10. KAPITEL
Ayla wartete in ihrem Versteck, solange es irgend ging. Ihre Verletzung machte sie benommen, alles um sie herum war so stechend scharf und gleißend hell. Aber sie konnte es nicht riskieren, hier von ihm entdeckt zu werden, allein und geschwächt.
Er wollte sie töten. Ein berechtigter Wunsch, überlegte sie. Hätte ihr jemand den Elfenanteil ihres Blutes entrissen – wie wenig sie auch davon in sich tragen mochte –, sie würde denjenigen abgrundtief hassen bis zu ihrem letzten Atemzug. Aber es war unmöglich für ihn, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Nicht in seinem Zustand. Kein Sterblicher könnte sie töten, eine geschulte Assassine im Dienste von Königin Mabb. Kaum ein Wesen konnte es mit der Klinge eines Assassinen aufnehmen. Sollte dieser Darkworlder es versuchen, wäre es sein Untergang.
Lass ihn. Lass es ihn versuchen, vernichte ihn und gehorche damit der Gäis. Dies schien doch eine durchaus vernünftige Lösung zu sein. Sie hatte ihren Schwur zweimal gebrochen. Zweimal in ebenso wenigen Nächten. Nach fünf Jahren bedingungsloser Loyalität, in denen sie niemals auch nur einer Versuchung erlegen war. Wegen dieser Kreatur.
Und weshalb? Aus Mitleid? Das Wort jagte ihr einen Schauer der Abscheu über den Rücken. Mitleid. Es gab nicht den geringsten Grund, diese Wesen zu bemitleiden, diese bösartigen, verdorbenen Bestien, deren jämmerliches Dasein sich kaum von dem der Insekten in ihren dreckigen Löchern unterschied. Wenn dieser starb, gäbe es einen weniger von ihnen. Das war alles.
Warum aber, wenn es so leicht war, bereitete ihr der bloße Gedanke solchen Schmerz? Wahrscheinlich, weil einfach ihre Nerven blank lagen. Vielleicht würde ihre schon bald besiegelte Bindung mit Garret ihr eine Ausrede liefern, um die Gilde zu verlassen, ohne die Fragen beantworten zu müssen, von denen sie wusste, dass sie Schande über sie bringen würden.
Nein. Es gibt nur eins, was dein Problem lösen kann. Und du hast es entkommen lassen! Sie kroch aus der Mauernische in der Tunnelwand und zog ihr Schwert. Er konnte noch nicht weit sein. Mit seinen gigantischen Flügeln war ein rasches Fortkommen für ihn so gut wie ausgeschlossen, sein Körper würde unter der Last sicher schnell ermüden. Es bräuchte nicht mehr als einen kleinen Sprint, um ihn einzuholen, und noch weniger Zeit würde es sie kosten, ihn zu erledigen.
Ein schneidender Schmerz fuhr durch ihren verletzten Arm. Sie schloss die Augen und benutzte den inneren Blick, um die Wunde genauer zu untersuchen. In ihrer Brust sah sie den Baum ihrer Lebenskraft in schimmerndem Grün leuchten, doch die Äste, die in der Nähe ihres aufgerissenen Fleisches wuchsen, hatten ein herbstliches Orange angenommen, das in knalliges Rot überging, wo die Funken ihrer Lebenskraft die Ränder der Wunde berührten und wie kleine Bläschen zerplatzten. Sie würde es nicht schaffen, dies hier allein zu heilen.
Es wäre kein erneuter Bruch der Gäis, einen Heiler aufzusuchen, bevor sie den Engel tötete. Und es würde sie nicht in so große Gefahr bringen. Sie schnallte ihr Schwert wieder auf dem Rücken fest und drehte sich um, einen letzten Blick in die Richtung werfend, in die der Darkworlder geflüchtet war.
Auf dem Streifen gab es einen Heiler, der von der Gilde anerkannt war. Zumindest soweit eine Anerkennung für einen Menschen reichen konnte, obendrein noch einen, dessen Dienste in Anspruch zu nehmen jedem freistand, ob Darkworlder oder Lightworlder.
Es war nicht schwierig, den Weg aus der Darkworld herauszufinden, wenn man ihn kannte, und Ayla kannte ihn. Das taten alle Assassine. Die Lightworld hielt ihre Grenzen geschlossen und bewacht, und nur wenige durften sie überschreiten. Selbst die Trolle, diese widerwärtigen Steinfresser aus den heruntergekommensten Slums, akzeptierten das. Vielleicht hatten sie auch einfach nicht genug Hirn, um dagegen zu protestieren. Der Streifen war eine Zone, in der einem an jeder Ecke Drogen, Alkohol und andere Substanzen hinterhergeworfen wurden, genau die Sorte Währung, mit der ihre verwahrloste Rasse ihre Geschäfte tätigte, was es unwahrscheinlich machte, dass sie sich von dieser Quelle fernhalten lassen würden, es sei denn, sie wussten nichts von deren Existenz.
Die Darkworld hingegen schien vollkommen unbesorgt angesichts des Abschaums, der tagtäglich ihre Grenzen passierte. Sie ließen sogar Menschen hinüber, bei Brownyns Haar! Es war eine praktische Sache für einen Assassinen, der seine Beute bis in das gesetzlose Terrain der Darkworld verfolgen wollte, aber es erschwerte ihren Einwohnern das Überleben umso mehr.
Auf dem Streifen wiederum herrschte eine andere Art Gesetzlosigkeit. Ayla ließ ein wachsames Auge über die Massen schweifen, ihren verletzten Arm eng an den Körper gedrückt. Sie zog ihre dünne Weste aus und wickelte sie fest um die Wunde. Diese Maßnahme würde die Blutung nicht stoppen, aber vielleicht half es, nicht sofort die Aufmerksamkeit irgendwelcher Vampire auf sich zu ziehen, die ihr möglicherweise begegneten.
Das Interesse der anderen Monster, die es auf sie abgesehen hatten, würde es jedoch kaum verringern. Sie benutzte ihren gesunden Arm, um ihre Nacktheit zu verbergen, so gut es ging, während sie sich durch das Gedränge schob.
Der laute, ungeordnete Fluss der Fußgänger auf den Straßen schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Obwohl ihr Schwert schwer wie Blei auf ihren Rücken drückte, stieß sie sich mit den Füßen ab und schwang sich in die Luft hinauf. Auch hier wimmelte es von Kreaturen, die in alle möglichen Richtungen hetzten, um ihr Ziel irgendwo auf dem geschäftigen Streifen zu erreichen, doch es war nicht ganz so überfüllt wie am Boden. In der Ferne glühte das beruhigende Neonblau eines Heilersymbols der Lightworld. Es war unrecht, dass jemand, der gar nicht zur Lightworld gehörte, es verwendete, doch in diesem Fall war es großes Glück für Ayla, denn sonst hätte sie es womöglich einfach übersehen. Ihr war schwindelig, und ihre Gedanken wurden mit jeder Minute verworrener. Unter ihrem provisorischen Verband begann Blut herauszuquellen, und der Stamm des Baumes ihrer Lebenskraft verlor zusehends seine Leuchtkraft, je dichter das Orange aus den Ästen hinunterkroch. Als sie schließlich auf dem wackeligen Ende der Treppe landete, wo sich der Laden des Heilers befand, hatte ihre Sicht schon begonnen, im Rhythmus ihres Herzschlages abwechselnd klar und verschwommen zu werden. Sie machte sich nicht die Mühe, anzuklopfen, sondern riss einfach die Tür auf und ging hinein. Ihr unerwartetes Hereinplatzen schreckte eine Gruppe Menschen mit verschiedenen Metallteilen an ihren Körpern auf, die vor einer älteren Frau auf einem Podest am Boden hockten.
