12. KAPITEL
Als Ayla zur ihrer Schlafstätte in den Baracken der Gilde zurückkehrte, entdeckte sie, dass ihre Sachen verschwunden waren. Die Kobolde hätten eine Grußkarte hinterlassen, um das Opfer ihres Diebstahls obendrein auch noch zu verhöhnen. Doch dies war nicht das Werk von Kobolden.
„Fehlt dir etwas?“ Garrets Stimme, so warm und freundlich, wie sie es nur sein konnte, fiel Ayla zu ihrem eigenen Erstaunen heute auf die Nerven.
Sicherlich lag es nur an ihrem Ärger darüber, dass man sie so frech bestohlen hatte. Das war alles. „Ich bin gerade zurückgekommen und in meiner Abwesenheit sind all meine Dinge geklaut worden. Meine Laune ist im Moment nicht die beste.“
Garret schlang einen Arm um ihre Hüfte, eine vertraute Berührung, die er sich früher niemals erlaubt hätte. „Vielleicht wurden sie gar nicht gestohlen. Vielleicht hat man sie nur … woandershin gebracht.“ Sein Mund war so dicht an ihrem Ohr, dass sein Atem die Haare an ihrer Schläfe ganz leicht vibrieren ließ.
Woandershin gebracht. Natürlich. Wie hatte sie das Gespräch vergessen können, das sie und Garret vor ihrem desaströsen Abstecher in die Darkworld geführt hatten?
„Ach so.“ Sie versuchte erfreut zu klingen. „Jetzt schon?“
Er drehte sie zu sich, sodass sie ihm ins Gesicht sehen musste. Nur seine Augen verrieten, dass ihre Frage ihn verwirrte, seine Miene hielt er sorgsam ruhig und neutral. „Ich dachte, wir wären uns einig gewesen. Du … hast meinen Antrag doch akzeptiert.“
Genau genommen nicht. Noch nicht. Sie hatte ihm zugesagt, nach ihrer Rückkehr ihr Einverständnis zu geben, aber das hatte sie bis jetzt nicht getan. Und er riss sie einfach aus ihrem Heim, dem einzigen, das diesen Namen zumindest annähernd verdiente, das sie jemals gekannt hatte, ohne sie vorher zu fragen.
„Ich muss jetzt meinen Bericht erstatten. Können wir uns später treffen? Zu Hause?“ Das Wort brannte unangenehm auf ihrer Zunge.
Er lächelte. Höflich. Es erreichte nicht seine Augen.
„Ich habe etwas für uns vorbereitet, und ich will nicht länger damit warten müssen.“
Wenn es jemanden in der Lightworld gab, dem sie einfach nichts abschlagen konnte, dann war es Garret. Und er wusste es und nutzte diese Tatsache schamlos zu seinem Vorteil aus.
„Lass mich wenigstens vorher kurz baden gehen“, versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen, obwohl ihr die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens sehr wohl bewusst war. „Ich bin überall voller Staub und Schmutz.“
Sein Gesicht erhellte sich, als hätte er auf diese Antwort nur gewartet. „Das trifft sich ja ganz hervorragend, denn ich wollte dich ins Refugium ausführen.“
Sie spürte ein kaltes blaues Frösteln durch ihre Adern huschen. Würde sie den inneren Blick gebrauchen, fände sie die Äste ihres Baumes der Lebenskraft wahrscheinlich vertrocknend und winterlich schwarz vor. „So früh?“
Es war eine Tradition. Beabsichtigten Angehörige ihrer Rasse, miteinander eine Bindung einzugehen, dann taten sie dies zuerst den Alten Göttern kund. Aber die waren ja fort, und darum – Aylas Meinung nach völlig unsinnigerweise – erklärten potenzielle Paare ihre Absichten und besiegelten danach ihre Vereinigung stattdessen im Refugium, wo der Legende zufolge die Geister der Alten Götter wohnten.
