18. KAPITEL

Die Tür zu ihrer Zelle öffnete sich, doch der Gang dahinter war keiner der feuchten stickigen Gefängnistunnel. Vor ihr tat sich ein sauberer Korridor mit hellgrauen Steinwänden auf. Sie stand mit zitternden Beinen auf und trat, noch nicht recht daran glauben könnend, hinaus in die Freiheit. Von der anderen Seite des Korridors aus fiel Licht herein. Wunderbares Sonnenlicht, wie Ayla es bisher nur durch die oberen Gitter im Refugium gesehen hatte, und Sand, so blendend hell, dass sie ihre Augen abschirmen musste, als sie näher heranging.

Hinter dem Strand tauchte langsam ein blauer Streifen auf. Wasser. Das offene Meer, seine Farbe nur wenig intensiver als die des Himmels darüber, aber umso unbändiger und geheimnisvoller in seiner brachialen Gewalt, mit der es ans Ufer brandete.

An der Küste stand eine Frau. Groß und schön, ihr langes Haar hatte beinahe denselben Ton wie der Sand zu ihren Füßen, und ihre Haut war so weiß wie der sich auf den Wellen kräuselnde Schaum. Sie trug ein schneeweißes mehrlagiges Gewand, das zusammen mit ihrem Haar im Wind flatterte. Sie drehte den Kopf und ihren vollen schwangeren Körper in die Richtung, aus der die Brise vom Meer herüberwehte, die Arme ausgestreckt. Als Ayla aus der Felsenhöhle trat, wandte sie sich um und winkte sie zu sich.

„Wo bin ich?“, fragte Ayla, viel schneller dicht neben der Frau stehend, als sie erwartet hatte.

Die Frau breitete erneut ihre Arme in den Wind aus, ihre Wange rosig durch den feinen Sand und die salzige, frische Luft. „Es ist die See.“

Ayla hatte davon gehört, Darstellungen des Ozeans auf Wandbildern und Gemälden gesehen. Dass die andere Frau sie für so weltfremd zu halten schien, ließ sie sich dumm vorkommen, und das machte sie wütend.

„Das weiß ich. Warum bin ich hier?“

„Weil an diesem Ort alle Dinge ihren Anfang finden. Und ihr Ende.“ Die Frau schloss die Augen und lachte leise. Irgendwo in der Ferne schrie eine Möwe. Oder …

„Malachi leidet.“ Beunruhigung stieg in ihr hoch. „Ich muss zu ihm.“

„Er hat seinen Anfang und sein Ende.“ Die Frau nickte und lächelte wissend. „Aber das wusstest du bereits.“

„Du sprichst in Rätseln, wie immer.“ Doch war dieser Ausspruch nicht auch ein Rätsel? „Geh, Mutter. Ich will nicht über mein nahes Ende sprechen.“

„Was macht dich so sicher, dass dein Ende bald gekommen ist?“ Der Wind legte sich plötzlich, die Wasseroberfläche kam zur Ruhe. Die Frau nahm Aylas Hand und legte sie auf den Bauch ihrer Tochter. „Vielleicht bist du hier, weil ein neuer Anfang bevorsteht.“

Das Tosen der Wellen setzte wieder ein, und sie begannen die Gestalt zweier gesichtsloser Körper anzunehmen, die sich gemeinsam bewegten, als seien sie eins, sich ineinander verschlangen, auseinanderstoben. Bei diesem Anblick fing Aylas Nacken an zu kribbeln. Sie dachte daran, wie ihr physischer Körper ebenso vibriert hatte wie der Baum der Lebenskraft in ihrem Inneren, als sie mit Malachi zusammen gewesen war.

Und dann wechselte sie ohne ihr Zutun zum inneren Blick und sah es: eine winzige glimmende rote Frucht am Stamm ihres Baumes. Ein zartes, unscheinbares Licht nur, kaum entwickelt und schutzbedürftig. Aber es war da.

„Was ist das?“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ayla wusste, was es war, ohne dass die Frau es ihr hätte sagen müssen.

Und sie wusste es ebenfalls. Sie drehte sich wieder dem Meer zu, blickte in die beruhigende Weite hinaus. „Eines Tages wirst du zurückkehren. Wie auch deine Tochter es tun wird.“

In diesem Augenblick wachte Ayla auf, in der Dunkelheit, am Boden ihrer Zelle zusammengekauert. Sie schluchzte leise. Denn im inneren Blick war ihre Tochter noch immer da.