„Ich brauche einen Heiler“, krächzte Ayla in der menschlichen Sprache, die Worte fühlten sich wie scharfkantige kleine Kieselsteine auf ihrer Zunge an. Dann wurde es dunkel um sie. Sie war bewusstlos geworden, noch bevor sie spüren konnte, wie sie mit dem Rücken auf dem Flur aufschlug.
Sie hatte eine Spur hinterlassen. Blutige Fußabdrücke, die nach einer Weile verblassten, von einer Pfütze auf dem trockenen, staubigen Boden abrupt unterbrochen, und dann wieder deutlicher sichtbar wurden. Als diese Fußspur schließlich gänzlich aufhörte, blieb Malachi trotzdem auf seinem eingeschlagenen Weg. Er wusste, er würde sie finden. Diese Gewissheit brannte in ihm, trieb ihn tiefer und tiefer in das komplizierte Tunnelsystem. Irgendwann wurde ihm bewusst, dass er sich verirrt hatte und womöglich niemals wieder zur Werkstatt des Menschen oder zum Streifen zurückfinden würde. Es spielte keine Rolle. Das unbändige Verlangen, zu töten, erstickte jegliche potenzielle Panik im Keim, erschuf eine Illusion, dass alles in Ordnung war, und er rannte weiter.
Das Echo eines leisen Plätscherns warnte ihn, dass er sich Wasser näherte. Er spürte die unsichtbare Klaue der Furcht, die sich in der Dunkelheit um seine Kehle schloss. Wenn es dort vorn keinen Fußweg am Rand gab, wenn der Boden des Tunnels plötzlich nachgab und er einsank … Er erinnerte sich nur allzu gut an das Reißen in seinen Lungen, als sie sich mit dem schmutzigen Wasser füllten, und das unglaubliche Gewicht seiner durchnässten Flügel, die ihn in die Tiefe zogen.
Dennoch, die in ihm brodelnde Wut überwog seine Angst. Er ging in die Knie, um mit den Händen den jeweils vor ihm liegenden Abschnitt des Bodens fühlen zu können, und robbte sich so auf allen vieren weiter voran. Der Tunnel zweigte in zwei unterschiedliche Richtungen ab, eine der Abbiegungen mündete nach links in einen neuen Tunnel. Die andere bestand lediglich aus einer runden Öffnung, in der eine kaputte Leiter zu erkennen war, die offenbar nirgendwohin führte. Sie musste den anderen Weg genommen haben. Er war so dicht dran.
Etwas huschte hinter dem Tunneleingang vorbei. Dann ein Platschen, gefolgt von einem Aufheulen, das sich wie berstendes Glas anhörte. Sein Herz schlug schneller. Sie war hier, ganz in der Nähe.
Und sie hatte keine Angst vor ihm. Sie kam auf ihn zu. Seine Hände, die er eben noch locker zu beiden Seiten hatte hängen lassen, spannten sich an. Bilder der nichtswürdigen Kreaturen, die umfielen wie Streichhölzer, abgeschlachtet von ihrer Klinge, tauchten in seinem Geist auf wie eine düstere Nebelwolke, und für einen Augenblick dachte er daran, zu fliehen.
Und dann stand sie ihm gegenüber, ihre Haut so weiß, dass sie die Finsternis erhellte, ihr langer Zopf wie ein Strang aus hinter ihr züngelndem Feuer, als sie einen letzten, vorsichtigen Schritt auf ihn zumachte und ihm so nah war, dass ihre Körper sich berühren würden, wenn er auch nur einen tiefen Atemzug nähme.
Ihr Arm bewegte sich, langsam, doch sie griff nicht nach ihrer Waffe. Es gab keine, wie er mit vor Erleichterung weich werdenden Knien bemerkte. Vielleicht hatte die Elfe sie irgendwo zurückgelassen, um im Notfall schneller flüchten zu können.
Wie sehr sie das jetzt bereuen würde. Malachis Herz pochte, das Blut strömte in seine Gliedmaßen, und ihm wurde heiß, der Zorn in seiner Brust sprudelte förmlich über. Ihre Hand, so klein und durchscheinend, dass die Sehnen unter der blassen Haut zu erkennen waren, bewegte sich auf ihn zu, sachte, wie in Zeitlupe. In dem Moment, als sie ihn berührte, traf die Hitze, die von ihr ausging, ihn wie ein Blitz, und es war, als würde ihn ihre Energie gleich einem lodernden Feuerball von innen verbrennen. Er packte sie, seine großen Hände schlossen sich problemlos komplett um die Wölbung ihres Oberarms. Er drückte zu, wollte ihre Knochen brechen, sie zerbrechen, doch er musste feststellen, dass sie stärker war, als er geglaubt hatte. Sie stöhnte auf und warf den Kopf zurück, ihre zarte Gestalt wand sich unter seinem Griff, und sie drängte sich auf einmal fest an ihn.
Ein überwältigendes Gefühl schoss durch ihn hindurch. Nicht der heftige Schmerz, den er bei ihrer ersten Berührung gespürt hatte, sondern etwas anderes, Dunkleres, das sein Blut aufwallen ließ. Er riss sie grob zu sich hoch und hielt sie auf halbe Armeslänge entfernt, sodass er in ihre Augen sehen konnte. Und sie den Hass in seinen. Sie sollte sich an ihn erinnern, sollte wissen, von wem sie getötet wurde. Sein Mund verzog sich zu einem grausamen Lächeln.
Dann presste er seinen Mund auf ihren, und ihre Lippen trafen aufeinander, noch bevor ihm die Perversität dessen, was er da tat, bewusst wurde. Er war ihr gefolgt, um sie zu töten. Nicht nur einfach zu töten, sondern zu Tode zu foltern, sie zu bestrafen für das, was sie ihm angetan hatte, sie um Gnade betteln zu lassen. Doch dieser Wunsch war plötzlich wie ausgelöscht und hatte sich stattdessen in etwas anderes verwandelt, etwas, das ihn zutiefst verstörte. Trotzdem konnte er sie weder loslassen noch das Rasen seines Pulses stoppen oder das Hämmern seines Herzens, das ihm bis zum Hals schlug, als sie sich zum Schein wehrte, um im nächsten Augenblick den Kuss hungrig zu erwidern.
