25. KAPITEL
Für einen langen Moment schien es, als würde Garret niemals angreifen und Ayla ihm nicht die Genugtuung zugestehen wollen, die es ihm verschaffte, wenn sie es als Erste täte. So kreisten sie umeinander, flügelschlagend und mit ausgestreckten Armen die Balance haltend, dabei ließen sie den anderen nicht eine Sekunde aus den Augen.
„Könntest du es wirklich mit deinem Gewissen vereinbaren, mich zu töten?“, stichelte Garret, täuschte gleichzeitig einen Hieb vor und zog sich sofort wieder zurück. „Ohne mich stehst du ganz allein auf der Welt da. Noch wagt es vielleicht niemand auszusprechen, aber im Stillen sieht dich jeder am Hof als das, was du bist – ein abstoßender Mischling, weder Mensch noch Elfe. Wäre ich nicht gewesen, würdest du noch immer auf dem Streifen in den Abfallhaufen wühlen und nach verfaulten Essensresten suchen.“
Ayla nickte. Sie würde nichts darauf erwidern. Seine Selbstgefälligkeit war sein einziger Schutzschild und verriet, wie nervös er tatsächlich war. Sie flog dichter heran, so als wolle sie ihn attackieren. Er riss die Axt hoch und konterte, doch seine Klinge traf ins Leere, denn Ayla war blitzschnell ausgewichen, und er geriet durch den fehlenden erwarteten Widerstand, der seinen Schlag sonst gebremst hätte, aus dem Gleichgewicht und trudelte wild durch die Luft.
Außer sich vor Zorn richtete er sich wieder auf und schlug erneut nach ihr, im letzten Augenblick seine Waffe nach unten ziehend in dem Versuch, Aylas Beine zu erwischen. Sie machte einen Satz über ihn hinweg, klappte die Flügel ein, sodass sie auf das grelle Grün am Boden zuschoss, und ließ dabei von oben ihr Schwert auf den Griff seiner Axt krachen. Während er sich abermals in Angriffsstellung manövrierte und zu einem neuen Hieb ansetzte, hatte Ayla bereits seinen Oberkörper anvisiert, stach zu, und ihre Klingenspitze drang, nicht sehr tief, in seinen Bauch, ehe sie sie ruckartig zurückzog. Er stieß einen zischenden Laut aus und ruderte rückwärts. Ein zäher Tropfen seines Blutes rann langsam an Aylas Schwert herab.
Es war keine tödliche Verletzung, die sie ihm zugefügt hatte, und Ayla verfluchte sich dafür, dass sie gezögert und ihn nicht sofort durchbohrt hatte. Jetzt würde er wie ein verwundetes Tier nur umso härter kämpfen, was ihn noch gefährlicher machte als zuvor.
Mit einem fassungslosen Brüllen stürzte er sich auf sie, planlos und blind vor Wut. Sie duckte sich mit Leichtigkeit unter seinem Axtschwung weg und wagte ihrerseits einen Gegenangriff, wodurch ihre Seite völlig ungeschützt war. Es spielte keine Rolle, er würde nicht genug Zeit haben, ihre Unaufmerksamkeit auszunutzen.
Was er allerdings schaffte, war, mit ihr die Klingen zu kreuzen und ihre Waffenhand bedrohlich weit nach hinten zu drücken. Es kostete sie mehr Kraft, als sie gedacht hätte, ihr Schwert zu befreien, und als es ihr endlich gelungen war, kam schon die nächste erbitterte Schlagsalve auf sie niedergeprasselt.
Sie wehrte sie ab, entschlossen mit beiden Händen den Griff ihres Schwertes umklammernd. Ihre Waffe würde nicht sinken, und wenn er stundenlang so weitermachte, aber durch die rohe Gewalt, mit der er auf sie eindrosch, verbrauchte er viel Energie, und das verschaffte ihr einen Vorteil.