Den Darkworlder zu foltern hatte ihm nicht so viel Vergnügen bereitet, wie Garret gehofft hatte. Die Kreatur war nicht böse. Auch nicht durch und durch gut. Sie war schlicht lebendig. Sterblich und Schmerzen fürchtend, reagierte das Wesen in ermüdend vorhersagbare Weise auf jeden Stich und jede Verbrennung.

Er hatte es schon vor Stunden aufgegeben, und nun stand er in seiner neuen Residenz – einem im Palast befindlichen, geräumigen Apartment, das für den Gefährten der Königin vorgesehen und in Mabbs Amtszeit nie benutzt worden war –, mit nacktem Oberkörper, während eine liebreizende junge Dienerin ihn von Blut und Schmutz befreite.

„Ich muss zugeben“, sagte er zu ihr, mit den Fingern die Haarlocke streifend, die unter ihrer einfachen weißen Haube hervorschaute, „dies ist das wohltuendste Bad, das ich seit langer Zeit genossen habe.“

Sie blieb stumm, aber ihre Fühler glühten in einem nervösen Rot.

„Es lässt mich beinahe den Schmerz meines schrecklichen Verlustes vergessen.“ Er griff nach ihrer Hand, mit der sie gerade den Schwamm über seinen Bauch gleiten ließ, und schob sie energisch abwärts, auf seinen Hosenbund zu. „Beinahe. Willst du mir nicht dabei helfen, ihn vollends zu vergessen?“

Die Tür ging auf, und die Zofe sprang auf, ihre Scham und Verunsicherung standen ihr ins Gesicht geschrieben. Eine Wache kam herein. „Gildenmeister Cedric mit einem dringenden Anliegen.“

Cedric. Er erwies sich mehr und mehr als ausgesprochen lästiges Element. Garret zog seine Robe hoch und schlüpfte in die Ärmel. „Gut, aber schnell. Es gibt noch andere Dinge, um die ich mich kümmern muss.“

Der Gildenmeister trat ein, verbeugte sich und sagte: „Ich bin hier, um mit Euch über die Königin zu sprechen.“

Sofort wünschte Garret, er hätte ihn gar nicht erst empfangen. „Welche? Mabb oder meine Gefährtin, die sie auf dem Gewissen hat?“

Cedric kam langsam näher. „Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht daran, dass Ayla Eure Schwester getötet haben soll.“

„So, tatsächlich?“ Desinteresse vortäuschend, ging Garret zu dem kleinen Beistelltisch neben seinem Bett und nahm einen Schluck aus dem halb leeren Kelch, der daraufstand. Dabei überlegte er, ob er besser mehr Wein hätte bringen lassen sollen, vielleicht mit einer Prise Wermut darin, das würde es ihm sicher erleichtern, diese widerspenstige kleine Dienerin gefügig zu machen. „Eine recht abwegige Mutmaßung, wenn man die Zahl der Zeugen bedenkt, die alle beobachtet haben, wie meine Gefährtin Mabbs Privatgemächer betrat, aber keiner von ihnen sah sie wieder herauskommen. Sie können beschwören, dass sie die Letzte gewesen ist, die mit meiner Schwester vor ihrem Tod zusammen war – allein.“

„Ah, aber war sie zugegen, als die Königin gefunden wurde?“ Cedric schien nicht vorzuhaben, sich so leicht abwimmeln zu lassen. „Wenn die Aussagen der Zeugen stimmen, dass sie den Palast den ganzen Abend nicht verlassen hat, dann hätte sie doch noch dort sein müssen, als man Mabbs Leiche entdeckte.“

„Wie kommst du zu dieser Schlussfolgerung?“ Er versuchte Zeit zu schinden. Cedric musste es ebenfalls bemerkt haben, und Garret hätte sich selbst dafür ohrfeigen können.

„Einfache Logik. Niemand hat sie fortgehen sehen, also muss angenommen werden, dass sie auch nicht gegangen ist. Ergo müsste sie sich in den Räumen der Königin befunden haben, als man diese tot auffand. Da zu diesem Zeitpunkt von ihr aber jede Spur fehlte, besteht die Möglichkeit, dass sie den Palast doch irgendwie verließ, bevor der Mord geschah.“ Cedric drehte sich um und ging auf die Tür zu, dann blieb er stehen und sah Garret ernst an. „Denkt gut darüber nach, ehe Ihr Eure Entscheidung trefft. Ich habe Ayla gesehen, und jeder, der in ihrer Nähe den inneren Blick einsetzt, weiß, dass in ihr ein neues Leben heranwächst. Sie hinzurichten und mit ihr den eigenen Nachkommen auszulöschen wäre überaus bedauerlich.“ Der laute Knall, mit dem er beim Verlassen des Zimmers die Tür hinter sich zuschlug, war wie eine wortlose Bekräftigung dessen, was er in seiner Position eigentlich gar nicht hätte so offen aussprechen dürfen.