Sie fand es nicht abscheulich oder erniedrigend. Sie hing an ihm, schaffte es, ihre Arme zu befreien, schlang sie wie zwei rankende Schlingpflanzen um seinen Nacken, während ihre schlanken, kräftigen Beine sich auf gleiche Art um seine Hüften legten. Diese Nähe, ihr Körper, sich dichter an den sterblichen Teil von ihm schiebend, der danach gierte, sie zu spüren, als hätte er einen eigenständigen Willen, weckte einen primitiven Trieb in ihm, gegen den die letzten spärlichen Überbleibsel des Hasses verzweifelt versuchten anzukämpfen.
Es ist noch nicht zu spät! schrie das blutrünstige, rachsüchtige Monster in ihm. Er könnte sie noch immer zermalmen wie lästiges Ungeziefer, ganz besonders jetzt, wo sie nicht mit einem Angriff rechnete, wäre es ein Leichtes. Aber etwas in ihm sträubte sich dagegen, seinen Mund von ihren heißen feuchten Lippen loszureißen. Viele andere Engel waren vor ihm gefallen, weil sie ein sterbliches Wesen berührt hatten. Nicht so, wie er es beim ersten Mal getan hatte, sondern auf die Weise, die er nun am eigenen Leib erfuhr. Für ihn waren seine Vorgänger bisher einfach willensschwach und unzulänglich gewesen, doch jetzt musste er erkennen, dass es nicht so leicht war, zu widerstehen, wie er geglaubt hatte. Es war keine Frage des Willens, sondern des Wollens. Er wollte dies hier, wollte sie mit Haut und Haar besitzen. Mehr von ihrem Stöhnen und den scharfen Atemzügen hören, die sie ausstieß, als sie sich mit rhythmischen Bewegungen an ihm zu reiben begann. Der fieberhaften Erregung ein Ende machen, die sich unbezähmbar steigerte und steigerte, obwohl er sich gleichzeitig wünschte, es würde niemals aufhören.
Sie legte den Kopf zurück, goldene Augen funkelten ihn an. Ihre Finger krallten sich in das geliehene Hemd, das er trug, und zerrissen es, dann ließ sie ungestüm ihre Handflächen über seine nackte Brust gleiten. Das ätherische Weiß ihrer Haut ließ seine eigene im Vergleich derb und um so vieles sterblicher wirken, doch während er zusah, wie sie ihn streichelte, fing das Weiß langsam an, sich einzutrüben und immer dunkler zu werden, bis ihre Hände sich in tiefschwarze, schuppige Klauen verwandelt hatten.
Panik ergriff ihn. Fassungslos starrte er in ihr Gesicht, das eben noch so fein und blass gewesen war, jetzt aber, genau wie ihre Hände, seine Farbe veränderte. Das Einzige, das an ihr noch hell leuchtete, waren ihre rot glühenden Augen.
Schockiert beobachtete er die Verwandlung. Diese Kreatur war nicht sie. Der Schrecken, der das Blut in seinen Adern zu Eis gefrieren ließ, hatte nichts mit seiner Angst vor dem widerlichen Ding zu tun, das ihn umklammert hielt, es war seine Reaktion, die ihn erschreckte. Als er erkannte, dass das Wesen in seinen Armen nicht die Elfe war, fiel ihm sein ursprüngliches Vorhaben wieder ein, und er musste sich eingestehen, auf ganzer Linie versagt zu haben. Und dass es besser wäre, hier zu sterben, bevor er eines Tages das echte Ziel seiner Aggression aufspürte.
Denn wenn er sie fand, würde er sie nicht töten. Es war kein Hass, der ihn dazu getrieben hatte, sie zu verfolgen.
Die Bestie öffnete ihr Maul, um ihre geifertropfenden Zähne zu fletschen, und das war das Letzte, das Malachi sah.
Der Himmel. Ayla hatte nie mehr von ihm gesehen als das, was man mit flüchtigen, kurzen Blicken durch das Metalltor erhaschen konnte, welches das Refugium von der Oberwelt abschottete. Aber sie wusste sofort, was es war, auch ohne die silberglänzenden Stangen davor.
Sie schaute zum Himmel hinauf, ein Blau, so hell und klar, dass die Farbe kaum von dem glänzenden Licht zu unterscheiden war, das sie durchdrang. Weiße Wolkenfäden schwebten hoch oben, getragen von einer leichten Brise, die Ayla nicht spüren konnte.
War sie gestorben? War dies das Sommerland?
Nein, das Sommerland gab es schon lange nicht mehr. Nachdem der Wall zerstört worden war, hatte es sich, den Geschichten zufolge, aufgelöst. Die Blätter waren von den Bäumen gefallen, der Weizen auf den ausgedehnten Feldern verdorrt und das Wasser der Flüsse bis auf den letzten Tropfen von der toten Erde aufgesaugt worden, ohne dass es einen Weg gegeben hätte, all diese Schönheit jemals wiederherzustellen. Es war zu der Wüste geworden, die es noch immer war und in die niemand, nicht einmal die Geschöpfe der Oberwelt, auch nur einen Fuß setzte.
Sie erinnerte sich, wie sie in den Laden der Heilerin gestürzt war. Doch was hatte sich danach zugetragen? Wie war sie hierhergekommen?
Der freundliche blaue Himmel hatte darauf auch keine Antworten. Sie konnte es doch unmöglich in die Oberwelt geschafft haben. Selbst wenn sie unbemerkt an den Wachen der Lightworld vorbeigekommen wäre, irgendjemand hätte sie doch inzwischen entdecken müssen. Wo befand sich dieser Himmel nur?
„Du bist auf dem Streifen“, sagte eine sanfte menschliche Stimme, deren Besitzer erstaunlich gut die Elfensprache beherrschte.
Doch egal, wie passabel seine Aussprache war, Ayla konnte den Klang trotzdem nur schwer ertragen. „Sprich nicht elfisch mit mir. Ich verstehe deine Menschenworte.“
„Wie du möchtest.“ Eine wettergegerbte Hand erschien plötzlich in ihrem Sichtfeld und legte sich auf ihre Stirn. „Was ist dir zugestoßen, dass du so dringend meine Hilfe brauchst?“
Ayla neigte den Kopf zur Seite und schob ihre Haare fort, um das Zeichen der Gilde freizulegen, das in ihre Haut eintätowiert war und vom Kiefer bis zum Schlüsselbein reichte. Die Frau neben ihr war die Heilerin, die sie beim Hereinkommen gesehen hatte, ihre sterbliche Haut runzelig, die weißen Haare kurz geschnitten.
