regelmäßiger Kunde?«
»Das kann man sagen.«
»Wie oft kommt er?«
»Vielleicht zweimal im Monat.« Sie zuckte die Achseln. »Mehr schafft er nicht«, fügte sie dann gehässig hinzu.
»Und wieviel zahlt er?«
Sie schwieg.
»Kommen Sie, nicht so schüchtern.«
»Zehn Pfund.«
»Für beide Male?«
»Was erlauben Sie sich!« rief sie heftig. »Ich bin doch keine billige Straßennutte!«
»Also zahlt er Ihnen im Durchschnitt pro Monat zwanzig Pfund?«
Sie nickte.
Wöchentlich fünf Pfund – wohl kaum genug, um Hanner zum Verräter werden zu lassen. Oder hatte er es gestern noch fertiggebracht, von zu Hause wegzukommen und Peggy per Telefon zu instruieren, wie ihre Antworten lauten sollten? »Die meisten Männer, die mit einer alten Hexe verheiratet sind, würden so ein hübsches Mädchen wie Sie viel öfter als zweimal im Monat besuchen wollen.«
»Sie brauchen sich nicht auch noch über mich lustig zu machen.«
»Im Ernst – wenn ich nicht erst seit kurzem verheiratet wäre …« Er schwieg. Das war reichlich dick aufgetragen, aber er war noch nie einer Nutte begegnet, die einem Kompliment hätte widerstehen können. »Sind Sie sicher, daß es nur zweimal im Monat war?«
»Er sagte, er könne es sich nicht leisten, öfter zu kommen. Wenn Sie mich fragen …«
»Man könnte also annehmen, daß er etwas Masochistisches an sich hat?«
»Nein. Er macht’s direkt.« Aus ihren Worten sprach Berufsstolz.
»Sonst müßten es auch mehr sein als zehn Pfund.«
Das klang überzeugend; aber das Leben hatte sie sicher gelehrt, überzeugend zu lügen. Daß er mit dieser Annahme richtig lag, zeigte sich, als es klingelte. Sie sah ihn an.
»Sagen Sie, Sie hätten zu tun.«
»Verdammt, wollen Sie denn überhaupt nicht abhauen?« Sie stand auf, ging zu der kleinen, in der Wand eingelassenen Sprechanlage, fragte, wer da sei, und sagte dann, sie wäre eben erst vom Einkaufen zurück und müsse unbedingt ein Bad nehmen. Ob er wohl in einer halben Stunde noch einmal vorbeikommen könne? Sie ging zu ihrem Sessel zurück.
»Ich hoffe, Sie brauchen ihn nicht noch ein zweites Mal abzuwimmeln«, sagte Kerr.
»Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen. Also – warum gehen Sie nicht endlich?«
»Ich gehe, sobald ich mich überzeugt habe, daß Sie die Wahrheit sagen.« Er machte es sich auf seinem Stuhl bequem, streckte die Beine aus und hielt die Füße vor den Gasofen.
Sie sagte ihm ihre Meinung über das Gesetz, die Polizei und die Leute, die ein ehrliches Mädchen von der Arbeit abhielten.
Er lächelte strahlend.
»Ich flehe Sie an, Mister, verschwinden Sie und lassen Sie mich in Ruhe. Ich schwör’s Ihnen, ich weiß sonst wirklich nichts mehr über ihn.« Sie war gleichzeitig wütend und resigniert; wenn er beschloß, noch länger zu bleiben, nur weil er annahm, sie hielte irgendwelche Informationen zurück, geriet der weitere Abend in Gefahr; immerhin erwartete sie in einer guten Stunde einen Kunden, der ihr wesentlich mehr zahlte als zehn Pfund pro Besuch. Sie erhob sich, drückte die Zigarette aus, ging zu einer kleinen Anrichte und nahm eine Flasche Gin heraus. »Möchten Sie auch einen?«
»Ich sage nie nein.«
»Das habe ich mir fast gedacht.« Sie schenkte zwei Gläser ein, reichte ihm eins und tat einen hastigen Schluck. »Hören Sie, Mister, wenn ich …« Sie unterbrach sich und starrte ihn an. »Angenommen, ich erzähle Ihnen was Interessantes, gehen Sie dann?«
»Hat es mit Hanner zu tun?«
»Nein.«
Er zuckte die Achseln.