Als habe er dies zeitgleich mit ihrem Gedanken ebenfalls realisiert, nutzte er den Schwung seines letzten Hiebes, um sich wegzustoßen, und segelte rückwärts durch die Luft, bis er weit außerhalb ihrer Reichweite war. Eine lange Weile beobachtete er sie einfach nur, wie ein Raubtier, das seine Beute fixierte. Das war etwas, das Ayla ihn viele Male hatte tun sehen, wenn er im Trainingszirkel gegen einen Sparringspartner kämpfte. Er wartete, bis sein Gegner sich entspannte und unachtsam wurde. Dann schlug er zu.
Sie ließ ihre Schultern sinken, ganz leicht nur, eine fast unmerkliche Bewegung. Aber er hatte unzählige Stunden damit zugebracht, sie zu trainieren. Er glaubte, ihre Körpersprache in- und auswendig zu kennen. Und genau das würde jetzt sein Untergang sein.
Er rauschte heran, und sie täuschte Überraschung vor, als hätte sie Schwierigkeiten, rechtzeitig ihr Schwert nach oben zu bringen, um seinen Blitzangriff zu parieren. In Wirklichkeit erwartete sie konzentriert den Moment, in dem er ausholen würde zu einem exakt berechneten seitlichen Schwinger, der auf ihren Hals zielte und sie köpfen sollte. Dichter, dichter. Sie umfasste den Schwertgriff fester und bereitete sich auf ihren geplanten Schlag vor, mit dem sie Garrets Hände von seinen Armen abhacken würde.
Im entscheidenden Augenblick erkannte sie ihren Fehler, doch es war zu spät. Er hatte es nicht auf ihren Hals abgesehen, sondern hob die Axt senkrecht über seinen Kopf. Hätte sie ihr Schwert unten, neben ihrer Hüfte, gelassen, wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, zu kontern. Aber so, auf die kurze Entfernung, verhinderte der Winkel, in dem sie die Arme im Verhältnis zu seinem Körper hielt, jegliche Gegenwehr, und ihr blieb nichts anderes, als sich zur Seite wegzudrehen. Und das konnte sie nicht mehr schnell genug.
Die Klinge seiner Axt durchtrennte einen der Knochen ihrer Flügel, fuhr dann zwischen Schulterblatt und Wirbelsäule in ihr Fleisch und blieb in den hinteren Rippen stecken. Sie taumelte vorwärts, als Garret seine Waffe wieder herausriss und eine rote Fontäne durch die von der strahlenden Sonne über ihnen blendend weiße Luft schoss. Ayla aber sah die Tropfen wie in Zeitlupe an sich vorbeischweben und hielt sie, in ihrem Schock verwirrt, für die Rubine aus ihrer Krone.
Obwohl es ihr unerträgliche Qualen bereitete, zwang sie sich dazu, irgendwie genügend Distanz zwischen sich und Garret zu bringen, sodass er sie nicht gleich noch einmal treffen könnte. Mit einem verletzten Flügel jedoch war es unmöglich, sich in der Luft zu halten, und der Schmerz zuckte durch ihren Körper wie tausend Pfeile, als sie es trotzdem versuchte. Sie sah abwechselnd ein rotschwarzes Nichts und das grellgrüne Laub der Bäume unter ihr, die in rasender Geschwindigkeit näher kamen. Sie drehte sich und kehrte ihnen den Rücken zu. Über ihr beobachtete Garret ihren Fall, und sie wusste, auch ohne sein Gesicht erkennen zu können, dass er voller Selbstzufriedenheit lächelte.
Die Äste und Zweige knallten wie Peitschenhiebe gegen ihren Rücken und rissen die ohnehin schon klaffende Wunde darin noch weiter auf, als sie durch die Baumkronen krachte.
Dann, plötzlich, wie in gegenseitigem Einvernehmen, gab das Astwerk sie frei, und sie landete in dem See mit dem großen Felsen in der Mitte. Ihr Körper hatte kaum die Wasseroberfläche durchbrochen, als es auch schon Nacht um sie wurde.