Ihre Brauen hoben sich über den freundlichen Augen, traurig und wässrig braun in ihren von feinen Fältchen durchzogenen Höhlen. „Ich verstehe nicht.“
„Ich bin eine Assassine.“ Die Menschensprache fühlte sich seltsam auf ihrer Zunge an. Sie hatte sie nicht mehr gebraucht seit …
Die Frau nickte wissend und streichelte tröstend mit zwei Fingern über Aylas Wange. „Denk jetzt nicht daran. Schmerzvolle Erinnerungen verursachen nichts als noch mehr Schmerz.“
Es hätte sie beunruhigen müssen, dass diese Frau offenbar ihre Gedanken hören konnte, so klar und deutlich wie gesprochene Worte. Anstatt sich darüber zu sorgen, blickte sie abermals zum Himmel empor. „Er ist wunderschön.“
„Du weißt, es ist nur eine Illusion.“ Die Stimme der Heilerin klang betrübt. „Den echten Himmel dort oben wirst du niemals sehen.“
„Bis wir ihn uns eines Tages zurückerobern“, grollte Ayla und wandte ihr Gesicht wieder der Frau zu, um sie wütend anzufunkeln. Doch es gelang ihr nicht, ärgerlich genug zu werden, damit ihr Blick das Gefühl widerspiegelte, denn etwas in ihr wusste, dass die Heilerin nur die Wahrheit sagte. Sie spürte, wie sich eine Träne in ihrem rechten Auge bildete, als sie hinter das Trugbild schaute und die schmutzigen Rohre an der Decke des Raumes hindurchschimmern sah. „Bin ich geheilt? Kann ich gehen?“
Die Frau antwortete nicht. „Wer hat dich so zugerichtet?“
„Ein Dämon. Er ist tot.“ Die bittere Enttäuschung, die noch immer ihre Brust einschnürte, war so stark, dass es wehtat. „Bin ich geheilt?“
„Dein Körper ist geheilt. Für den Moment zumindest.“ Wieder legte die Frau ihr eine Hand auf die Stirn. „Dies wird nicht das letzte Mal sein, dass wir uns begegnen.“
Ayla setzte sich auf, und als sie bemerkte, worauf sie gelegen hatte, wurde aus der Enttäuschung doch noch Zorn. Weiches grünes Gras, das sich erschreckend echt anfühlte. „Beleidige mich nicht weiter mit deinen Taschenspielertricks! Ich bin eine Assassine. Ich könnte dich schneller töten, als du blinzeln kannst.“
„Aber das wirst du nicht. Wir sehen uns wieder.“ Die Heilerin zog ihre Hand zurück und strich den Rock des einfachen Gewandes glatt, das sie trug. Ihr Gesichtsausdruck war entspannt und furchtlos. „Du bist in Gefahr.“
Der unwirkliche blaue Himmel über ihr reichte nicht mehr aus, um Ayla ruhig bleiben zu lassen. „Ich bin andauernd in Gefahr.“ Das Gras unter ihren Füßen begann sich aufzulösen, der schwache Zauber, der es erzeugt hatte, konnte dem wahrhaft magischen Elfenblut in ihr nicht standhalten. „Ich werde jetzt gehen. Und ich habe nicht vor, mich weiterhin mit Menschen abzugeben.“
Die Frau blieb ungerührt sitzen, wo sie war. Ayla entfernte sich, sechs, sieben Schritte auf die undurchdringliche Baumreihe vor ihr zugehend, die sich jedoch mitbewegte und immer gleichbleibend weit weg zu sein schien. Sie konnte weder den Ausgang finden, noch überhaupt sagen, wo im Raum sie sich befand. „Wo bin ich?“
„In Sicherheit. Für den Augenblick.“ Die Heilerin drehte sich nicht zu ihr um. „Das ist alles, was du wissen musst.“
Ayla wollte nach ihrem Schwert greifen, musste jedoch feststellen, dass es nicht mehr da war. Die Zwillingsmesser, die sonst in ihrem Gürtel steckten, fehlten ebenfalls. „Gib mir sofort meine Waffen zurück! Lass mich gehen!“
„Ich werde dir den Weg nach draußen zeigen, nachdem du meine Warnung gehört hast.“
Ungehalten ballte Ayla die Hände zu Fäusten, ging jedoch zu der Heilerin zurück. „Gut, ich habe verstanden. Wir werden uns wiedersehen. Bin ich dann verwundet? Ist das die Gefahr, von der du redest?“
Die Frau lächelte milde und klopfte einladend auf den Boden vor sich. Erst als Ayla resigniert dort Platz genommen hatte, sprach sie weiter. „Die Bedrohung, die ich meine, ist viel folgenschwerer, als eine Wunde es je sein könnte. Du hast Feinde. Mächtige Feinde.“
Natürlich machte sie sich durch die Bindung mit Garret nicht nur Freunde, das wusste Ayla. Kindischer Neid war gang und gäbe am Hof, und die Neider würden sich zweifelsohne nur allzu eifrig auf jemanden stürzen, der als Angehöriger der Gilde von einem Tag zum anderen in die bessere Gesellschaft aufgestiegen war. Ganz besonders, wenn es sich dabei auch noch um eine Halbelfe handelte. Doch all das hatte sie in ihre Entscheidung einbezogen.
„Ein Mann mit Flügeln“, sagte die Frau unvermittelt, den abwesenden Blick zum künstlichen Himmel aufgerichtet, als sei sie in einer Art Trance. „Ich sehe einen Mann mit Flügeln. Er plant, dich zu vernichten.“
Sofort tauchte der Darkworlder in Aylas Geist auf. Er war wütend gewesen. So ungeheuer wütend. Und so hilflos. „Es wird ihm nicht gelingen.“
„Doch, das wird es. Wenn du nicht stark genug bist, ihn vorher zu zerstören.“ Die Heilerin machte ein betroffenes Gesicht, im nächsten Moment aber wurde ihr Ausdruck ernst und hart. „Du weißt, was du zu tun hast.“
Was ich schon lange hätte tun sollen. Das, wozu sich mir bereits zweimal die Chance geboten hat. Zweimal. Sie hatte zweimal hintereinander die Gäis gebrochen. Hatte diese Menschenfrau auch das gesehen, während sie von ihr geheilt worden war?
„Lass mich gehen“, flüsterte Ayla, und dieses Mal machte die Heilerin keine Anstalten, sie aufzuhalten. Die Luft um sie beide begann zu flimmern, die Illusionen der grünen Wiese und des Himmels darüber verschwanden wie Rauch, der von einem Windstoß fortgeblasen wurde, und übrig blieb ein karger Raum, der ebenso grau und trostlos war wie der Rest der Unterwelt. Die Frau ging zur Tür, ein schweres Stahlding, das knirschend am Beton kratzte, als es aufschwang, und signalisierte Ayla, dass sie ihr den Vortritt ließ. Der Warteraum sah noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte, in ein gespenstisches lilablaues Licht getaucht, mit fluoreszierenden Symbolen an den Wänden und mehreren auf nicht zusammenpassenden Stühlen hockenden Kreaturen. Sie warfen ihr ungeduldige Blicke nach, als sie an ihnen vorbei auf den Ausgang zueilte.
Kurz bevor sie ihn erreicht hatte, drehte sie sich abrupt um. Beinahe hätte sie vergessen, die Zahlungsmodalitäten zu klären. Die dafür Zuständigen in der Gilde würden angesichts ihrer Wahl zwar die Nase rümpfen – und kopfschüttelnd murmeln, sie hätte in die Lightworld zurückkehren und sich von einem Angehörigen ihrer eigenen Heilergilde behandeln lassen sollen –, aber sie würden die Kosten dennoch begleichen. „Ich werde jemanden schicken, der dich bezahlt“, versprach Ayla, betont aufrecht stehend und stolz das neugierige Gegaffe der niederen Wesen im Raum ignorierend.