„Wenn das dann alles wäre“, sagte die Dienerin hastig und versuchte schnell an Garret vorbeizuhuschen.

Aber nicht schnell genug. Seine Finger schlossen sich um ihr Handgelenk, sein Griff war viel zu hart, das wusste er, hart genug, um einen blauen Fleck zu hinterlassen. Er sah lächelnd auf sie herab in ihr angsterfülltes Gesicht, wie berauscht von der Macht, die ihre Furcht ihm über sie gab. „Aber nein. Das wäre selbstverständlich nicht alles.“

Es war das Knarren der sich öffnenden Zellentür, von dem Ayla einmal mehr aufwachte. Ob es Tag oder Nacht war, das konnte sie nicht sagen. Nur etwas mehr als vierundzwanzig Stunden in fast völliger Dunkelheit hatten ausgereicht, um sie jegliches Zeitgefühl verlieren zu lassen.

„Hoch mit dir.“ Ein Stiefeltritt, um der Aufforderung den nötigen Nachdruck zu verleihen. Nachdem sie sich an die Finsternis gewöhnt und eine Weile darin zugebracht hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, dass sie nicht länger das jämmerliche Häufchen Elend sein würde, das man hier gefangen hielt. Nein, ab diesem Moment war sie zu einer Rachegöttin geworden, die sich jede Misshandlung und jedes Unrecht ganz genau merkte, auf den richtigen Augenblick wartend, in dem sie zurückschlagen und Vergeltung üben würde. Sie stand auf und sah dem Wärter fest in die Augen.

Er ließ sich von ihrem vernichtenden Blick nicht beeindrucken, und das enttäuschte sie. „Der König wünscht dich zu sehen.“

Der König. Mabb war kaum tot, und schon zeigte Garret sein wahres Gesicht. Warum hatte sie dies nicht früher erkannt?

Sie konnte es nicht, wurde ihr klar, als der Wärter ihre Hände auf dem Rücken fesselte und sie aus der Zelle zerrte, weil sie selbst keine solche Neigung zur Heimtücke in sich trug. Schon zu Anfang argwöhnisch zu werden, Garret zuzutrauen, dass er den Tod seiner Schwester herbeiwünschte und ihr das Zepter aus den noch nicht einmal kalten Händen reißen würde, setzte voraus, sich vorstellen zu können, so etwas selbst zu tun. Hätte sie jemals ernsthaft über die Möglichkeit nachgedacht, die Königin könne eines Tages nicht mehr da sein, hätte diese Aussicht sie in Angst und Schrecken versetzt. Nur wenn sie sich stattdessen ausgemalt hätte, welche Vorteile ihr dies brächte, wäre sie in der Lage gewesen, Garret zu durchschauen, mit einer Klarheit, die alles, was der innere Blick über einen anderen zu verraten mochte, in den Schatten stellte.

Als man sie festgenommen und in den Kerker geschafft hatte, war ihr eine Kapuze über den Kopf gezogen worden. Vermutlich, damit sie, falls ihr die Flucht gelingen sollte, nicht aus dem Labyrinth hier unten herausfinden könnte. Dieser Wärter aber machte sich nicht die Mühe.

Vielleicht war es nicht vorgesehen, dass sie wieder in ihre Zelle zurückgebracht wurde.

„Ich werde nicht den Tod eines Verräters sterben“, sagte sie mit erhobenem Kinn. Den Wärter würdigte sie keines Blickes. Eine Königin ließ sich nicht dazu herab, ihre Untergebenen anzusehen.

Die Gänge waren lang und verschlungen, ihre Wände nicht aus Beton, sondern aus nackter brauner Erde, weil auf Mabbs Geheiß hin der königliche Kerker in der Tiefe, noch unter den Tunneln der Menschen, ausgehoben worden war.

Wenn sie nicht haufenweise Feinde gehabt hätte, wäre es vielleicht nicht notwendig gewesen, ein so riesiges Gefängnis zu bauen, spottete eine kalte herzlose Stimme in Aylas Geist. In der Vergangenheit hätte sie ihre Gedanken sorgfältig kontrolliert und letztlich ein gewisses Mitgefühl für die Königin empfunden, die wohltätige Königin, die so viel für ihr Volk getan hatte. Jetzt, nachdem sie die Wahrheit hinter den Lügen und der aufgezwungenen Götzenanbetung erkannt hatte, mit der sie von der Gilde vollgestopft worden war, versuchte sie nicht mehr, diese innere Stimme zu unterdrücken. Was sie ihr zuflüsterte, könnte eine durchaus nützliche Erkenntnis sein. Mach dir keine Feinde, und du musst dich nicht darum sorgen, eines Tages dasselbe grauenvolle Ende zu finden wie die selbstsüchtige, paranoide Mabb.