Als Ayla die Augen wieder öffnete, hatte sie das Gefühl, es seien mehrere Stunden vergangen. Sie fragte sich, wo die Zeit geblieben war, und dann, wie sie überhaupt hatte aufwachen können. Das leise Plätschern von Wasser drang langsam in ihr Bewusstsein, und kurz darauf spürte sie es sacht gegen ihre Seite klatschen. Sie stemmte sich hoch, obwohl sie damit rechnete, jeden Moment wieder ohnmächtig zu werden, sobald durch die Bewegung der Schmerz zurückkam. Doch es geschah weder das eine noch das andere. Der Sand unter ihr war blutgetränkt, aber sie spürte nichts. In der Ferne stand eine Gestalt am Ufer des langen Strandes und schaute aufs Meer hinaus. Ayla stand auf, um zu ihr zu gehen.
Dies ist also das jenseitige Reich, dachte sie, während sie barfuß über den Sandboden lief. Die feinen Körnchen knirschten zwischen ihren Zehen, der Wind peitschte ihr offenes Haar in ihr Gesicht, doch hätte sie nicht gewusst, dass sie tödlich verwundet war, wäre es ihr nicht einmal aufgefallen.
„Dieser Ort dürfte überhaupt nicht existieren“, sprach sie ihre Gedanken laut aus.
Obwohl die Gestalt noch weit weg war, hörte sie deren Antwort so klar, als stünde sie direkt neben ihr.
„Und weshalb sollte er das nicht? Weil du glaubst, es gibt ihn nicht? Weil man dir gesagt hat, er sei nichts als ein Hirngespinst?“
Dann stand Ayla ihr plötzlich gegenüber, und die Frau setzte sich neben einen aus dem Nichts aufgetauchten Kessel voller Meerwasser, der auf einer Feuerstelle im Sand vor sich hin brodelte.
„Du …“ Aylas Stimme versagte, als sie die Frau vor sich erkannte. „Du bist die Heilerin.“
Sie nickte, und auf ihrem faltigen menschlichen Gesicht erschien ein mildes Lächeln. In diesem Augenblick wurde Ayla klar, dass sie sich ihr zwar immer als Mensch gezeigt hatte, doch sie war keiner. „Du kennst mich ebenso in vielen anderen Formen.“ Mit diesen Worten verwandelte sie sich in die junge schwangere Elfe, die Ayla schon einmal in ihrem Traum – oder war es gar kein Traum gewesen? – gesehen hatte. „Schon deine Mutter kannte mich, und dein Vater. Ihr alle wisst, wer ich bin, in welcher Gestalt und unter welchem Namen auch immer ich euch erscheinen mag.“
Ayla öffnete den Mund, um sie zur Rede zu stellen, und wurde, ehe sie auch nur einen Ton herausbringen konnte, von den Bildern überwältigt, die auf einmal um sie herum entstanden. Moos, das sich über den Waldboden ausbreitete, ein Vorgang, der mehr als ein ganzes Leben lang dauerte, in wenigen Sekundenbruchteilen ablaufend. Eine Feuerwalze, die einen Berg hinab und über das Tal hinwegrollte, eine Schneise der Verwüstung hinterlassend und schließlich zischend im Meer erlöschend, sodass aus der stetig nachfließenden und erkaltenden Lava eine neue Landzunge und letztlich eine Halbinsel entstand. Wilde Tiere, die ihre Jungen aufzogen, einige der erwachsen gewordenen Jungen hungrigen Beutejägern zum Opfer fallend, denen sie als Nahrung dienten und die ihrerseits Nachwuchs bekamen. Der ewige Kreislauf aus Schöpfung und Zerstörung, Leben und Sterben zog in einem einzigen Moment, kürzer als ein Blinzeln, an ihren Augen vorbei.
