4. KAPITEL

Malachi öffnete die Augen, und das Erste, was er wahrnahm, waren ein mechanisches Surren und ein erdrückendes Gewicht auf seinem Rücken. Er lag bäuchlings auf einer harten Platte, die Erinnerung daran, was geschehen war, kam nur langsam zurück. Der Mann im Tunnel, der ihn gestochen und betäubt hatte, seine eigene Angst, als ihm klar geworden war, in was für eine Lage ihn das brachte. Dass er dem, was danach kommen würde, hilflos ausgeliefert sein würde.

Panik ergriff ihn, und es war ein Gefühl, das ihm nicht gefiel. Tatsächlich hatte ihm keine der Emotionen sonderlich gefallen, die er bis jetzt erleben musste. Er ballte die Hände zu Fäusten und stützte sie auf die seltsame Unterlage, auf der er lag, um sich hochzustemmen. Die Kälte des Metalls an den Stellen, wo es nicht von seinem Körper erwärmt worden war, fuhr wie ein eisiger Stich durch seine Finger.

„Halt still, ich bin fast fertig.“ Die Aufforderung klang überraschend ruhig und freundlich, wenn man bedachte, dass der Mann ihn entführt hatte.

Malachi schluckte, sein neuerdings verletzbarer Hals war trocken wie Sandpapier. „Ich habe Durst.“

„Tut mir leid, während der Operation gibt’s nichts zu trinken. Wegen der Hygiene“, antwortete der Mann. Ein dünner bläulicher Schleier zog an Malachis Gesicht vorbei, und als er über den hohen Rand des Tisches schaute, sah er die glimmenden Überreste einer dieser abhängig machenden Papierrollen, nach denen die Sterblichen hier unten ganz verrückt waren. Ständig versuchten sie verzweifelt, genügend davon zusammenzutragen, um ihre Sucht zu befriedigen.

Sterbliche lebten aus zwei Gründen im Untergrund. Entweder sympathisierten sie mit den hierher verbannten Kreaturen, oder sie waren selbst aus der Menschenwelt verbannt worden, weil sie der Magie frönten, mittlerweile ein schweres Vergehen dort oben. Doch welche Umstände diesen Mann nun in den Untergrund verschlagen hatten, interessierte Malachi weit weniger als das, was er da gerade mit ihm anstellte. „Operation? Ich verstehe nicht.“

„Natürlich tust du das nicht.“ Ein weiterer Schub des Surrens, begleitet von einem beißenden Geruch, den Malachi als den versengten Fleisches wiederkannte, unterbrach die Antwort des Mannes für einen Moment. „Deine Rasse, ihr seid ja Geistwesen“, fuhr er dann fort, „braucht keine Reparaturen, zumindest normalerweise nicht. Aber du, du mein Freund … warst in einem ziemlich miserablen Zustand, als ich dich gefunden habe.“

Obwohl die Worte des Mannes fremdartig waren, so erschloss sich Malachi ihre Bedeutung dennoch. Er verfluchte den Menschen innerlich und ließ sich resigniert zurück auf den Tisch sinken. „Du hättest mich sterben lassen sollen.“

„Konnte nicht widerstehen. Ich hatte noch nie das Glück, ein Paar dieser Schönheiten in die Hände zu bekommen. Hör mal, falls du vor mir ins Gras beißen solltest, macht es dir doch nichts aus, wenn ich sie behalte, oder?“ Abermals surrte es, dann sagte er: „Okay, das war’s. Fast so gut wie neu.“

Der Mann ließ von ihm ab, sprang vom Tisch – es musste sein Knie gewesen sein, das so fest auf seinen Rücken gedrückt hatte, überlegte Malachi – und half ihm, sich aufzusetzen. Das Gewicht seiner Flügel riss ihn beinahe gleich wieder um. Sie waren bereits in dem Augenblick viel zu schwer gewesen, als die Umwandlung in einen Sterblichen eingesetzt hatte, doch jetzt hingen sie krumm und schief und sperrig wie zwei Fremdkörper an ihm.