In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie beabsichtigte, ihren rechtmäßigen Platz als Königin einzunehmen. Und dieser Wille war nicht erst jetzt aufgekommen, in diesen wenigen Minuten, die ihr noch blieben, bevor sie, dessen war sie sich sicher, hingerichtet würde, sondern er war schon ihr ganzes Leben lang da gewesen.

Garret aber war in ihrer Vision nie vorgekommen.

Als sie eine große Doppelflügeltür erreichten, stellte Ayla zu ihrer Überraschung fest, dass sich dahinter nicht, wie sie erwartet hatte, der Palasthof befand, wo, unter dem Jubel einer aufgebrachten Menge, die Hinrichtungen vollzogen wurden. Stattdessen taten sich vor ihr die glänzenden mit Wandgemälden geschmückten Hallen des Palastes auf. Sie öffnete den Mund, um den Wärter zu fragen, was das zu bedeuten hatte, dann aber erinnerte sie sich an ihren Entschluss, ihn nicht zu beachten, und folgte ihm einfach schweigend.

Sie waren ganz allein, sonst war weit und breit niemand zu sehen. Ayla fragte sich, ob es womöglich mitten in der Nacht sei und alles schlief oder ob die kollektive Trauer die Höflinge davon abhielt, ihren üblichen Vergnügungen zu frönen. Sie konnte das Bild förmlich vor sich sehen, wie sie dicht gedrängt um ihre aufgebahrte dahingegangene Königin standen, einer gramgebeugter als der andere.

Diese widerwärtige Scheinheiligkeit würde sie nicht tolerieren.

Sie durchquerten die große Halle der Gilde, diverse Vorräume und schließlich den Thronsaal. Just als Ayla anfing, ernsthaft zu denken, der Wärter habe sich wohl verlaufen, blieb er vor einer einzelnen Tür am Ende eines Korridors stehen. Er klopfte an, nervös den Korridor hinunterschauend, und als sich die Tür öffnete, schob er Ayla ohne großes Aufheben rasch ins Innere des dahinterliegenden Raumes.

Der war hell erleuchtet, das Licht wurde von summenden Röhren erzeugt, offensichtlich gespeist durch die rostigen Metallkästen, die an den Wänden hingen. Ein langer Tisch – wahrscheinlich ebenfalls eine Hinterlassenschaft der Menschen – dominierte das Zimmer, und an ihm saßen sechs Elfen, die Ayla noch nie zuvor gesehen hatte, alle in identische Roben gekleidet, und zwei, deren Gesichter Ayla nur allzu bekannt waren: Cedric und Garret.

„Setz dich, Ayla“, forderte Cedric sie mit einem freundlichen Lächeln auf. „Wärter, nimm ihr die Fesseln ab, sie ist keine Bedrohung für uns.“

„So wie sie für meine Schwester keine war?“, murmelte Garret missmutig, und einer der anderen Elfen nickte zustimmend.

Das Gesicht des Gildenmeisters verriet ein kurzes Aufflackern von Verärgerung. „Wir waren uns doch einig, dass dieses Treffen auf eine zivilisierte Weise vonstattengeht, Eure Majestät.“

Der Wärter zog zähneknirschend die Stricke herunter, mit denen Aylas Hände gefesselt waren, so grob, dass sie schmerzhaft an ihren wunden Handgelenken scheuerten. Sie zuckte zusammen, doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf ihr Äußeres gezogen. Die edle Robe, die Garret trug, ließ ihr schlabbriges und verdrecktes Menschenhemd umso schäbiger erscheinen und die dicken Ringe an seinen Fingern ihre eigenen, blutverkrusteten Hände nur noch abstoßender. Sie fummelte erfolglos an ihrem verfilzten Haar herum, um es wenigstens einigermaßen wieder in Form zu bringen, und wurde ganz klein in ihrem klobigen Holzstuhl. Doch im nächsten Moment erinnerte sie sich daran, welchen Status sie innehatte, richtete sich kerzengerade auf und bedachte jeden der Elfen mit einem herablassenden Blick.