Dann verschwand die Vision, und hinter den verblassenden Bildern tauchte die alte Frau wieder auf, bedächtig mit einem Holzlöffel in dem Wasserkessel zu ihren Füßen rührend. „Als die Menschen begannen, nach mir zu suchen, und sich auf ihren Ursprung besinnen wollten, habe ich sie mit offenen Armen empfangen. Doch mit der Zeit hörten sie auf, einen Teil von mir in sich selbst zu suchen, um die Antworten auf ihre Fragen zu finden, sondern forderten sie von mir. Sie hörten auf, das zu würdigen, was sie umgab, und wollten mehr. Macht. Magie, die sie sehen und anfassen konnten. Kreaturen, die sie faszinierten.“ Sie seufzte leise. „Sie erkannten nicht, dass ich überall um sie herum war, und versuchten mich in ihre Welt zu ziehen. Das war es, wodurch der Wall einstürzte. Und es ist der Grund, warum ich mich versteckt halte.“
„Aber was ist mit uns?“, fragte Ayla und erschrak, als ihr bewusst wurde, dass sie in ihrer Empörung eine Gottheit beleidigt hatte. Sie war selbst zur Hälfte ein Mensch. Und sie hatte ebenso wenig das Recht gehabt, sie herbeizurufen.
„Du hast mich nicht herbeigerufen. Ich habe dich hierher geholt.“
Die Göttin unterbrach ihr Rühren und sah auf.
Und da erinnerte Ayla sich, woher die Wunde, die sie nicht fühlte und von der sie doch wusste, dass sie da war, stammte. „Ich bin gestorben.“
„Nein“, widersprach die Göttin rasch. „Noch nicht.“ Ihre Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an, und sie ließ ihren Blick über die ans Ufer brandenden Wellen schweifen. „Sie wollten das, was ich ihnen gegeben habe, nicht. Ich gab ihnen mehr, die andere Welt, nach der sie sich sehnten, und auch dieses Geschenk wiesen sie ab.“
„Dann hol es dir zurück! Lass uns wieder dort leben, wo wir hingehören!“ In ihren Ohren klang Ayla wie ein Kind, das seinen Willen durchzusetzen versuchte. „Wir ertragen diese Trennung von unserem Zuhause nicht länger. Mit jedem Tag werden wir ihnen immer ähnlicher!“
„Das werdet ihr“, bestätigte die Göttin. „Ihr seid heute gieriger und machthungriger, als ihr es jemals in den Astralreichen wart. Ihr strebt nach den Annehmlichkeiten eines menschlichen Lebens, wollt aber gleichzeitig nicht euren Stolz aufgeben und die Traditionen eurer edlen Rasse weiterführen.“
„Es hat schon Hofstaaten und Königinnen gegeben, bevor der Wall brach! Damals waren wir doch auch nicht zu stolz für dich!“ Ayla wünschte, sie könnte sich besser an all das erinnern, was man ihr bei ihrer Ankunft in der Lightworld über die Geschichte der Elfen beigebracht hatte. Doch dann begriff sie, es würde keinen Unterschied machen. Die Vergangenheit … Das war der Grund. „Du hast den Menschen gegeben, was sie wollten. Und unserem Volk …“
„Die Elfen wollten schon immer aussehen wie Menschen, und über die Jahrtausende wurden ihre Körper mit jeder Generation menschlicher. Drachen verlangte es, wie sie, nach materiellem Reichtum. Trolle und Nachtalben teilten ihre Vorliebe für Krieg und Gewalt. Sie alle hegten den Wunsch, wie die Menschen zu sein, auf die eine oder andere Weise. Ich habe den Menschen gegeben, was sie wollten. Und eurer und den anderen Rassen ebenso.“ Sie wirkte nicht enttäuscht oder verärgert, weil keine der beiden Seiten jemals zufrieden zu sein schien. Sie beschrieb die Dinge schlicht so, wie sie waren.