Die Frau nickte ruhig. „Du weißt, was du tun musst.“
Ayla wusste es. Und sie würde es erledigen, je früher, desto besser.
Mabbs Wutanfälle dauerten, wenn sie ausbrachen – was oft geschah –, nie besonders lange an. Garret war geübt darin, gelassen zu bleiben, während sie ihr Schlafzimmer verwüstete und ihre seltenen und teuren Parfums in einen Haufen betörend duftender Glasscherben auf dem Boden verwandelte. Für Nachschub war ja bereits gesorgt, in einem oder spätestens zwei Tagen würden die Geschenke neuer Pilgerer, die hofften, so schneller zu ihrer ersehnten Audienz zu kommen, die frisch polierten Regale und Kommoden der Königin füllen.
Die bedauernswerten Spender jedoch brachten diese Gaben ihrem Ziel kein Stück näher. Sämtliche Regierungsgeschäfte der Lightworld kamen komplett zum Stillstand, bis Mabb damit fertig war, sich selbst zu bemitleiden.
„Schwester, du reagierst ein wenig über“, sagte Garret besänftigend, mit dem Herzen allerdings nur halb bei der Sache. „Du kanntest meine Pläne doch.“
„Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass sie sich darauf einlassen würde!“ Mabb ließ sich theatralisch auf die Knie fallen, dazu passend rollten dicke Tränen über ihre schneeweißen Wangen. „Ich hatte nicht erwartet, dich so früh zu verlieren.“
Er ging zu ihr, wollte ihr am liebsten das Genick brechen, umarmte sie jedoch stattdessen. „Mein liebstes Schwesterchen. Nichts hat sich geändert. Du wirst in meinem Herzen für immer an erster Stelle stehen.“ Und ich in deinem an zweiter.
Wie ein kleines Kind hob sie das Kinn und blickte niedergeschlagen zu ihm hoch. „Ich habe unsere Linie zum Aussterben verdammt.“
„Aber nein, das hast du nicht.“ Er strich sanft über ihr Haar, nur mit Mühe dem Drang widerstehend, sie daran zu packen und ihren Kopf nach hinten zu reißen. Es wäre so leicht. Geduld. Geduld.
„Natürlich“, widersprach sie. „Seit hundert Jahren regiere ich hier auf der Erde, nachdem ich vorher schon einmal so lange unser ursprüngliches Reich beherrscht habe. Ich werde nicht alt, aber auch nicht jünger.“ Sie schniefte mitleiderregend. „Ich will ein Kind, Garret. Ich will einen Nachfolger.“
„Wozu solltest du einen Nachfolger brauchen? Du wirst ewig leben.“ Und den Thron für dich allein behalten und auch nicht die geringste Anstrengung unternehmen, die Oberwelt für uns zurückzugewinnen, bis dieses Leben hier unten, wie Zwerge in ihren dunklen, stickigen Minen, uns beide endgültig um den Verstand gebracht hat.
In den Astralreichen war Unsterblichkeit ein nie zu Ende gehendes Fest der Freuden und Genüsse für die Sinne gewesen. Hier, in dieser sterblichen Welt aber, bedeutete sie, in einer Gruft vor sich hin zu vegetieren, und zwar für immer. Nicht einmal in dieser Lage, umgeben von Tod und Verderben, wollten ihre niemals alternden Körper begreifen, dass es besser wäre, wenn sie sich anpassen und ebenfalls dahinwelken und vergehen würden wie alles andere.
Mabb versetzte ihm einen harten Stoß, der ihn das Gleichgewicht verlieren und mitten in den Scherbenhaufen hinter ihm stolpern ließ. Klebriges, süßliches Öl wurde vom Stoff seiner Ärmel aufgesogen, als er seinen Sturz mit den Ellbogen abfing. Jetzt würde er monatelang nach diesem Zeug riechen.
„Du versuchst mich von meinem Platz zu verdrängen!“, kreischte Mabb. „Du denkst wohl, du könntest die Gunst meines Hofstaates gewinnen, indem du ihnen dieses … dieses halbblütige Miststück vor die Nase setzt. Glaubst du wirklich, sie würden so eine als ihre neue Königin akzeptieren?“
Bleib ruhig. Es hat keinen Sinn, mit ihr zu streiten, wenn sie in diesem Zustand ist. „Ich glaube, du interpretierst zu viel in diese Sache hinein. Du weißt genau, dass ich niemals König werden kann, es sei denn, du stirbst. Aber ohne dich könnte auch ich nicht weiterleben. Du bist meine letzte Blutsverwandte.“
„Richtig, du kannst die Macht nicht an dich reißen, weil es in unserer Dynastie keine männlichen Alleinherrscher gibt. Du bräuchtest eine Königin an deiner Seite. Und deshalb willst du an meiner Stelle diese Assassine dazu machen – als deine Marionette.“
Sie stand auf und stolzierte hoch erhobenen Kopfes an ihm vorbei, ihr Haar peitschte dabei hinter ihr wie ein fahles Gespenst, das von einem scharfen Windzug durch die Luft gewirbelt wurde. „Warum sonst solltest du dir eine Gefährtin nehmen wollen?“
„Um Gesellschaft zu haben?“ Garret erhob sich ebenfalls und versuchte gleichzeitig, seine Stimme möglichst ruhig klingen zu lassen. Unter seinen langen Ärmeln quoll Blut hervor und rann am Unterarm hinab. Er schüttelte ihn, um es loszuwerden. „Für mich ist das nicht so einfach wie für dich.“ Er nickte in Richtung der Tapete, die den geheimen Zugang zu Mabbs Gemächern versteckte.
Sie bewegte sich so schnell, dass er keine Chance hatte, ihre Attacke abzuwehren. Zu leicht vergaß er mittlerweile, dass sie in früheren Zeiten zuerst eine Kriegerin gewesen war und dann erst Königin. Ihre langen Finger schrammten über seine Wange und hinterließen brennende Spuren aufgeschlitzter Haut darauf.
„Wie kannst du es wagen!“ Sie schlug noch einmal nach ihm, dieses Mal hatten ihre heimtückischen Krallen es auf seinen Hals abgesehen. „Ich bin deine Königin, nicht irgendeine gewöhnliche Dirne!“
„Meine geliebte Schwester“, er lachte leise und befühlte mit zwei Fingern seinen Hals, um zu sehen, ob er blutete, „du bist in der Tat alles andere als gewöhnlich.“
„Wachen!“, blaffte sie, und seine Schultern versteiften sich unwillkürlich. Sofort kamen vier bewaffnete Wachleute in den Raum gestürmt und bildeten einen Kreis um Garret. Ihre Speere hielten sie in neutraler Stellung senkrecht, doch der Ausdruck auf ihren Gesichtern war hart und unerbittlich.