„Eure Hoheit“, begann Cedric, jetzt an Ayla gewandt, „dies sind die Mitglieder des persönlichen Konzils der Königin. Es geschah auf ihren Wunsch hin, dass Ihr aus der Gefangenschaft entlassen wurdet, bis Mabbs tragischer Tod vollständig aufgeklärt werden konnte.“

Verwirrt blinzelnd sah Ayla zu Garret hinüber. Bevor sie etwas sagen konnte, winkte er missmutig ab. „Lass dir nicht einfallen, mir zu danken. Wenn es nach mir gegangen wäre, würdest du nach wie vor im Kerker sitzen, wie jeder andere gemeine Mörder auch.“

Obwohl sie fest damit rechnete, dass ihre Stimme sich wie das quietschende Scharnier einer alten Tür anhören würde, spie sie ihm entgegen: „Ist deine innige Liebe zu mir also so plötzlich erloschen, ja? Wo du mich noch vor wenigen Tagen verfolgt hast wie ein liebeskranker Gockel?“

Garret schoss hoch, schlug mit den Fäusten auf die Lehnen seines Stuhls und funkelte sie wutentbrannt an.

„Ah, das ist der Garret, den ich kenne!“ Ayla stand ebenfalls auf, ein hysterisches Lachen in ihrer Brust anschwellend. Es brach wie eine Explosion aus ihr heraus, wild und hasserfüllt. „Hier, auf meiner Wange, könnt ihr den Beweis seiner großen Zuneigung sehen!“

„Hinsetzen! Alle beide!“, brüllte Cedric, dann jedoch, sich seines jetzt niedrigeren Ranges erinnernd, verbeugte er sich entschuldigend. „Verzeiht, Eure Gnaden. Aber dies ist eine prekäre Situation, in der wir uns nicht von unseren persönlichen Gefühlen beeinflussen lassen dürfen.“

„Prekäre Situation? Was ist daran prekär, fälschlich des Mordes bezichtigt zu werden?“ Ayla schluckte hart. Ihre Kühnheit ließ sie von einer Sekunde zur anderen im Stich, und ihre Hände fingen an zu zittern.

Eines der Konzilmitglieder ergriff das Wort, eine weibliche Elfe mit verkniffenem Gesicht, die das Schauspiel, das sich eben vor ihren Augen zugetragen hatte, zutiefst anzuwidern schien. „Unser Reich kann nicht ohne Königin sein. Mabb war unser Bollwerk, und mit derselben Geschwindigkeit, wie sich die Nachricht ihres Todes verbreitet, steigt auch die Gefahr, dass feindliche Völker der Lightworld uns angreifen, um die Macht an sich zu reißen. Wir haben keine Wahl und keine andere weibliche Thronfolgerin.“

„Grania hat recht, uns bleibt nichts weiter übrig, als die Königin freizulassen und offiziell in ihr Amt einzuführen“, stimmte ein Zweiter zu, ein rundlicher rotbäckiger Elf, der sich mit einem Ärmelzipfel ein paar Schweißtröpfchen von der Stirn wischte.

„Uns bleibt nichts weiter übrig?“ Garret drosch abermals auf seine Armlehne ein. „Aus welchem Grund sollte ich nicht die Regentschaft übernehmen können? Durch meine Adern fließt königliches Blut, nicht durch ihre!“

„Sie ist Eure Gefährtin“, rief Cedric ihm besonnen ins Gedächtnis. „Wenn Ihr die Möglichkeit, dass sie eines Tages Königin werden könnte, nicht in Betracht gezogen habt, war dies ein Mangel an Voraussicht Eurerseits.“

Ein weiteres Mitglied des Konzils meldete sich zu Wort. Ihre kobaltblauen Augen standen in faszinierendem Kontrast zu ihrer weißen Haut, die Art, wie ihre Fühler sich bewegten, ließ auf einen scharfen Verstand schließen. Ihre Gestalt war schmächtig, zart wie die eines Kindes, doch sie sprach mit einer Nachdrücklichkeit, die Ayla überraschte. „Das Reich braucht eine Königin. Die Erbfolgestatuten besagen eindeutig, dass die zur Herrschaft befähigte Person ebenso dazu befähigt sein muss, einen Nachfolger zu gebären.“

„Mabb war offensichtlich auch nicht in der Lage, einen Nachfolger zu gebären, und trotzdem habt ihr sie über Jahrhunderte hinweg weiterregieren lassen“, ereiferte sich Garret. „Und davon einmal abgesehen hat diese … Verräterin sich einem Darkworlder hingegeben! Die Herkunft jedes möglichen Nachfolgers, den sie zur Welt bringt, wäre demnach stets als höchst zweifelhaft anzusehen.“

„Besser ein Nachfolger zweifelhafter Herkunft als überhaupt keiner“, warf die erste Elfe ein, ihren König mit ihren verschlagenen Augen sondierend. „Das müsst Ihr zugeben, gerade in Eurer Position.“

„Dann ist es beschlossen, dass Ayla bis auf Weiteres den Thron besteigen wird? Dass sie die wahre und rechtmäßige Königin ist und alle Vorwürfe gegen sie vorerst ruhen, bis eine umfangreiche Untersuchung des Falles abgeschlossen werden konnte?“ Cedric sah eindringlich in die Runde, während er sprach, als könne er die Konzilmitglieder durch bloße Willenskraft dazu bewegen, seinem Vorschlag zuzustimmen.