„Was können wir tun?“, fragte Ayla, obwohl sie nicht davon ausging, die Lösung noch irgendjemandem mitteilen zu können. Sie verlor weiterhin viel zu viel Blut, und der Baum ihrer Lebenskraft flackerte in ihrem Inneren und ließ seine Herbstblätter fallen. „Damit die Dinge wieder werden, wie sie einmal waren?“
„Nichts.“ Die Göttin griff nach dem Holzlöffel im Kessel und fuhr fort, die Flüssigkeit darin umzurühren. „Aber sie schon.“
„Sie?“
Die Göttin streckte eine Hand aus, berührte Aylas Bauch, und ihre Fingerspitzen verschwanden einfach im Metall der Rüstung, drangen durch ihre Haut, stupsten zart gegen das winzige neue Leben in ihr. „Sie kann die Dinge ändern.“
„Wie sollte sie? Ich bin tot.“ Ayla fragte sich, ob ihr Kind in dieser Welt wohl ebenfalls noch lebte, obwohl in der anderen, realen, seine Mutter bereits gestorben war. Die Antwort musste offenbar Ja lauten, denn sie fühlte keinen Schmerz oder Trauer. „Sie kann nicht in einem toten Körper heranwachsen.“
„Ich habe es dir schon gesagt, du bist nicht tot.“ Die Göttin hob den Löffel hoch, und Meerwasser rollte in dicken glitzernden Tropfen daran hinab. Sie fing einen davon mit dem Zeigefinger auf und hielt ihn Ayla vors Gesicht. „Du musst sie beschützen. Es wird viele geben, die ihr Böses wollen. Ihr Schicksal ist es, Großes zu vollbringen, und das werden sie spüren und allein deshalb versuchen, sie zu vernichten. Sie denken nicht daran, ob sie die Macht, die ihr verliehen wurde, vielleicht dazu nutzen könnte, ihnen zu helfen und ihr Leben besser zu machen.“
„Gut, dann bin ich jetzt noch nicht tot, aber sobald ich wieder in der Wirklichkeit bin, werde ich es sein. Ich bin zu schwer verletzt, um Garret zu besiegen, und er wird mich nicht am Leben lassen.“
Anstatt ihr eine Antwort zu geben, packte die Göttin Aylas Kinn, öffnete ihr gewaltsam den Mund und strich den Wassertropfen auf ihre Zunge.
Als sei der Blitz in einen hohen Baum eingeschlagen und hätte ihn in Brand gesetzt – zumindest hatte Ayla gehört, dass so etwas manchmal passierte –, ging irgendetwas in ihr in Flammen auf. Sie kippte nach hinten um, lichterloh brennend, und der Sandboden, auf dem sie eigentlich hätte aufschlagen müssen, gab unter ihr nach. Sie fiel in ein tiefes Loch, dann ins Wasser und in völlige Dunkelheit.
Ayla öffnete die Augen. Über ihr schimmerte das Grün des Refugiums durch den silbernen Schleier der Wasseroberfläche. Sie schwamm darauf zu, mit den Flügeln eine blutige Wolke um sich herum aufwirbelnd, während das Meerwasser noch immer wie flüssiges Feuer ihren Leib durchströmte.
Als sie nach oben kam, nahm sie japsend den Atemzug, der eigentlich ihr letzter hätte gewesen sein sollen. Das Rascheln der Blätter, das ihren Sturz verursacht hatte, war noch zu hören, als sei sie niemals weg gewesen.
Sie steuerte auf das Ufer des Sees zu. Der Zauber, der in ihr brannte, hatte ihr neue Kraft gegeben, doch sie konnte spüren, wie er langsam nachließ. Wenn sie Garret töten wollte, was die einzige Möglichkeit war, selbst zu überleben, dann musste sie es bald tun.
Die Zweige oberhalb knackten plötzlich. Etwas anderes kam hindurchgefallen, im Gegensatz zu ihrem trudelnden Absturz ein kontrollierter, zielgerichteter Fall. Kurz darauf tauchte auch schon Garret auf, mit dem Kopf voran, die Flügel eng an den Rücken angelegt. Nachdem er das Blattwerk durchstoßen hatte, öffnete er sie, um seinen Sturzflug zu bremsen, und brachte sich in der Luft in eine aufrechte Position. Er landete just in dem Augenblick, als Ayla sich gerade an Land gezogen hatte und keuchend auf die Füße kam.
