21
Ein Stuhl knarrte. »Können Sie nicht stillsitzen?« flüsterte Fusil ärgerlich.
»Entschuldigung, Sir«, sagte einer der Polizeiconstable. Augenblicklich knarrte ein anderer Stuhl, möglicherweise aber war es derselbe.
Keiner von ihnen konnte ganz ruhig bleiben, dachte Fusil; sich zu bewegen machte es anscheinend leichter, die Spannung zu ertragen. Und für die anderen in der Kinderbuchabteilung war es wohl noch schlimmer, weil sie überhaupt nichts sehen konnten, außer vielleicht verschwommene Umrisse der Bücherreihen an den Wänden. Vielleicht malten sie sich gerade aus, wie die Brandstifter ungesehen durchschlüpften, eine Explosion erfolgte, Feuer ausbrach und sie in der Falle saßen, umgeben von lauter R.L. Stevensons und Enid Blytons.
Er dachte an Menton vor drei Tagen, an seinen ungläubigen Zorn. »Was haben Sie? Ja sind Sie denn wahnsinnig geworden? Verdammt noch mal, begreifen Sie denn nicht …« Und dann war er plötzlich still gewesen, weil Fusil offensichtlich nicht verstand. Als er weitersprach, hatte er sich wieder in der Gewalt, und in schneidend scharfem Ton hatte er ihm klar gemacht, daß er, wenn dieser Plan fehlschlüge, persönlich dafür sorgen würde, daß Fusil die vollen Konsequenzen seiner Sturheit zu tragen haben werde.
Mit Hilfe von Zufällen, Lügen und Beamten, die einem uniformierten Inspektor eher glaubten als irgendwelchen Heiligen, war es ihnen gelungen, Race aus dem Verkehr zu ziehen, aber lange würde es nicht mehr gutgehen. Höchstens noch einen Tag.
Durch das kleine Loch, das sie in die solide Holztür gebohrt hatten – wieviel, dachte er unsinnigerweise, würde die Stadtbibliothek dafür wohl verlangen? – konnte er vier Leute erkennen, die das Foyer durch den Haupteingang betraten. Mrs. Tucket in ihrem hübschen grünen Polizistinnen-Kostüm hielt ihnen ein Exemplar ihrer Broschüre hin. Die beiden Frauen schüttelten den Kopf, der eine Mann machte lachend eine Bemerkung, und der andere Mann eilte einfach vorbei mit dem halb trotzigen, halb entschuldigenden Blick eines Engländers, der wild entschlossen ist, sich von nichts und niemandem bekehren zu lassen.
Fusil fühlte, wie ihm der Schweiß unter den Achselhöhlen herunterrann. Wie viele Jahre war es wohl her, seit er zum letzten Mal vor Aufregung geschwitzt hatte?
Der im ersten Stock gelegene Vortragssaal hatte drei Türen. Die größte ging am Ende der Treppe, die vom Foyer aus hochführte, direkt in den Saal, die beiden kleineren lagen auf der Ost- beziehungsweise Westseite, wurden nur als Ausgänge benutzt und führten über Außentreppen ins Freie. Also drei explosive Brandbomben, sagte er sich. Der Sergeant, der heute das Thema »Die häufigsten Fehlerquellen bei Fahrten mit der Familie« behandelte, ahnte nicht, daß seine Kollegen damit rechneten, daß im Vortragssaal Feuer ausbrechen könnte. Wenn er das wüßte, hatte jemand gemeint, würde er sich bestimmt nicht konzentrieren können und die Bremsen mit dem Gaspedal verwechseln, mit weiß Gott was für Folgen.
Laut Schätzungen der Bombenexperten, die in einem der geparkten Autos warteten, konnten drei Bomben ohne weiteres in einer größeren Tasche transportiert werden. Also hieß es Ausschau halten nach jemandem mit einer großen Aktentasche, einem kleinen Koffer oder einem mittelgroßen Paket. Das Leben jedes Menschen in diesem Gebäude hing vom frühzeitigen Erkennen des Bombenlegers ab.