Garret bemerkte ihr Unbehagen. Es gelang ihm nicht, seinen Ärger darüber vor ihr zu verheimlichen, obwohl er sich nach Kräften bemühte. Seine Fühler zuckten auf die unverwechselbare Weise, wie sie es immer taten, wenn er spürte, dass sie ihm nicht gehorchen wollte. „Ich bin begierig darauf, dass unser Verhältnis zueinander endlich ein tieferes wird als das eines Mentors zu seiner Schülerin, und ich glaubte, dir ginge es genauso. Es sei denn, es hat sich irgendetwas geändert?“
Die Art, wie er das fragte, stellte klar, was er eigentlich damit meinte. Wenn sie ihn abwies, wäre sie eine Närrin. Sie konnte sich nicht umentschieden haben. Als seine Gefährtin stände ihr ein Leben bevor, von dem sie ansonsten nicht einmal zu träumen wagen dürfte, das sie niemals aus eigener Kraft erreichen würde. Und wenn ihr bisheriges Leben in der Assassinengilde sie eines gelehrt hatte, dann war es, wie man überlebte. Es gab weitaus unangenehmere Wege, das zu bewerkstelligen.
„Nein. Ich bin nur überrascht.“ Sie versuchte ein Lächeln aufzusetzen, wie sie es schon oft bei den Damen am Hof gesehen hatte, wissend und zugleich verlockend. Es fühlte sich starr und unnatürlich auf ihren Lippen an. „Ich habe nicht damit gerechnet, den Besuch des Refugiums zu diesem Zweck als Schmutzfink anzutreten.“
Er lachte und legte seinen Arm um ihre Schulter. „Komm. Wir werden einen Boten aussenden, der die Nachricht deiner großen Eroberung überbringt. Und danach gehen wir in unser gemeinsames Zuhause, wo du möglicherweise ja etwas Passenderes zum Anziehen findest, bevor wir uns zum Refugium aufmachen. Ayla, dies ist wirklich der glücklichste Tag für mich, seit ich denken kann.“
Irgendetwas in ihrer Brust hüpfte bei diesem Freudenausbruch. Sie hatte ihn glücklich gemacht. Es kam nicht oft vor, dass sie die Gelegenheit bekam, das für jemanden zu tun. Wenn sie sich an diesem Gefühl festhalten könnte, vielleicht würde ihr das genügen.
Und falls nicht, hätte sie wenigstens noch immer ein Zuhause.
Garrets Apartment war blitzsauber und heimelig warm. Ayla war sich im Klaren darüber, dass er es heute besonders gründlich hatte herrichten lassen, und zwar für sie, um sie zu beeindrucken, ebenso wie mit den verschiedenen bunten Kleidern und ausgesuchten Schönheitsmitteln, die er sich vermutlich irgendwie von den Kammerzofen seiner Schwester besorgt hatte. Sie überlegte, ob sie sich eingehender danach fragen sollte, wie genau er in den Besitz all dieser Schätze gekommen war, doch sie ließ es lieber, damit die Antwort ihr nicht die Laune verderben konnte. Wobei es sie seltsamerweise überhaupt nicht in ihrem Stolz traf, zu wissen, dass er Mabbs Untergebene wahrscheinlich mit intimen Gefälligkeiten bezahlt hatte. Sie konnte nicht einmal ein Quäntchen Eifersucht aufbringen.
Vielmehr tat ihr dieses völlige Fehlen besitzergreifender Gefühle für ihn weh. Der bloße Umstand, dass sie nicht erschüttert war, erschütterte sie.
„Ich wusste nicht, welchen Stil du bevorzugst“, sagte Garret, dabei eifrig zum Bett gehend, auf dem ihre neue Garderobe ausgebreitet lag. „Sie sind alle recht hübsch, aber keines wird deiner Schönheit wirklich gerecht, Ayla.“
Bei dieser sorgsam eingeübten Schmeichelei musste sie beinahe lachen. „Sie sind sogar sehr hübsch.“ Sie streckte die Hand aus, um eines zu berühren, doch er schob sie rasch zur Seite.