„Was hast du mit mir gemacht?“

„Dir das Leben gerettet. Und deine Flügel.“ Der Mann berührte einen von ihnen, und Malachi machte unwillkürlich ein zischendes Geräusch vor Schmerz. „Na ja, sie werden für ein Weilchen noch ziemlich empfindlich sein, aber das wird schon.“

„Wer bist du? Warum tust du das?“ Malachi rutschte an den Rand des Tisches, setzte vorsichtig die Füße auf den Boden und versuchte aufzustehen, doch seine Beine wollten ihn nicht recht tragen. Grelle Sternchen tanzten in Wellen vor seinen Augen, und der Raum schien mit jedem neuen Sternenhagel dunkler zu werden. Er taumelte rückwärts und knickte die Spitzen seiner Flügel an der Tischkante um.

„Nein, nein, nicht umkippen! Ich kann dich dicken Brocken nicht auffangen, wenn du hinfällst.“ Der Mann stützte ihn am Ellbogen, dann streckte er ihm die andere, blutverschmierte Hand hin. „Keller mein Name. Und ich tue das hier, weil ich es hasse, wenn ansonsten kerngesunde Zeitgenossen wie du wegen Kleinigkeiten draufgehen, die man leicht wieder hinkriegen kann. Du wärst da draußen verblutet. Ich will dir nicht reinreden, was du mit deinem Leben anfangen sollst, aber was mich angeht, ich führe lieber eins, das zu irgendwas gut ist, anstatt alleine in der Kanalisation zu verrecken. Ist wirklich ein Höllenloch, dieser stinkende Irrgarten.“

„Wo bin ich?“ Malachis Sicht wurde wieder klarer, und er blickte sich um. Überlappende Rohre verschiedener Dicke hingen wie ein Gitter an der Decke, und der Mensch hatte sie als Aufhängung für mehrere viel zu helle Lampen benutzt, die ein grauenhaftes, monotones Summen von sich gaben. Die bröckligen Wände waren mit langen Stücken aus Maschendraht bedeckt, wodurch eine Art einfacher Schutzwall entstand. Überall standen Kisten, Stahlschränke und sich unter Bergen von Werkzeugen und Ersatzteilen biegende Tische und Arbeitsbänke.

„Willkommen in meiner Werkstatt“, sagte Keller mit gespieltem Stolz. „Ja, im Kanalisationsdistrikt. Aber hey, die Miete ist spottbillig, und immerhin hab ich ein trockenes Plätzchen erwischt. Du würdest nicht glauben, was es hier für Bruchbuden gibt – die Bewohner müssen in Hängematten schlafen, weil der Schlamm da drin einem bis zu den Knien geht.“

Malachi schwieg dazu. Er hatte viele der Notunterkünfte in der Darkworld von innen gesehen. Alle hier gestrandeten Kreaturen, sterbliche und unsterbliche gleichermaßen, kämpften ums Überleben in einem der unwirtlichsten Teile des Untergrundes, und ihr diesbezüglicher Einfallsreichtum kannte keine Grenzen. Kellers bescheidene Werkstatt wirkte wie ein Palast im Vergleich zu diversen anderen Behausungen, und seine zahlreichen Aufbewahrungskisten ließen vermuten, dass er einen Weg gefunden hatte, an materielle Besitztümer zu gelangen.

„Ich hab dich mit ein bisschen ultraleichtem Aluminium zusammengeflickt. Hat jemand beim Kartenspielen gesetzt, und ich hatte Glück. Es soll mal zu einem Flugzeug gehört haben.“ Keller tätschelte eine der wunden Stellen an Malachis Flügel, und das resultierende metallische Geräusch lenkte ihn von den damit verbundenen Schmerzen ab. Als der Mann sich ihm zudrehte, sodass er direkt vor ihm stand, sah Malachi, dass sein einer Arm vom Ellbogen abwärts komplett fehlte. Ein kompliziertes System aus Metall und bunten Drähten ersetzte den abhandengekommenen Körperteil. Und bei genauem Hinsehen fiel auf, dass auch der Kopf des Mannes bereits eine Reparatur hinter sich hatte. Eine längliche, gebogene, glänzende Metallplatte wand sich um sein Ohr. Keller kratzte sich mit seiner künstlichen Hand daran, als ob er nachdenke, und an der Stelle, wo die beiden Ersatzteile aneinanderrieben, sprühten kleine Funken. „Tja, jetzt weißt du, warum ich nicht auf der Oberfläche wohne und es mir gut gehen lasse wie die anderen Menschen.“

„Ja.“ Es gab nichts weiter darauf zu sagen. Der Mann war eindeutig ein Bio-Mech, ein Wesen, das glaubte, der menschliche Körper sei eine Anhäufung austauschbarer Komponenten, denen der Zahn der Zeit nichts anhaben konnte, wenn man sie nur rechtzeitig erneuerte. Das allerdings entsprach nicht den Vorstellungen des Herrn, wie die zahlreichen Seelen der Opfer fehlgeschlagener Operationen bewiesen, die regelmäßig von den Todesengeln geholt werden mussten.