Mabb schob sich zwischen den beiden hindurch, die direkt vor ihrem Bruder standen, legte eine Hand auf seine Schulter und drückte ihn nach unten auf die Knie. „Nimm dir nur deine Halbelfe. Aber sei dir gewiss, dass sie niemals den Thron besteigen wird. Meine Getreuen würden sie nie und nimmer akzeptieren. Sie werden sie auf gar keinen Fall jemals so sehr lieben, dass sie mich für sie fallen lassen. Und du wirst für den Rest deines endlosen Lebens nichts weiter sein als mein Sklave. Die Erfüllung deiner lächerlichen kleinen Wünsche wird stets davon abhängen, ob ich dir gerade wohlgesinnt bin oder nicht. Und zwar bis in alle Ewigkeit.“
Oder bis du in die Ewigkeit eingehst, dachte Garret vor Wut schäumend. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Später, wenn seine Vermählung mit Ayla vollendet war, wenn der Thron so gut wie ihm gehörte. Und dann, liebste Schwester, wirst du erfahren, was für eine zerstörerische Kraft Ehrgeiz sein kann.
Der Darkworlder musste sterben, bevor sie in die Lightworld zurückkehren konnte. Sie machte sich keinerlei Illusionen darüber, was geschehen würde, sobald sie wieder dort war. Garret, ganz egal, was er ihr auch versprechen mochte, würde zukünftig dafür sorgen, dass sie keine Aufträge mehr bekam, und somit war dies ihre letzte Mission. Und vielleicht war das gar nicht so grauenvoll, wie sie es sich anfangs vorgestellt hatte. Wenn sie keine Assassine mehr war, könnte sie die Schande ihres gebrochenen Schwures eines Tages vergessen, und es bliebe ihr erspart, jemals wieder in diese schmachvolle Situation zu geraten.
Doch vorher musste sie den Darkworlder finden und töten. Das war nicht so einfach, wie es sich anhörte. Die Darkworld zog sich schier endlos hin, eine riesige abzusuchende Fläche, chaotisch, unorganisiert, ohne Wegweiser jeglicher Art, und Ayla hatte keine Ahnung, in welchem Versteck die Todesengel sich wohl verkriechen mochten. Dieser war, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, jedenfalls zu Kleidung gekommen, was bedeutete, dass er irgendwo einen Unterschlupf gefunden haben musste. Sie beschloss, dass der beste Ort, um ihre Jagd zu beginnen, der wäre, an dem sie ihm zuletzt begegnet war.
Die Leichen der Dämonen, die sie abgeschlachtet hatte, lagen noch immer auf dem Boden des Tunnels verstreut, wobei eine von ihnen teilweise von irgendetwas angenagt worden war. Ayla drehte ihr Gesicht von den stinkenden toten Körpern weg und legte eine Hand an die Tunnelmauer. Sie hoffte, vielleicht die Überbleibsel einer Energiespur zu entdecken, die ihr einen Hinweis auf den Verbleib des Darkworlders lieferten.
Etwas Widerwärtiges, unrein und faulig, schoss durch sie hindurch, und sie zog entsetzt die Hand zurück. Was auch immer es war, es konnte nicht vom Darkworlder gestammt haben. Er war harmlos. Sterblich. Und ihn hatte sie schon früher berührt. Seine Energie fühlte sich vollkommen anders an als das eben. Sie war …
Die Erinnerung loderte wie eine Stichflamme in ihr auf, ließ das Blut heiß und pochend in ihre Haut strömen, bis sie glaubte, sie würde jeden Augenblick aufplatzen. Sie riss eines ihrer Messer aus ihrem Gürtel, nur damit sie etwas hatte, worum sie die Finger klammern konnte. Es gab keinen Anlass, sich darum zu sorgen, welche Reaktion die Energie des Darkworlders in ihr auslöste. Er war bereits so gut wie tot. Sobald sie ihn aufgespürt hatte, wäre es ein für alle Mal vorbei mit ihm.
Da auch er die Absicht gehabt hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen, war er sicherlich noch immer auf der Suche nach ihr. Er hatte natürlich nicht bemerkt, dass sie im Verborgenen abgewar tet hat te, bis er an ihr vor bei ge gan gen und weit ge nug ent fernt war, damit sie sich auf demselben Weg aus dem Staub machen konnte, den sie gekommen war. Also würde sie jetzt in die entgegengesetzte Richtung gehen, die, in die sie ihn hatte verschwinden sehen. Vielleicht entdeckte sie eine Fährte von ihm, die nicht von den Ausdünstungen dessen überlagert wurde, was sich hier noch vor Kurzem herumgetrieben haben musste. Und falls sie ihn nicht in ner halb der nächs ten Stun de fand, dann … dann soll te es ihm wohl kaum gelingen, sie zu töten, wenn sie niemals wieder einen Fuß in die Darkworld setzte.
Erzähl es Garret, bekniete sie plötzlich eine ungewohnt ängstliche Stimme in ihr. Erzähl es ihm. Er ist dein Gefährte, es ist seine Pflicht, diesen Darkworlder zu stellen und zu töten.
Ayla schnaubte, wütend auf sich selbst. Garret war nicht ihr Gefährte. Erst wenn sie sein Angebot akzeptiert und mit ihm das Bett geteilt hätte. Aber würde er sie überhaupt nehmen, wenn er wüsste, dass sie die Gäis gebrochen hatte? Sie konnte einfach nicht mit Sicherheit sagen, ob Garrets Gefühle für sie ehrlich waren oder ob er sie lediglich als hübsche Trophäe betrachtete, die er seiner Sammlung hinzufügen wollte.
Sie blickte abschätzig an sich herunter. Sie war keine hübsche Trophäe. Damit, sie zu besitzen, konnte Garret wahrlich niemanden beeindrucken. Trotzdem, seine Zuneigungsbekundungen reichten nicht aus, um das Risiko einzugehen, ihm zu gestehen, dass sie ihren heiligen Schwur vor dem Rat der Elfen gebrochen hatte. Es lag nicht etwa an der Befürchtung, dadurch vielleicht nicht in den Genuss der Sicherheit zu kommen, die Garret ihr bieten könnte. Es gefiel ihr, eine Assassine zu sein. Allerdings hätte es ihr noch mehr gefallen, gäbe es für sie auch nur die geringste Hoffnung, als solche eines Tages in der Rangordnung aufzusteigen. Als Garrets Gefährtin würde man ihr vielleicht eine Tätigkeit als Mentorin zugestehen. Aber sie brauchte Garret nicht, um sich aus ihrem erbärmlichen Leben zu retten. Fände er jedoch heraus, dass sie die Gäis gebrochen hatte, könnte er es Cedric erzählen, dem Gildenmeister, und der würde sie dann womöglich aus der Gilde ausschließen oder gar den Rat dazu veranlassen, sie gleich ganz zu verbannen.
Allein die Vorstellung ließ sie schaudern. Verbannt aus der Lightworld. Sie hatte schon einmal auf dem Streifen gelebt, und solange sie bei Verstand war, würde sie es unter keinen Umständen je wieder dazu kommen lassen.