„Vielleicht solltest du dich vorher ein wenig frisch machen“, schlug er vor, einen schnellen, angewiderten Blick auf ihre dreckigen, blutverkrusteten Hände werfend. „Da ist Wasser, in der Kanne auf dem Herd.“
Äußerlich gehorsam, innerlich zähneknirschend ging sie zur Kochnische und goss etwas von dem lauwarmen Wasser in die Schüssel, die danebenstand. „Du sagtest, du hast meine Sachen hierher bringen lassen. Wo sind sie?“
Sie brauchte nicht auf eine Antwort zu warten, denn sie hatte sie schon selbst entdeckt. Die wenigen Dinge, die sie besaß, waren achtlos in eine Ecke neben der Tür auf einen Haufen geworfen worden, als hoffe man, sie würden sich aus lauter Scham angesichts ihrer glanzvollen Umgebung selbst hinausbefördern.
Nachdem sie sich gewaschen und ihre abgetragenen Ledersachen ausgezogen hatte, probierte sie eines der feinen Kleider an. Dessen Erlesenheit, sowohl die hellblaue Farbe als auch die feine Webart des Stoffes, schien allerdings nur noch mehr hervorzuheben, wie derb alles an ihr im Gegensatz dazu war. Die Schwielen an den Fingern, die Narben auf ihren nackten Armen.
Falls es Garret ebenfalls auffiel, machte er nicht den Eindruck, als ob es ihn störte. „Lass mich dir helfen“, bot er an und trat hinter sie, um den Stoff an ihren Schultern glatt zu ziehen. Auch als er damit fertig war, ließ er seine Hände dort verweilen. „Dies ist das Leben, für das du ursprünglich bestimmt warst, Ayla. Hätte deine Mutter sich nur dazu entschlossen, die Bindung mit einem anderen Elfen einzugehen, wie es sein sollte, dann würdest du es schon lange führen und nicht erst jetzt mit meiner Hilfe.“
„Es ist nicht meine Schuld, so auf die Welt gekommen zu sein“, fuhr sie ihn an, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte.
Garret reagierte prompt und versuchte sie zu besänftigen. „Selbstverständlich ist es das nicht. Aber dennoch bleibt es etwas, was du im Hinterkopf behalten solltest. Um deine Entscheidungen … abzuwägen. Deine zukünftigen Entscheidungen, meine ich.“ Er drehte sie um und sah ihr ernst ins Gesicht. „Du hast sterbliches Blut in dir. Dadurch wirst du immer gefährdet sein, sterblichen Versuchungen zu erliegen. Verstehst du, was ich sage?“
Das tat sie nicht, zumindest nicht vollständig, aber doch ausreichend, um vage gekränkt zu sein. Trotzdem nickte sie lediglich. Aus so einem Streit würde nichts Gutes erwachsen.
Auf dem Weg zum Refugium vertrieben sie sich mit einer Unterhaltung über unverfängliche Belanglosigkeiten die Zeit. Garret kam nicht noch einmal auf ihre beschämende Abstammung zu sprechen, und er machte auch keine versteckten Andeutungen hinsichtlich ihrer kürzlichen Verfehlungen. Sie redeten miteinander wie früher, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten, nachdem die erste anfängliche Scheu, die jede neue Bekanntschaft begleitete, verflogen und der Freude über die entstandene Freundschaft gewichen war. Ayla fühlte sich in seiner Gegenwart so wohl, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte. Und zwar, seit sich sein Verhalten ihr gegenüber von dem eines Mentors zu dem eines Verehrers gewandelt hatte, wie ihr in diesem Moment bewusst wurde.