„Darüber sind wir uns nicht alle einig“, erhob sich eine Stimme über die gemurmelten Einwilligungsbekundungen. Es war der Elf, der direkt neben Garret saß. Sein Körperbau schmal und scharfkantig wie die Klinge eines Schwertes, das Gesicht von einer langen gebogenen Nase dominiert und die Haare so tiefschwarz und glänzend, als bestünden sie aus getrockneter Lackfarbe. Er warf Ayla einen geringschätzigen Blick zu und sprach dann das Konzil an. „Falls diese … Gerüchte hinsichtlich der Untreue der neuen Königin wahr sind, plädiere ich dafür, dass sie zwar im Palast verbleiben, aber unter Hausarrest gestellt werden sollte. Wir können nicht riskieren, dass unser Ansehen in der Lightworld durch sie weiteren Schaden nimmt.“

„Ich bin derselben Meinung wie Llewellyn.“ Diese Stimme gehörte zu der kleinen unerschrockenen Elfe, die es gewagt hatte, Garret über die Erbfolgestatuten zu belehren. „Wenngleich aus anderen Gründen. Solange wir mit einem möglichen Angriff eines der uns feindlich gesinnten Völker rechnen müssen, ist es für unsere neue Königin sicherer, den Palast nicht zu verlassen.“

Eine hitzige Diskussion entbrannte. Binnen kürzester Zeit hatte sie eine Lautstärke erreicht, die für Ayla kaum noch zu ertragen war, und am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten und die Streithähne angeschrien, sie sollten endlich aufhören. Stattdessen war es Cedric, der die aufgebrachten Kontrahenten zur Ordnung rief.

„Es ist also entschieden. Zu ihrer eigenen Sicherheit wird der Königin ein Ausgehverbot erteilt, davon abgesehen jedoch nimmt sie ihren rechtmäßigen Platz an der Seite ihres königlichen Gefährten hier im Palast ein.“

„Wenn sie wüsste, wo ihr Platz ist, hätte sie wohl kaum für einen Darkworlder die Beine breit gemacht“, stichelte Garret.

Der Blick, mit dem Cedric diese Bemerkung quittierte, war vernichtend, aber er verkniff sich einen Kommentar, denn der wäre sehr wahrscheinlich mehr als nur respektlos ausgefallen. „Gut. Die Versammlung ist somit bis auf Weiteres beendet.“

Ayla blieb schweigend sitzen und schaute, noch immer ungläubig, zu, wie die Mitglieder des Konzils sich nach und nach erhoben und zur Tür strömten. Die Elfe mit der kindlichen Erscheinung musterte sie im Vorbeigehen aufmerksam, ihre wachen Augen registrierten offenbar jedes noch so winzige Detail. Schließlich hatte auch der Letzte von ihnen den Raum verlassen, und Ayla zwang sich, ebenfalls aufzustehen, als auch Garret mit energischen Schritten zum Ausgang marschierte.

Plötzlich blieb er stehen und wirbelte herum, sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt, und zischte: „Wir wissen beide, dass der Bastard, den du in dir trägst, nicht von mir ist.“ Auf einmal war alles anders, und es war so unglaublich schnell passiert. Noch vor wenigen Tagen hatte sie in Garret den einzigen Elfen gesehen, der es wirklich gut mit ihr meinte. Den einzigen, dem sie je etwas bedeutet hatte, der sie aufrichtig liebte.

Jetzt aber stand in dem Gesicht, das einmal voller Stolz und Zuneigung gewesen war, nur noch blanker Hass, und obwohl sie inzwischen seinen wahren Charakter kannte, tat es trotzdem weh.

„So wie wir beide wissen, dass ich es nicht war, die deine Schwester umgebracht hat.“

Irgendwie schaffte sie es, scheinbar furchtlos stehen zu bleiben, auch noch, als er seine erhobene Hand zur Faust ballte und dann, aus dem Augenwinkel Cedric wütend anfunkelnd, aus dem Zimmer stürmte. Doch kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, spürte Ayla, wie ihr schwindelig wurde und sie zu schwanken begann.