Wenn du bei Verstand wärest, hättest du diesen Darkworlder gleich beim ersten Mal beseitigt! tadelte sie sich selbst. Doch dieser Fehler sollte ja jetzt bald korrigiert werden.
Sie war weiter gelaufen, als sie ursprünglich vorgehabt hatte, und nun stand sie vor einer Gabelung des Tunnels. Die abstoßende Energie, die sie bereits in der Nähe der Dämonenleichen wahrgenommen hatte, hing schwer in der Luft, knisterte wie eine böse Vorahnung, die Ayla fast körperlich spürbar durch die Glieder fuhr. Falls der Darkworlder hier entlanggegangen war, dann war er inzwischen höchstwahrscheinlich tot.
Etwas in ihr verkrampfte sich bei diesem Gedanken, und ihr Herz begann auf einmal unregelmäßig zu schlagen. Sie gebrauchte den inneren Blick, um den Baum ihrer Lebenskraft in Augenschein zu nehmen. Alles schien in Ordnung zu sein, kräftige grüne Zweige, die sich in ihr emporstreckten, und ebenso starke Wurzeln, die Ayla mit der Erde unter ihren Füßen verbanden. Außerhalb ihres Körpers hingegen tobte ein Schrecken, der kaum zu beschreiben war. Ölige blauschwarze Energiemassen waberten wie schmierige Wasserschlieren vor und über ihr in der Luft umher, bildeten bedrohliche Ringe und Bögen, die sich überall im gesamten Tunnel ausbreiteten. Ayla hatte so etwas schon früher gesehen, viele Male. Succubi und Incubi, zur Gestaltwandlung fähige Dämonen, die sich von der Lust und dem sexuellen Verlangen ihrer Opfer ernährten. Mit ihrer Verderbtheit vergifteten sie alles, das sie berührten, sogar die Luft. Leider waren sie eine häufig auftretende Plage für jeden Assassinen, der in der Darkworld auf Mission war; die Gilde würde ihr für die Eliminierung eines dieser Dinger dankbar sein.
Sie erkundete mit ihren Sinnen die Umgebung, wobei ein wachsendes Unbehagen ihn ihr aufstieg. Es war noch etwas anderes hier, etwas Vertrautes und zugleich Beunruhigendes. Die dunkle Energie hatte ihren Ursprung an einem bestimmten Punkt auf einer der Tunnelwände, durchsetzt von einem sich windenden, immer blasser werdenden Rot.
Schockiert flüchtete Ayla aus dem inneren Blick. Mit ihren Augen allein konnte sie das Wesen nicht ausmachen. Sie formte eine Kugel aus Licht, warf sie in die Richtung, in der sie eben die ekelerregenden Schwaden hatte hochsteigen sehen, und keuchte bei dem Anblick, der sich ihr bot.
Der Todesengel. In sich zusammengesunken, seine sterbliche Haut aschgrau, das Gesicht eine verzerrte Grimasse des Leids. Der Succubus hielt ihn fest umklammert, das gierige Maul des Monsters nur Zentimeter von seinem Mund entfernt, dünne tiefrot leuchtende Schleier aus ihm heraussaugend. Die nackten Beine der Kreatur waren um die Hüften des Darkworlders geschlungen, ihr schuppiger Körper presste sich eng an sein Fleisch.
Ayla hatte das Wesen beim Fressen gestört. Es fuhr herum und fauchte sie an. Imponiergehabe, das den Gegner einschüchtern sollte, damit er das Weite suchte und der Succubus sich weiter in Ruhe an seinem Opfer gütlich tun konnte. Ayla zog eines der Zwillingsmesser aus ihrem Gürtel und sprang, laut schreiend, auf das Ungeheuer zu. Die Lichtkugel über ihren Köpfen erlosch, Sekundenbruchteile bevor sie es erreicht hatte, und es verschmolz mit der Dunkelheit. Es bewegte sich schneller, als Ayla erwartet hatte. Ein kurzes Aufflackern gelber Augen zu ihrer Rechten. Sie wirbelte herum und stach zu. Ein Sprühnebel glühenden gelben Blutes spritzte durch die Finsternis. Es hatte gereicht. Die verwundete Kreatur heulte auf, stürzte und versuchte hastig, auf allen vieren davonzukriechen. Ayla rammte einen ihrer Stiefel in den Rücken des Wesen und drückte es zurück auf den Boden. Als der Succubus seinen Oberkörper ein Stück hochstemmte, hielt Ayla das Messer an seine vorgewölbte Kehle und zog es blitzartig hindurch. Das Ding gab ein gurgelndes Krächzen von sich, dann ein abrupt endendes Zischen. Als die Klinge den Hals des Dämonen durchschnitten hatte, schnappte sein Kopf in Aylas Händen zurück. Mit einem knurrenden Geräusch der Genugtuung zerrte sie daran, bis der weiße Knochen des Genicks schmatzend ein Stück aus dem Schädel rutschte, und durchtrennte die noch verbliebenen Sehnen und Hautfetzen. Dann riss sie den Kopf so weit nach oben, wie sie konnte, und trat mit dem Fuß den Körper von sich weg.
Der Darkworlder blieb währenddessen, wo er war, seine entkräftete Gestalt nur von der Tunnelwand gehalten, an der er lehnte, die Augen zugekniffen, stoßweise atmend, als stünde er kurz vorm Ersticken. Er würde sie nicht angreifen.
Du könntest ihn einfach hierlassen, und er wird ganz von selbst sterben. Davon erholt er sich nicht mehr. Sie schüttelte den Kopf, um den verlockenden Gedanken sofort wieder zu verwerfen. Sie hatte ihn schon einmal in dem Glauben zurückgelassen, er läge ohnehin im Sterben, und dann hatte er wie durch ein Wunder doch überlebt. Wenn sie dieselbe Dummheit jetzt wieder beging, wäre das gleichbedeutend mit einem dritten Bruch der Gäis.
Sie wischte das Messer an ihrer lederbekleideten Hüfte ab. Es kam ihr irgendwie falsch vor, entwürdigend, den Darkworlder mit einer Klinge zu töten, an der noch das Blut seines vorherigen Angreifers klebte. Er stöhnte leise. Sein Kopf kippte nach vorn, und er schwankte, als könne er sich nicht mehr länger auf den Beinen halten.
Ayla fing ihn reflexartig auf, wobei sie aufpasste, ihn nicht versehentlich mit dem Messer zu verletzen, und wunderte sich im nächsten Moment selbst darüber, weshalb sie so vorsichtig mit ihm umging, wo sie ihn doch am Ende ohnehin töten würde.
Kaum dass sie seine Haut berührte, wurde ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie brauchte nicht einmal den inneren Blick einzusetzen, um zu fühlen, wie die grünen Funken ihrer Energie auf die Oberfläche ihres Körpers zustoben, den Kontakt zu seiner Lebenskraft suchend, sich mit ihr vereinigen wollend. Diese Erkenntnis erschütterte sie bis ins Mark. Es kostete sie all ihre Willensstärke, sich wieder von ihm zu lösen, gegen diese glühend heiße Anziehung anzukämpfen, die sie wie mit unsichtbaren Armen zu umschlingen und festzuhalten schien.