Obwohl das Refugium offiziell als Stätte der Ruhe und Erholung für alle Bewohner der Lightworld galt, blieb es denjenigen verschlossen, die sich nicht mit den Elfen gut stellten, denn es war schließlich in ihrem Territorium entstanden. Es hatte damit begonnen, war Ayla erzählt worden, dass ein winziger Samen eines Baumes der Oberwelt in die Lightworld hinabgefallen sei. Regen und Sonnenstrahlen wären dann durch die Gitter, die beide Welten voneinander trennten, bis zu ihm hinuntergedrungen. Als der neue Baum zu sprießen anfing und bald weitere folgten, nahmen die Elfen dies als ein Zeichen der Alten Götter. Sie hatten sie nicht verlassen. Aus dem zufälligen, deshalb aber nicht weniger erfreulichen Irrtum der Natur wurde das Refugium, ein heiliger Ort, ein Beweis dafür, dass die Elfen nicht vergessen worden waren.
Das erste Mal, dass Ayla es betreten hatte, war vor dem Beginn ihrer Ausbildung in der Assassinengilde gewesen. Cedric, der Gildenmeister, hatte sie hergeführt, damit sie ihrem alten Leben außerhalb der Lightworld entsagen und ihre ewige Treue zur Königin der Elfen geloben konnte. An diesem Tag, als sie zum ersten Mal richtiges Gras unter ihren Füßen spürte, zum ersten Mal das Sonnenlicht ihr Gesicht wärmte, hatte sie sich nicht träumen lassen, dass sie eines Tages die Gefährtin des Bruders dieser Königin sein würde.
„Es ist wundervoll, nicht wahr?“, flüsterte Garret ehrfürchtig, während sie durch den steinernen Torbogen gingen, der den Eingang zum Refugium bildete. Anderswo in der Lightworld war es noch immer Nacht. Das Tageslicht, aus der Oberwelt entliehen, fand seinen Weg erst bis nach hier unten, lange nachdem es die klobigen Turmbauten der Menschen in goldenen Schein gehüllt hatte. Das ausgedehnte Metallgitter, das die Öffnung oberhalb des Refugiums bedeckte, ließ das Licht nach seinen eigenen Regeln hindurch, nur nach und nach, ganz langsam. Ein dünner weißer Schleier wand sich um die Äste und Stämme der Bäume, und von irgendwoher aus dem Inneren des kleinen Waldes drang das Plätschern eines Baches.
Breite morsche Stufen, die tückisch und glitschig waren, führten hinunter zur Wiese, und Garret half Ayla, darüberzubalancieren. Sie blieben an einer flachen Erhebung aus Beton stehen, um ihre Schuhe auszuziehen, damit sie das Kitzeln der Grashalme an ihren Füßen und die Kühle des Erdbodens darunter genießen konnten. Ayla blickte zu dem schummrigen Licht hoch, das durch die Gitter fiel, und schnupperte in der Luft. Sie war nicht klar und frisch, aber frischer als in den stickigen Tunneln. Es würde wie immer ein Schock sein, dorthin zurückzukommen. Das wusste Ayla aus Erfahrung. Wenn du noch nie saubere Luft geatmet und echtes Sonnenlicht gesehen hast, dann ist all das erst einmal viel zu schön und zu grell. Kehrst du aber danach zu dem zurück, was du vorher gekannt hast, wirkt es auf einmal trist und dunkel, und es wird nie wieder so für dich sein, wie es war.
Wenn sie dieses Mal das Refugium verlassen würde, hätten die Dinge sich wieder geändert, mehr als je zuvor. Bei ihrem ersten Besuch war sie als Flüchtling gekommen und als Einwohnerin der Lightworld herausgegangen. Jetzt kam sie einsam und würde mit demjenigen, der seit fünf Jahren ihr ständiger Begleiter war, als ihrem rechtmäßigen Gefährten an ihrer Seite gehen.
„Du wirst sehen, bald schon werden wir erneut hierherkommen und um die Segnung unseres Nachkommen bitten“, sagte Garret leise und legte dabei eine schützende Hand auf Aylas Bauch, als würde darin bereits ein Baby heranwachsen.