»Mister, ich sag’s Ihnen doch, ich weiß weiter nichts über ihn. Aber ich will Sie loswerden. Also – wenn ich Ihnen das andere erzähle, werden Sie dann gehen?«
Er war mittlerweile überzeugt, daß sie die Wahrheit sagte; also vergab er sich nichts, wenn er ihr Angebot annahm. »In Ordnung«, sagte er. »Schießen Sie los.«
»Da soll sich doch in Ribstow so ein Typ erhängt haben. Ich unterhielt mich mit einem Freund über ihn, und der sagte mir, der Kerl habe sich gar nicht erhängt, er sei erdrosselt worden, weil er nämlich einen von den ganz Großen erpressen wollte.«
»Und wer ist dieser Große?«
»Weiß ich nicht.«
»Wie heißt Ihr Freund?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn dem zu Ohren käme, daß ich Ihnen was gesteckt habe, richtet der mich derart zu, daß ich mich nicht mal selbst wiedererkennen würde.«
»Mickey hat also jemanden erpreßt«, sagte Fusil. Sein Blick wanderte über den Schreibtisch, auf dem sich die Morgenpost und die Berichte häuften. »Wen hat er wohl womit erpreßt, und wer hat es ihr erzählt?«
»Sie schwört, daß sie die Antwort nicht kennt; und den, der’s ihr gesagt hat, wird sie uns nicht nennen, weil er sie fertigmachen würde, wenn er jemals erführe, daß sie mit uns gesprochen hat.« Fusil knäulte ein Rundschreiben zusammen und zielte auf den Papierkorb – daneben. Das Telefon klingelte; das Gespräch war nur kurz. Er gähnte und strich sich in einer müden Geste mit der rechten Hand übers Haar. »Mickey war ein kleiner, unbedeutender Gauner, ein Herumtreiber, der sich bei Freunden und seiner Zimmerwirtin durchschnorrte. Wie kann so ein Typ jemals an eine Sache geraten, die so heiß ist, daß er von der Bildfläche verschwinden muß?«
»Immerhin fand sich diese Geldsumme bei ihm, wo er doch normalerweise blank war.«
»Eigentlich müßten bei einer Erpressung mehr als zweiundfünfzig Pfund rausspringen, oder?«
»Vielleicht war ihm gar nicht klar, was das für eine Riesensache war.«
Fusil gähnte und kratzte sich an der Wange. »Vielleicht wollte die Dame Sie auch nur loswerden und machte es auf die erstbeste Weise, die ihr einfiel.«
»Der Gedanke ist mir natürlich auch gleich gekommen, aber ich war mir dann doch ziemlich sicher, daß sie es ernst meinte.«
Erfahrung hatte Fusil gelehrt, Kerrs Urteil zu trauen – oder doch wenigstens, soweit es seinem eigenen nicht entgegenstand. »In Ordnung. Fangen Sie also mit der Wühlarbeit an. Finden Sie heraus, wen er erpreßt haben könnte – dabei sollten Sie auf frühere Komplizen zurückgreifen – und suchen Sie, ob noch mehr Geld zu finden ist. Wenn es bei der Erpressung um eine so große Sache ging, daß Mickey ermordet werden mußte, dann ist auch anzunehmen, daß er gewußt hat, wie riskant sie war, und dann hätte er sich nicht mit jämmerlichen zweiundfünfzig Pfund zufriedengegeben.«
Kerr zögerte. »Es wird aber noch ein Weilchen dauern, weil ich den Kollegen an den Telefonen noch ein wenig helfen möchte.« »Wollen Sie damit etwa andeuten, daß Sie freiwillig am Sonntag Oberstunden machen möchten?«
Kerr grinste. »Schon möglich, Sir.«
»Bei Gott, dann ist die Lage nicht nur ernst, sondern verzweifelt.«
Das Haus gehörte zu den fünfzehn Villen, die alle vor zehn Jahren an diesem Platz gebaut worden waren; die großzügigen Räume im Erdgeschoß hatten Doppelglasfenster. Die Eingangstür befand sich unter einem ziemlich pompösen Vorbau, der im krassen Gegensatz zu den im übrigen schlichten Linien des Hauses stand. Der Vorgarten bestand nur noch aus Rasen, und ein Kiesweg führte an der angebauten Garage vorbei hinters Haus. Der Garten dort ging in Weideland über, das aber jetzt größtenteils Ackerland war.