Ob wohl Constable Chase, der dicht bei Fusil saß, an seiner Webley fingerte, die er heute bei sich trug? Fusil hatte ihn gesehen, wie er den Revolver in der Bezirkswaffenkammer in Empfang genommen hatte. Ein stiller, fast langweiliger Mann mit sparsamen Bewegungen, der keine Gefühle gezeigt hatte, als man ihm befahl, sich zu bewaffnen und notfalls tödliche Schüsse abzugeben. Ziel auf den Bauch, erinnerte sich Fusil, früher bei der Ausbildung gehört zu haben, da gibt’s mehr zu treffen, besonders wenn’s ein Biertrinker ist.
Zwei eifrig ins Gespräch vertiefte Männer betraten das Foyer. Einer von ihnen trug ein in braunes Papier eingeschlagenes Paket, aber es war nur zwanzig Zentimeter lang und knapp zehn breit und zehn hoch. Polizistin Tucket bot ihnen eine Broschüre an, und beide griffen danach, immer noch miteinander redend und ohne darauf zu achten, was sie gerade in Empfang genommen hatten. Am Fuße der Treppe entschwanden sie Fusils Blicken.
Er sah auf die Uhr, und das Leuchtzifferblatt zeigte eine Minute nach halb. Der uniformierte Sergeant würde jetzt im Vortragssaal am Rednerpult stehen und seinen Vortrag beginnen. »Meine Damen und Herren! Die Grundregel aller Wagenpflege lautet: Kontrollieren Sie regelmäßig einmal in der Woche Reifendruck, Ölstand, Kühlwasser und Batterie …«
»George«, kam es leise aus dem Funkgerät auf dem kleinen Schreibtisch, das auf die kleinste Lautstärke gestellt worden war. »Achtung. Sechs. Ende.« Der Sergeant und die Polizeiconstables standen bereit.
Während Fusil durch das kleine Loch in der Tür starrte, dachte er: Wir müssen den Mann blitzartig überraschen, damit er so lange wie erstarrt stehen bleibt, bis wir rauskommen und ihn umzingeln können, so daß ihm sofort klar ist, daß er die Bombe nicht absetzen kann, ohne sich selbst mit in die Luft zu jagen. Bleibt nur zu hoffen, daß er als Verbrecher nicht aus dem Stoff geschnitzt ist aus dem die Märtyrer sind …
»George. Rühren. Sechs. Ende.« Der Sergeant und die Polizeiconstable setzten sich.
Er merkte, daß seine Arm- und Beinmuskeln so angespannt gewesen waren, daß er jetzt zitterte.
Ein Constable hustete. Ein weiterer bewegte sich, und sein Stuhl knarrte. »Gehen Sie doch am besten gleich ’raus und sagen Sie denen, daß wir hier auf sie warten, statt es nur anzudeuten«, flüsterte der Sergeant wütend.
Der Vortrag sollte eine Stunde dauern, und anschließend war eine halbstündige Diskussion vorgesehen. Eineinhalb Stunden für die Verbrecher, um ihren Plan auszuführen – wenn sie es überhaupt vorhatten. Möglicherweise glaubten sie der Gazette nicht: Vielleicht hatte Races Haus unter Beobachtung gestanden, oder sie hatten von Nachbarn erfahren, daß an dem Abend, als der arme Mr. Race diesen schrecklichen Unfall gehabt hatte, ein paar Männer ihm einen Besuch abgestattet hatten. Vielleicht legten sie gerade Feuer in einem Restaurant und lachten über die Dummheit der Polizei.
»George. Achtung. Sechs. Aus.« Der Sergeant und die Polizeiconstable standen bereit.