Das war etwas, woran Ayla bis jetzt überhaupt keinen Gedanken verschwendet hatte. Elfen pflanzten sich nur dann fort, wenn sie es wollten, nicht aus der Notwendigkeit zur Erhaltung ihrer Art. Wie auch immer, noch war es nicht so weit, und sie schob diese Sorge in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins. Sie sollte sich heute nicht mit Eventualitäten belasten, die vielleicht eines Tages eintreten mochten, wenn sie sich auf weit angenehmere Dinge in der Gegenwart konzentrieren konnte.
„Warst du schon einmal dort oben?“, fragte Garret und zeigte zu den Gittern hinauf, die das Refugium von der Oberwelt trennten. „Es ist herrlich.“
Sie wandte sich ihm zu, unsicher, warum er diese Frage stellte, gleichzeitig hoffend, es sei als Einladung gemeint.
Er nickte ermunternd. „Geh nur. Ich warte hier auf dich.“
Obwohl es höflicher gewesen wäre, bei ihm zu bleiben – Aylas Neugierde war einfach zu stark. Zögernd öffnete sie ihre Flügel, zuerst nur ein wenig, und ließ sie unentschlossen einige Male leicht vibrieren, ehe sie sie ganz ausbreitete und in die Luft emporflatterte.
Das Gefühl, immer höher und höher zu fliegen, ohne von niedrigen Tunneldecken aufgehalten zu werden, war unbeschreiblich. Auf vielen der alten Wandteppiche in den Hallen des Palastes wurde diese Art des Fliegens abgebildet, aber Ayla hatte sich niemals dazu hinreißen lassen, sich auszumalen, wie es wohl in Wirklichkeit wäre. Es war ein ungeschriebenes Gesetz in der Lightworld, nicht den vergangenen Zeiten nachzutrauern. Dies sollte ihr jetziges Dasein in Gefangenschaft wenigstens etwas erträglicher machen. Ayla, die im Untergrund geboren worden war, hatte es leichter gehabt als die meisten anderen, ihren Instinkt zu ignorieren, der ihr sagte, dass ihr Körper in erster Linie dazu gebaut war, sich durch die Luft zu bewegen. Während all ihrer Besuche an diesem Ort hatte sie nicht ein einziges Mal auch nur in Erwägung gezogen, dessen Weitläufigkeit zum Fliegen zu nutzen. Würden ihr nach dieser Erfahrung die wenigen Flügelschläge, mit denen sie sich vorher lediglich etwas Zeit gespart hatte – zu einer Tür hinauf oder über einen Wassergraben, um nicht durch die verstreuten Grüppchen anderer Besucher zu müssen –, noch ausreichen?
Doch es war eine trügerische Freiheit. Obwohl die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in diesem Moment zwar geringer waren als sonst –, sie schwebte inzwischen hoch über den Baumwipfeln – sie existierten nach wie vor. Bald schon hatte Ayla die Gitter erreicht und steckte ihre Finger durch das metallene Netz. Abgeschnitten von der Welt der Menschen durch Metallstäbe und dem halben Teil ihres Blutes. Wie es wohl sein würde, wenn sie als richtiger Mensch geboren worden wäre? Sie hatte sich oft vorgestellt, wie ihr Leben als reinrassige Elfe hätte sein können, aber niemals die andere Möglichkeit.