Die drei Männer parkten am Ende der Straße, dort, wo sie auf den Hatton Close mündete. Die Nacht war sehr dunkel und die Straßenbeleuchtung so dürftig, daß sie selbst von einer zufälligen Begegnung nichts zu befürchten brauchten. Sie entschieden sich für das Haus Nummer eins, einfach weil es das erste war. Sie überquerten den Rasen vor dem Haus. Der Anführer trug zwei Plastikkanister mit Benzin, der zweite Mann zwei Pakete, bei denen er sorgfältig darauf achtete, sie aufrecht zu tragen, und der letzte eine abgesägte Schrotflinte.
Der Mann mit den Kanistern stellte sie unter dem Vordach ab und zog aus der Manteltasche eine Anzahl Dietriche. Der vierte paßte. Als der Mann den Knauf drehte, öffnete sich die Tür.
Sie hatten Glück. Die Bewohner hatten sich nicht die Mühe gemacht, beim Abschließen auch den Riegel vorzulegen.
Sie leerten einen Benzinkanister auf den Teppich im Hausflur, über die unteren sechs Treppenstufen und überall im Wohnzimmer. Eins von den beiden Paketen ließen sie umgestülpt auf dem benzindurchtränkten Sofa stehen. Dann gingen sie durch zur Küche und verschütteten dort den zweiten Kanister, wobei sie sorgfältig darauf achteten, daß alle Flächen aus Tannenholzfurnier gründlich getränkt wurden. Das zweite Paket, ebenfalls umgestülpt, wurde unter dem Tisch plaziert und ein Teppich, der zur Eßecke gehörte, dicht darumgepackt.
Als sie das Haus verließen, schlossen sie die Eingangstür wieder ab und preßten – als besonders brutale Raffinesse – ein kleines Metallplättchen ins Schloß, so daß es nicht mehr aufzuschließen war, nicht einmal von innen.
Im Haus schliefen vier Menschen: Die Eltern im großen Schlafzimmer, das nach vorne ging, die Tochter neben dem Badezimmer, und der Sohn in einem nach hinten gelegenen Raum. Alle vier hatten einen gesunden Schlaf.
Die beiden Korken waren nur sehr kurz, und den ersten hatte die Säure zwanzig Minuten, nachdem die Eindringlinge das Haus verlassen hatten, zerfressen; der zweite hielt nicht einmal eine Minute länger. Es gab trotz der Benzindämpfe keine donnernde Explosion, aber Wohnzimmer und Hausflur, eben noch im Dunkeln gelegen, standen nach einer Sekunde in hellen Flammen, und eine Minute später auch die Küche.
Glas zersplitterte, Holzteile, selbst weit entfernt vom eigentlichen Brandherd, fingen Feuer, Textilien schmorten zusammen und verglühten; eine kleine Sammlung von Zinnsoldaten fing an zu schmelzen – zuerst ließen die tapferen Krieger die Köpfe hängen, dann sanken sie in sich zusammen, wie tödlich getroffen; die Bildröhre im Fernsehgerät implodierte, Tapeten verkohlten innerhalb von Sekunden, Gummischläuche und Elektrokabel lösten sich in Nichts auf.
Die Frau erwachte als erste; sie wußte sofort, daß etwas nicht stimmte – zwölf Jahre als Mutter hatten ihre Sinne geschärft –, sie konnte aber nicht gleich feststellen, was es war. Sie hörte ein brausendes, donnerndes Geräusch und dachte angestrengt nach … Und dann roch sie den Rauch.
»David!« schrie sie. Sie knipste die Nachttischlampe an, aber alles blieb dunkel; das Hauptkabel zum Zähler war schon durchgebrannt.
»Was … was ist denn los?« murmelte er.
Sie warf die Decke zurück und griff nach der Taschenlampe, die immer neben ihrem Bett lag. Als sie sie anknipste, sah sie dicke Rauchschwaden unter der Tür hindurch nach oben ziehen. »Um Gottes willen, David – sieh doch nur!«
Er sprang aus dem Bett, rannte zur Tür und riß sie auf.
Flammen, noch etwas im Zaum gehalten von dem wirbelnden Rauch, stießen die Treppe empor, die hier im Oberstock zwischen dem Badezimmer und dem hinteren Schlafzimmer endete. Die starke Hitze ließ ihn instinktiv zurückweichen. Ein heftiger, vom Rauch verursachter Hustenanfall schüttelte ihn.
»Wir müssen die Kinder holen!« schrie sie gellend.
Er hatte sich nie für einen rasch entschlossenen oder mutigen Mann gehalten, doch die nächsten Minuten zeigten, daß er mit scharfem Verstand die richtigen Entscheidungen traf und äußerste Tapferkeit bewies. »Mach das Fenster auf und klettere raus – nimm ein Bettlaken dazu.« Sie rief ihm etwas zu, doch er beachtete sie nicht, sondern lief hinaus auf den Gang und schlug die Tür zu.