Sofort war Cedric bei ihr, um sie zu stützen. „Lasst mich Euch in Eure Gemächer führen, Eure Majestät.“

Sie nahmen nicht den gewöhnlichen Weg zu den Räumlichkeiten der Königin. „Es ist besser, wenn Euch niemand in diesem Zustand sieht, der Aufenthalt im Kerker hat seine Spuren hinterlassen“, erklärte Cedric, als er zielsicher auf eine versteckte Öffnung in der Wand zusteuerte, die Verkleidung entfernte und sorgfältig von innen wieder anbrachte, nachdem er und Ayla in den Geheimgang geschlüpft waren.

Langsam dämmerte ihr, welchem Hauptzweck dieser Gang zu Mabbs Zeiten gedient hatte. „Wer weiß sonst noch hierüber Bescheid?“

Cedric vermied es, ihr in die Augen zu sehen. „Nur die wenigen, die es sollten. Ich kann veranlassen, dass er versiegelt wird, wenn Ihr es wünscht.“

„Darüber werde ich später entscheiden.“ Nachdem sie Gelegenheit gehabt hatte, in Ruhe zu überlegen, ob ihr solch eine diskrete Möglichkeit, ungesehen zu kommen und zu gehen, in Zukunft von Nutzen sein könnte. Zuerst musste sie sich mit ihrer neuen Position vertraut machen und allem, was daranhing. „Cedric?“ Sie legte eine Hand auf seine Schulter, um ihn zu stoppen, kurz bevor sie das Ende des Ganges erreicht hatten. „Könnte ich … wenn ich wollte … kann ich einen Feind der Lightworld begnadigen und ihm seine Strafe erlassen?“

Er zögerte, sein Gesichtsausdruck eine Mischung aus Sprachlosigkeit und unentschlossenem Hin-und-her-Überlegen, was er darauf antworten sollte. Er feuchtete nervös seine Lippen an und sagte: „Obgleich es zweifelsfrei in der Macht Eurer Hoheit läge, wäre es … unklug, irgendetwas zu verfügen, ohne vorher die Zustimmung des Konzils – und des Königs – einzuholen. Ganz besonders in Eurer momentanen Lage.“

„Meine Lage“, wiederholte Ayla mit einem schiefen Lächeln. „Die ich Euch zu verdanken habe. Ob ich Euch dafür danken sollte, weiß ich allerdings nicht.“

Cedric schüttelte den Kopf. „Dazu gibt es keinen Grund. Ich will Euren Gefährten ebenso wenig als Alleinherrscher sehen wie Ihr.“

Ihren Gefährten. Offiziell war Garret noch immer genau das, vollkommen unabhängig davon, was sie jetzt füreinander empfanden. Gut möglich, dass sie einen neuen Rekord aufgestellt hatten, so schnell wie bei ihnen hatte sich wahrscheinlich noch nie zuvor zwischen einem Königspaar Liebe in Hass verwandelt.

Falls sie Garret überhaupt jemals geliebt hatte. Wenn sie bedachte, wie stark im Vergleich die Gefühle waren, die sie für Malachi hegte, war das mehr als fraglich.

„Ich muss mich entschuldigen, Eure Majestät.“ Cedric verbeugte sich rasch, ungewohnt demütig.

Das verstärkte Aylas Niedergeschlagenheit nur noch mehr. „Gestern wart Ihr der Ranghöhere, und heute haltet Ihr es für unangebracht, offen mit mir zu sprechen. Ich hatte immer geglaubt, Ihr seid ein vernünftigerer Mann.“

Ein Lächeln huschte über Cedrics Mundwinkel. „Ihr seid müde, Ayla. Vielleicht ist dies nicht der passende Moment für Glaubensfragen, sondern eher um sich zu sammeln und neue Kraft zu schöpfen.“

Dies war der Cedric, den Ayla kannte. Er half ihr durch die enge Geheimtür, die ins Schlafgemach der Königin führte. Das seltsame Gefühl, mitten durch einen Geist zu gehen, ließ Aylas Haut kribbeln. Nicht den Geist von Mabb, der nach ihrer Ermordung ruhelos in ihrem früheren Heim umherirrte, sondern die unsichtbaren Rückstände der verwirrten, vielleicht sogar verängstigten Ayla, die sie bei ihrem ersten Besuch in diesem Raum gewesen war und die nun mit der neuen Ayla zusammentraf.