Der Darkworlder fiel zu Boden, seine Atemzüge wurden immer schwächer und flacher. Er öffnete die Augen, zuerst nur zu zwei schmalen Schlitzen, doch bei Aylas Anblick weiteten sie sich plötzlich. „Hör auf mit deinen Spielchen, Bestie, und töte mich endlich!“ Diese Worte ließen sie eine Gänsehaut bekommen. Bestie? War es das, was er in ihr sah? Dann durchfuhr ein kurzer, kalter Schauer sie, als sie begriff. Er hielt sie für den Succubus. Was bedeutete …
„Hey!“ Eine menschliche Stimme hallte von den Tunnelwänden wider, und Ayla duckte sich sofort, ging in die Hocke und schlich langsam rückwärts. Der Mensch trug ein seltsames leuchtendes Gebilde auf dem Kopf, das es ihm ermöglichte, in der Dunkelheit seinen Weg zu finden. Als der Lichtschein auf Ayla fiel, blieb er stehen. Sie sah, wie sich sein Adamsapfel in seinem dürren Hals auf und nieder bewegte, als er schluckte. Er hatte Angst. Das sollte er auch.
„Du, bleib wo du bist!“, rief sie in seiner Sprache, und es dauerte einen Moment, bis er reagierte, als hätte er Schwierigkeiten, sie zu verstehen.
„Was zum Geier bist du denn?“ Er kam näher, die Augen zusammenkneifend.
Ayla ballte frustriert die Fäuste. Die Neugierde des Menschen war größer als seine Furcht, und das gefiel ihr nicht. „Es ist unwichtig, was ich bin. Keinen Schritt weiter!“
„Jetzt mach mal halblang, ich bin nur auf der Suche nach meinem Freund gewesen, okay?“ Er drehte den Kopf, und der Lichtstrahl fiel, der Bewegung folgend, auf den Darkworlder. „Ich lass ihn für fünf Minuten allein, und schon passiert so was.“
„Ich habe ihm nichts getan“, versicherte Ayla schnell, ehe sie sich überhaupt fragen konnte, warum sie es für nötig hielt, ihm das mitzuteilen. „Es war ein Succubus.“
Der Mensch beugte sich nach unten, um den Darkworlder an einem Arm zu fassen und hochzuziehen. Er war stark, stärker, als Ayla es einem Menschen zugetraut hätte. „So, so. Tolle Wahl, um zum Schuss zu kommen, Malachi.“
Malachi? Ayla legte eine Hand vor den Mund und befühlte mit den Fingerspitzen ihre Lippen, die den Ton nachbildeten. Was für ein hässliches Geräusch. Malachi.
„He, du. Hilf mir, ihn zu einem Heiler zu bringen.“ Der Mann hielt in seinen Bemühungen, den Darkworlder auf die Füße zu ziehen, inne und sah Ayla auffordernd an. „Ja, dich meine ich, geflügeltes Etwas. Fledermausmädchen? Los, komm in Wallung.“
„Ich kann nicht.“ Töte sie! Töte sie beide, auf der Stelle! schrie eine innere Stimme verzweifelt. Aber die Gelegenheit war vertan, und erneut hatte sie die Gäis gebrochen. Trotzdem konnte sie es unmöglich riskieren, dabei gesehen zu werden, wie sie zwei Darkworldern half, zu einem Heiler zu gelangen, ganz gleich, wie oft sie ihren Schwur noch ignorierte.
Der Mensch seufzte und ließ den Darkworlder vorsichtig wieder zu Boden sinken. „Schon gut, alles klar. Also, was willst du? Zigaretten? Essen?“ Er musterte sie von oben bis unten, das Licht auf seinem Kopf hüpfte dabei auf und ab, sodass Ayla geblendet wurde und mit der Hand ihre Augen abschirmte. „Ein hübsches Shirt vielleicht?“
„Ich will keine Bezahlung von dir. Ich kann euch nicht helfen.“ Sie schickte sich an, zu gehen. Als sie sich wortlos an dem Menschen vorbeischieben wollte, legte der eine seiner dreckigen Flossen auf ihre Schulter.
Innerhalb einer Sekunde fand er sich neben dem Darkworlder im Staub wieder. Der beleuchtete Hut war von seinem Kopf gefallen und schaukelte auf dem Boden hin und her, das gelbliche Licht flackerte ein paarmal über die Tunneldecke, während es langsam auspendelte. Die Augen des Menschen waren weit aufgerissen und voller Furcht auf die Klinge an seinem Hals gerichtet.
Selbst im Angesicht des Todes versuchte der Mensch noch immer, zu verhandeln, damit sein Freund gerettet wurde. „Wenn du mir nicht hilfst, ihn von hier wegzuschaffen, wird er sterben. Und als ich eben zu euch gestoßen bin, sah es für mich nicht so aus, als ob du das willst.“ Sein Blick wanderte zu den leblosen Überresten des Succubus, dann zu dessen Kopf, der nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt lag. „Warst du das?“
Ayla nickte knapp. „Und als Nächstes werde ich … Malachi … töten.“
„Nein, wirst du nicht.“ Der Mensch schluckte langsam. „Wenn du ihn hättest umbringen wollen, wäre er schon lange hinüber.“
Ayla nahm das Messer weg und kniff skeptisch die Augen zusammen.
„Was macht es für dich für einen Unterschied, ob es einen Darkworlder mehr oder weniger gibt?“
„Er ist mein Freund.“ Der Mensch hielt ihr die Hand hin. „So wie wir beide Freunde sein können, wenn du mir jetzt ein bisschen unter die Arme greifst und wir ihn zusammen in Sicherheit bringen. Ich heiße Keller. Nett, dich kennenzulernen.“
„Ayla“, erwiderte sie in ihrer Sprache, ihr Name eine Verschmelzung aus dem Geräusch eines Wassertropfens, der nach einem Platzregen von einem Blatt fiel, und dem leisen Rascheln goldener Weizenähren auf einem Feld. Zumindest hatte Garret es ihr so erklärt. Er kannte die verborgene Bedeutung hinter so vielen Dingen, weshalb sie sein Wissen auch niemals infrage stellte.
Keller verzog einige Muskeln in seinem unvollkommenen menschlichen Gesicht, wodurch er plötzlich sehr verdutzt aussah. Es war ein interessanter Trick, einer, der ihr verriet, wie Menschen es anstellten, ganz ohne Fühler die Emotionen eines anderen erkennen zu können. „Ich glaube nicht, dass ich das aussprechen kann. Du bist eine Elfe, richtig?“
Wieder nickte Ayla schlicht, dieser merkwürdige Mensch und sein unkalkulierbares Verhalten machten sie sprachlos.
„Dann werde ich dich wohl am besten einfach so nennen. Elfe.“ Er setzte sich auf und gestikulierte in Richtung des Darkworlders. „Und jetzt krieg endlich deinen knochigen Hintern hoch und hilf mir.“