„Ja. Genau. Ich hab deinen Arsch gerettet, na und? Meinetwegen kannst du zur Hölle fahren“, schnaufte Keller, und erst da wurde Malachi bewusst, dass er ihn angestarrt hatte.

„Ich habe nicht um dein Mitleid gebeten. Ich flehte Ihn an, mich sterben zu lassen, und dies ist das Ergebnis?“ Malachi schüttelte den Kopf. Die Geste kam ganz von allein, merkwürdig selbstverständlich. „Ich gehöre nicht hierher.“

„Ich kann dich jederzeit dahin zurückbringen, wo ich dich vom Fußboden gekratzt habe.“ Keller klang … gekränkt? Es bereitete Malachi solche Schwierigkeiten, Worte, Gesichtsausdruck und Tonfall zu einer sinnvollen Einheit zusammenzusetzen.

„Du bist nicht erfreut.“ Mehr Anteilnahme für die verletzten Gefühle seines Gegenübers konnte Malachi nicht aufbringen. Das Einzige, was ihn im Moment interessierte, war sein ungewohnter sterblicher Körper und der Tod, um den der Mann ihn betrogen hatte.

„Erraten. Ich bin ganz schön angestunken. Du verdankst mir dein Leben.“ Keller drehte sich zu einer seiner Werkbänke um und sortierte einige der Gegenstände, die darauf lagen. „Das ist schon was wert, ob du’s glaubst oder nicht.“ Nach einer langen Pause warf er mit einem lauten Knall etwas offenbar ziemlich Schweres neben den Gerümpelstapel, den er gerade aufgeschichtet hatte. „Was hattest du eigentlich in diesem Tunnel zu suchen?“

Malachi verspürte kein Verlangen danach, diesem Mann sämtliche Einzelheiten der Geschehnisse der letzten Stunden anzuvertrauen. Es war schlimm genug, dass er selbst wusste, was passiert war. Aber der Gedanke daran, nicht darüber zu sprechen, ließ den erdrückenden Kummer, der sein Herz schwer machte, nahezu unerträglich werden, und so formte sein Mund wie von allein die Worte, die er nicht aussprechen wollte, und er hörte sich sagen: „Ich bin gefallen.“

„Ist das nicht schon eine ganze Weile her mit dem großen Fall der Engel? Ich dachte, das wäre damals in biblischen Zeiten gewesen.“ Trotz seiner Fragen schien den Menschen Malachis Geständnis sehr zu beeindrucken.

„Das erste Mal, ja. Aber es geschieht auch heute noch.“ Malachi schloss die Augen. „Ich hatte es nicht beabsichtigt. Es war ein Versehen.“

Kellers Stimme klang wie aus weiter Ferne kommend. „Mann, wenn das kein Pech ist. In der einen Minute bist du unsterblich, und in der nächsten … bist du’s nicht mehr.“

Auf einmal begann alles um Malachi herum sich zu drehen. Er schwankte nach links, dann nach rechts, und es fühlte sich an, als würde er jede Sekunde vom Tisch rutschen. Mit einem erschrockenen Aufschrei hastete Keller an seine Seite. „Leg dich hin, leg dich hin“, wies er ihn an. Mit einem besorgten Stirnrunzeln musterte er Malachis Gesicht. „Du musst dringend irgendwas essen. Und danach gehen wir zum Streifen.“

„Warum?“ Das Wort, das da über seine aufgesprungenen Lippen kam, ergab seltsamerweise gar keinen Sinn für ihn.

„Weil du einen Heiler brauchst.“ Keller verschwand aus seinem Sichtfeld, und Malachi schaffte es nicht, ihm mit den Augen zu folgen. Zu sehr brannten sie bei jeder Bewegung, zu schwer waren seine Lider.