Er preßte ein Taschentuch vor die Nase. Er war voller Entsetzen, aber er rannte einfach los, auf die gräßliche, flammende Hitze zu.
Er riß die Tür von dem Schlafzimmer auf, das als nächstes lag, und da war es auch schon ausreichend beleuchtet, um erkennen zu können, daß Sandra noch schlief, das Gesicht der Tür zugewandt; die Haare, die sie sich gerade wachsen ließ, ringelten sich über ihr pausbäckiges Gesicht. Er schlug die Decke zurück und zog sie aus dem Bett. Sie war noch ganz verschlafen, als er sie schon in seinen Armen hielt, wimmerte aber in einer instinktiven, wachsenden Angst. Er hastete durch die Tür auf den Flur. Die Hitze war stärker geworden, die Flammen bedrohlicher, obwohl nur Sekunden vergangen waren. Er spürte den beißenden Geruch von angesengten Haaren, ohne zu merken, daß es seine eigenen waren. Sandra begann zu schreien und sich in seinen Armen zu winden, und er mußte sie im Laufen fest an sich pressen.
Seine Frau hatte zwei Laken aneinander geknotet und das eine Ende am Bett befestigt; jetzt stand sie am offenen Fenster.
»Raus mit dir!« keuchte er.
»Was ist mit Basil?«
»Ich gehe sofort.«
Er lief wieder aus dem Zimmer, um von einer Wand aus Feuer aufgehalten zu werden.
Er rannte auf die Flammen zu in der Hoffnung, sich einen Weg zu dem dahinterliegenden Schlafzimmer bahnen zu können, aber die Hitze war zu groß. Schluchzend wich er zurück. Die bloßen Hautstellen fühlten sich schmerzhaft gespannt an, und es roch noch intensiver nach verbrannten Haaren.
Im Schlafzimmer hatte seine Frau das freie Ende des Lakens um Sandras Hüfte geschlungen und half ihr gerade, über das Fensterbrett zu klettern. Er riß eine der Decken vom Bett und lief wieder auf den Flur zurück. Die Decke über Kopf und Schultern gezogen, versuchte er noch einmal, sich den Weg durch die Flammen zu erkämpfen.
Später sollte er sich selbst verfluchen, daß er diese wenigen letzten Schritte nicht getan hatte, sollte sich mit immer wieder derselben Frage quälen, ob er es hätte schaffen können, wenn er sich nur gezwungen hätte, durch diese tobende Hölle zu gehen. Aber jetzt, in diesem Augenblick, wußte er nur, daß es unmöglich war.
Seine Frau rief Sandra, die bereits unten war, zu, sie solle zu den Calcotts hinüberlaufen, sie wecken und ihnen sagen, sie müßten die Feuerwehr rufen. Sie drehte sich um. »Wo ist Basil?«
»Von hier aus komme ich nicht durch. Ich muß von außen ins Zimmer steigen – im Schuppen steht eine Leiter.« Er half ihr aus dem Fenster zu klettern; das Donnern des Feuers wurde lauter. Als sie unten war, stieg er über das Fensterbrett und kletterte hinterher. Dabei stieß er sich die Hüfte heftig an einem Regenrohr, spürte aber in diesem Moment nicht das geringste davon. Er rannte nach hinten in den Garten zum Geräteschuppen. Der war abgeschlossen, da es in ihrer Gegend in letzter Zeit verschiedentlich Fälle von mutwilliger Zerstörung gegeben hatte; der Schlüssel befand sich in der Küche. Er brüllte unzusammenhängende Worte und kämpfte wie wild, um die Tür einzubrechen, und nahm endlich einen Stein und zerschlug das Fenster. Die ausziehbare Leiter lag unter dem Dach auf den Querbalken, und bei geschlossener Tür war es ein schweres Stück Arbeit, sie herunterzuholen, aber schließlich gelang es ihm. Er stieß sie durch das zerbrochene Fenster nach draußen.
Er zog die Leiter aus, lehnte sie gegen die Wand unterhalb des hinteren Schlafzimmers und kletterte hinauf. Als er oben angelangt war, barsten gerade die Fensterscheiben, und Flammen schlugen hinaus, die ihn nur deshalb verfehlten, weil sie sofort in die Höhe schlugen. Da drinnen konnte niemand mehr am Leben sein.