„Es gibt etwas, das ich erledigen muss.“ Sie drehte sich zu Cedric um, sich sehr wohl bewusst darüber, welch jämmerliches Bild sie abgeben musste mit ihrem schlabbrigen Hemd und den strähnigen Haaren, jeder Zentimeter freier Haut von angetrocknetem Schmutz bedeckt. Aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen, denn sie befürchtete, Garrets Rache würde nicht lange auf sich warten lassen. „Ich muss in die Darkworld gehen. Dort gibt es jemanden, der in Gefahr ist. Ich kann nicht darauf vertrauen, dass Garret seinen Zorn nicht an ihm auslässt.“

Cedric sah sie an, als hätte sie ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. „Also ist es tatsächlich wahr?“

Für einen Augenblick geriet sie in Panik. Jetzt würde er sie gleich zurückbringen, Garret und das Konzil wieder zusammenrufen und ihnen sagen, dass sie gestanden hatte. Und Garret, in seinem fanatischen Hass auf sie, fände bestimmt einen Weg, die anderen davon zu überzeugen, dass sie, die sich der Kollaboration mit dem Feind schuldig gemacht hatte, ergo auch den Mordanschlag auf die Königin verübt haben musste. Ihr Genick würde unter dem Schwert des Henkers brechen, noch bevor Garret seine Nachmittagsaudienz abhielt.

Aber Cedric war Mabb gegenüber immer loyal gewesen, trotz all ihrer Sünden, und aus irgendeinem Grund spürte Ayla, dass er ihr dieselbe Loyalität entgegenbringen würde. Enttäuscht senkte er den Kopf. „Ich wollte es nicht glauben.“

Sie legte die Hand auf seine Schulter und befürchtete, er würde vor ihrer Berührung zurückweichen. Er tat es nicht. „Es ist schwer zu erklären, welche Ereignisse dazu geführt haben, aber du musst wissen, dass es nie meine Absicht war, die Lightworld zu verraten. Ich habe meinen Eid gebrochen, indem ich es nicht fertigbrachte, den Darkworlder zu töten, das leugne ich nicht. Ich konnte es in jener Nacht einfach nicht tun, und ich könnte es jetzt noch viel weniger. Was ich für ihn empfinde, ändert jedoch nichts an meiner tiefen Verbundenheit zu unserer Rasse.“

„Wie könnt Ihr das sagen?“ Cedric sah sie kummervoll an. „Wie könnt Ihr Euch mit einer Kreatur der Darkworld einlassen und dennoch behaupten, Eurer Rasse verbunden zu sein?“

„Weil ich begriffen habe, dass nicht alle dort unsere Feinde sind. Einige von ihnen versuchen schlicht und einfach zu überleben, so wie wir auch.“ Sie schloss die Augen, inständig hoffend, er würde ihre Verzweiflung spüren und verstehen. „Bitte, ich muss sicherstellen, dass Garret ihm nichts antut.“

Nach einer langen Pause nickte Cedric, aber er schaute ihr dabei nicht in die Augen. „Ihr solltet momentan nicht selbst in die Darkworld gehen. Garret wird Euch auf Schritt und Tritt bewachen lassen. Aber ich werde dasselbe mit ihm tun. Wenn er irgendetwas in dieser Richtung unternimmt, jemanden ausschickt, dann erfahre ich umgehend davon.“

„Danke.“ Ihre müden Glieder bewegten sich wie von selbst auf das Bett zu. Als hätte man ihre Ankunft bereits erwartet, waren frische Laken aufgezogen und alles ordentlich hergerichtet worden. Doch kaum, dass sie sich in die wohlige Weichheit der Federdecke gekuschelt hatte, keimte eine neue Sorge in ihr auf. Solange Cedric in der Nähe war, konnte ihr nichts passieren, auch Garrets Versuche, das Konzil zu beeinflussen, liefen bis jetzt ins Leere, aber er schreckte sicher auch nicht vor Bestechung zurück. Was war also mit ihren Bediensteten? Den Kammerdienerinnen, den Mädchen, die ihre Zofen sein würden? Jede von ihnen könnte sich heimlich hereinschleichen, während sie schlief, und tun, was auch immer Garret ihr aufgetragen hatte.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, nahm Cedric auf einem Stuhl neben der Tür Platz und verschränkte resolut die Arme vor der Brust. „Seid unbesorgt, meine Königin. Ich werde nicht zulassen, dass sich während meiner Amtszeit ein zweiter Mordanschlag ereignet.“

So beruhigt fiel sie in einen tiefen Schlaf.

Doch in ihren Träumen wurde sie schon bald von schrecklichen Bildern heimgesucht. Und die wachsende Sorge um Malachi ließ ihren aufgewühlten Geist nicht zur Ruhe kommen.