„Ich dachte, du hättest dir schon den Schädel gebrochen“, sagte er mit einem primitiven Schniefen, das so überhaupt nicht zu seiner adligen Herkunft passte. „Wäre nicht schade drum gewesen, da war ohnehin nie viel drin.“
Sie humpelte auf ihn zu, ihren nur noch an einem dünnen Hautlappen hängenden Flügel hinter sich herschleifend.
„Es ist wirklich eine Schande, dass es so enden muss“, fuhr er fort. „Als ich der Herrschaft meiner Schwester ein Ende gesetzt habe, da wollte ich dich wirklich zu meiner Königin machen, zur zweitmächtigsten Person des Elfenreichs, der ganzen Lightworld.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber du und deine vermaledeite Ehre. Du nimmst dich selbst viel zu wichtig.“
Sie fiel auf die Knie und senkte schicksalsergeben den Blick. Seine folgenden Worte klangen ehrlich bedauernd. „Ich war immer überzeugt, du hättest so viel mehr Potenzial und man müsste es nur aus dir herausholen.“
Die Klinge der Axt zerschnitt die Luft, glitt hindurch wie durch Wasser, als sie auf Aylas Hals zuschnellte. Sie hob die Hände, wie um sich instinktiv vor dem tödlichen Angriff schützen zu wollen. Stattdessen griff sie nach einem der juwelenbesetzten Metallstäbchen, mit denen ihre Haarknoten befestigt waren, und zog es heraus.
Die Axt zischte herab und grub sich, wo eben noch Ayla gekniet hatte, in den moosbedeckten Boden. Sie sprang aus ihrer Seitwärtsrolle auf, die mit Mabbs Gift gefüllte Haarnadel in der Faust, und rammte sie Garret in die Kehle.
Seine Finger tasteten nach der messerscharfen Spitze, die in seinem Hals steckte, krümmten sich im Todeskampf, vertrockneten zu knorrigen Ästen, bevor sie das kalte Metall auch nur berührten. Er stolperte rückwärts, auf Beinen, die zu knorrigen verdrehten Wurzeln wurden. Als er fiel, die Augen in Schock und Entsetzen weit aufgerissen, öffnete sich sein Mund, aus dem mit einem eisigen Windhauch ein Schwall trockener toter Blätter wirbelte.
Ayla taumelte und fiel. Ihre Mission war erfüllt, und der Zauber der Göttin hatte sie verlassen. Sie ließ ihren Kopf auf den kühlen Moosteppich sinken und wandte ihr Gesicht von Garrets zusammengekrümmter Leiche ab. Seine Augen waren noch immer offen, und sie konnte es nicht ertragen, hineinzusehen.
Hoch oben auf einem der Baumwipfel stieß ein Rabe einen Warnruf aus, dann flog er davon, tiefer in den kleinen Wald des Refugiums. Ayla sah ihn die Flügel ausbreiten und fragte sich, ob er ihretwegen gekommen war oder wegen Garret. In den Büschen knackte es leise; jemand näherte sich.
Wenn es Garrets Leute waren, wäre das ihr Ende. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich zu verteidigen. Sollten es ihre sein … würde sie vielleicht trotzdem sterben.
Cedric erreichte als Erster die Lichtung, sein Gesicht aschfahl, als wäre er es, der eine tödliche Verletzung erlitten hatte. Sein hektischer Blick wanderte von Garrets leblosem Körper zu Ayla. Zuerst erschien Erleichterung in seinen Augen, die sich jedoch im nächsten Moment in Bestürzung wandelte.
„Wachen!“, brüllte er, noch während er auf sie zurannte. Er kniete sich neben sie und legte vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter. „Wir müssen Euch zu den Heilern bringen! Haltet Euch an mir fest, schafft Ihr das?“, fragte er und hob sie behutsam hoch.
Während Cedric mit ihr auf den Armen loslief, sie wie einen Sack gestohlener Edelsteine quer über die Schulter gewuchtet, schwebte eine schwarze Rabenfeder von oben herab und deckte Garrets blicklose Augen zu.