„Da, iss das.“ Der Mensch drückte ihm einen Kanten Brot in die Hand. „Ist nicht viel, aber ich habe eher selten unerwarteten Besuch, den ich bewirten müsste.“

Irgendwie gelang es Malachi beim zweiten Versuch, sich zitternd auf die Ellbogen zu stützen. Nahrungsaufnahme war eine ausgesprochen befremdliche Erfahrung. Das spröde körnige Brot trocknete Malachis Kehle noch mehr aus. Es schmeckte grauenvoll, dennoch konnte er nicht aufhören, sich ein Stück nach dem anderen davon in den Mund zu stopfen, krampfhaft bemüht, die schmerzhafte Leere in seinem Bauch zu füllen. Er verschluckte sich, und Keller legte ihm beruhigend seine echte Hand auf die Schulter. „Hey, hey, mach langsam. Hier hast du was zum Runterspülen.“

Malachi griff nach dem Becher, der ihm vor die Nase gehalten wurde, und trank gierig. Jetzt fühlte er sich plötzlich anstatt hohl und leer unangenehm prall gefüllt, und er wünschte, der Mensch hätte ihm niemals etwas zu essen gegeben.

Keller nahm den Becher zurück und tippte mit einem Finger dagegen. „Siehst du, gutes, sauberes Wasser, nicht? Du hast Glück, an jemanden mit Beziehungen geraten zu sein.“

„Ich bin noch immer durstig.“ Malachi streckte die Hand nach dem Trinkgefäß aus, doch Keller hielt es blitzschnell außer Reichweite.

„Nicht jetzt. Manchmal, wenn Leute fast verhungert sind, dann verputzen sie so viel auf einmal, sobald es was gibt, dass sie …“ Er winkte ab. „Sagen wir einfach, du würdest dich damit in noch größere Schwierigkeiten bringen, als du sowieso schon hast.“

Ein heftiges Ziehen fuhr von oben nach unten durch Malachis Oberkörper, als würde er mit einem Schwert in zwei Hälften zerteilt. „Wo ist … wo ist dieser Heiler?“

„Auf dem Streifen.“ Keller schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an, wie um seine Größe abzuschätzen. „Aber wir sollten dir besser was anziehen.“

„Ich trage keine Kleidung.“ Als er noch ein Engel gewesen war, hatten sich sämtliche Gewänder, die er benötigte, ohne sein Zutun aus reiner Energie materialisiert. Echte Dinge, insbesondere raue Stoffe, stellte er sich schrecklich lästig und unbequem vor.

„Kann sein, aber, wie soll ich das jetzt sagen … Du siehst ein klein wenig menschlicher aus als früher.“ Keller ging zu einem der Schränke und zog eine Kiste heraus. „Zum Glück hab ich kürzlich diesem Typen in der Bar ein paar Klamotten bei einer Wette abgeknöpft. Der Typ war kleiner als du und ein bisschen schmaler. Aber es gibt halt nicht viele Menschen, die deine Statur hätten.“

„Gib mir, was notwendig ist, und dann bring mich zu dem Heiler.“ Falls er wider Erwarten diesen Ausflug überleben sollte, würde ihm eben ein anderer Weg einfallen zu sterben.

„Und? Wie ist das Ganze passiert? Ich meine, wie kann ein Engel aus Versehen fallen? Eigentlich, sollte man denken, ist das doch etwas, wofür derjenige sich bewusst entscheidet, oder?“ Kellers Stimme wurde durch die Kiste gedämpft, in die er halb den Kopf hineingesteckt hatte. Hin und wieder warf er etwas über seine Schulter.

Seine Erinnerung an den folgenschweren Vorfall war lückenhaft, doch ein Detail flackerte augenblicklich in seinem Geist auf. Ein hellrotes Leuchten. Waren da Flammen gewesen? Nein, es war … eine Elfe.

Wut stieg in ihm hoch. Das erste Gefühl, an dem er Gefallen fand. Es ließ die eben noch verwischten Bilder der vergangenen Stunden glasklar werden, und es gab allem einen Sinn. Er konnte nicht nach einer Möglichkeit suchen, sein Leben zu beenden. Nicht, solange er diesen Zorn in sich wachsen spürte, der ihn dazu antrieb, die Elfe zu jagen, die ihm seine Unsterblichkeit gestohlen hatte, und sich an ihr zu rächen. Falls Menschen jedes Mal solche Erregung fühlten, wenn ihnen jemand ein Unrecht angetan hatte, dann beneidete er sie vielleicht doch ein wenig.

„Hallo? Kumpel?“ Keller musste ihn bereits einige Zeit angestarrt haben. Malachi hatte keine Ahnung, wie lange.

Aber er wusste genau, was er als Nächstes tun würde.

„Bring mich zu dem Heiler.“