Wenn das schon wieder falscher Alarm ist, dachte Fusil, dann werde ich euch mindestens einen Monat lang Spätschicht schieben lassen. Verdammt noch mal, kapiert ihr denn nicht, was das heißt, hier wie in einer Sardinendose eingezwängt zu stehen? Wir halten nach drei Männern Ausschau, die Pakete tragen, oder Aktentaschen oder Koffer …
»George. Vielversprechend, aber noch nicht eindeutig. Sechs. Aus.«
Er packte den Türgriff, drehte ihn zurück, dann ließ er wieder los. Er schloß aus der Funkbotschaft, daß ein Auto an einem strategisch wichtigen Punkt gehalten hatte, und daß noch keiner der Insassen bisher ausgestiegen war. Geschäftsleute auf dem Weg zu einem Abendessen? Mitglieder eines Rugby-Clubs auf einem Ausflug, die überlegten, welches der vier Striptease-Lokale in ihrer Stadt wohl das heißeste Programm bot?
»George. Drei mit Paketen gehen los. Sechs. Aus.« Sogar durch den blechernen Klang ließ sich die Aufregung heraushören.
Wieder umfaßte er den Türgriff, drehte ihn diesmal aber nicht. Der Bombenexperte hatte gesagt: »Sie werden einen ganz simplen Zeitmechanismus haben, der an Ort und Stelle leicht in Gang gesetzt werden kann; das erlaubt ihnen, unterwegs auf unvorhergesehene Schwierigkeiten zu reagieren. Es kann ein Uhrwerk sein oder ein elektrischer Schalter, der von außen durch Druck mit einer kurzen Verzögerung ausgelöst wird, oder es kann sich um einen Säurebehälter handeln, und wenn das Paket auf den Kopf gestellt wird, frißt sich die Säure durch einen sehr dünnen Verschluß und entzündet eine Mischung von Chemikalien, die den Zündsatz hochjagt. Ich neige dazu, ersteres anzunehmen, aber vergessen Sie nicht, darauf zu achten, ob er versucht, auch nur leicht auf den Behälter zu drücken oder ihn umzudrehen.« Vergessen? Keiner von ihnen dachte überhaupt noch an etwas anderes.
»George – eins. Die drei trennen sich, Sechs. Aus.«
Das mußten die Bombenleger sein! Drei Männer, jeder von ihnen auf dem Weg zu seinem Zielpunkt, einem der drei Ausgänge des Vortragssaals.
Gerade, als es aus dem Empfänger tönte: »George – eins. Jetzt. George zwei, nähert sich«, sah Fusil einen Mann, der sich der Tür näherte. Seine Kleidung war eine Spur zu aufdringlich, sein Körper besaß die Geschmeidigkeit eines Mannes, der körperlich in Bestform ist; er gab sich den Anschein völliger Unbekümmertheit, stand aber unter der leichten Anspannung, die sowohl Verbrechern als auch Polizisten eigen ist, die beide allzu interessiert an ihrer Umgebung sind.
Der Mann stieg die Treppe hinauf, das Paket in der rechten Hand.
Fusil stieß die Tür auf und ließ sie absichtlich laut ins Schloß fallen, um ein plötzliches Geräusch zu machen. »Wir sind Polizeibeamte, und einige von uns sind bewaffnet. Bleiben Sie ganz ruhig stehen und versuchen Sie nicht, das Paket auf den Boden zu setzen.«
Der Mann drehte sich um und sah Fusil an, das Gesicht voller Schrecken und Haß.
Es war fast drei Uhr morgens, als Fusil nach Hause kam. Er ließ den Wagen in der Auffahrt stehen, weil die Garagentür quietschte, und betrat das Haus mit der übertriebenen Vorsicht des typischen Nachtbummlers, der nicht entdeckt werden will. Er war auf halber Treppe, als die Wohnzimmertür aufging und Josephine herausgestürzt kam. »Mein Gott, Bob, warum in aller Welt hast du nicht angerufen? Ich habe mir schon die schrecklichsten Dinge ausgemalt und bin halb verrückt vor Angst.«
Er preßte sie an sich. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, sagte er sanft. »Wir haben die Bombenleger am frühen Abend festgenommen, aber es hat noch bis jetzt gedauert, um anschließend die Protokolle aufzunehmen.« Nie mehr, dachte er dankbar, von tiefer Zärtlichkeit erfüllt, nie mehr brauche ich mir dich in einem Flammenmeer vorzustellen …