Garret rief ihr etwas zu, und sie schaute nach unten. Ein Mensch in ihrer Lage würde abstürzen und sein zerbrechlicher Körper beim Aufprall zerschmettert werden. Sie faltete ihre Flügel zusammen und ließ das Gitter los. Wie ein Stern, der vom Himmel fiel – was, wie man ihr erzählt hatte, tatsächlich einmal geschehen war –, sauste sie abwärts, ihr Magen drehte sich um, und ihre Glieder ruderten wie von selbst Halt suchend in der Luft umher. Der Boden schien viel weiter weg zu sein, wenn sie die Augen zumachte, und sie fragte sich, was passieren würde, falls sie sich nicht im letzten Augenblick rettete. Würde sie tot sein, noch bevor die Heiler am Unfallort ankämen? Jedenfalls fände dann heute ganz gewiss keine Vermählungszeremonie statt, und auch die anschließende offizielle Verkündung müsste verschoben werden. Sie bräuchte mindestens eine Woche, um sich zu erholen und wieder auf die Beine zu kommen. Wenn sie überlebte.
„Ayla, hör auf damit!“
Sie drehte sich in der Luft, riss die Augen auf, sah die Kronen der Bäume auf sich zurauschen und öffnete ihre Flügel. Der plötzliche starke Luftwirbel unter der gespannten Haut tat ein bisschen weh, aber er verlangsamte ihren Sturz, was ihr Zeit verschaffte, um sich zu sammeln. Es war nicht Garrets Stimme gewesen, die ihr da eben zugerufen hatte, doch sie konnte weit und breit niemanden sonst sehen.
Garret sah auf, als Aylas Füße neben ihm den Boden berührten. Dass sie sich gerade wie ein Stein hatte fallen lassen und um ein Haar dabei hätte umkommen können, schien ihn nicht im Geringsten in Sorge versetzt zu haben. Wer sie auch gewarnt haben mochte, ihr Mentor konnte es nicht gewesen sein.
Er nahm sie bei der Hand, um sie in die Mitte des Wäldchens zu führen. Hier war das Herz des Refugiums, wo sich, wie man sich erzählte, die Götter versteckt hielten und auf den Tag warteten, an dem sie gefahrlos zurückkehren und die Welt ihrer Feinde, der Menschen, in Schutt und Asche legen konnten.
„Ich kann das Wasser hören“, sagte Ayla abwesend, ihre Fußsohlen begannen zu kribbeln, als sie den mit der Kraft der Götter aufgeladenen Boden betraten. Etwas raschelte in den Bäumen; kurz glaubte sie, ein Gesicht in den Blättern zu erkennen, ehe es im nächsten Augenblick von der Brise fortgewischt wurde. Nicht lange, und sie hatten den Ursprung des leisen Plätscherns erreicht, einen großen zerklüfteten Felsen mit einem schmalen Riss an der Vorderseite. Ein dünner Wasserschwall trat in einem leichten Bogen aus der Öffnung aus und erzeugte kleine Bläschen auf der Oberfläche des Beckens darunter. Ayla überlegte flüchtig, woher das Wasser kam, doch der Gedanke verschwand sofort wieder, ihr Geist war viel zu überwältigt von der knisternden Energie, die in der Luft lag, um sich mit irgendetwas anderem zu beschäftigen.
Am Rand des Beckens legte Garret seine Robe ab und glitt ins Wasser. Er verzog das Gesicht, als die milde Strömung, die das Eintauchen seines Körpers verursacht hatte, an seinen Flügeln ziepte.
Ayla kniete sich hin und betrachtete ihn voller Bewunderung. Garrets Flügel waren so zart wie die einer Libelle, und auf den zerbrechlichen Häutchen lag ein regenbogenfarbener, im Licht glitzernder Film. Sie griff nach hinten, um ihre eigenen Flügel zu betasten, grobe, von einem Skelett zusammengehaltene Monstrositäten, mit gelblicher Haut überzogen, als sollten sie eigentlich zu einem Sterblichen gehören und nicht zu einer Elfe.
„Willst du nicht auch reinkommen?“, forderte Garret sie auf, in seiner Stimme ein winziger Anflug von Ungeduld.
Je schneller sie im Wasser war, sagte sie sich, desto schneller konnte sie ihre scheußlichen Flügel seinem kritischen Blick entziehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er sie sah, aber wenn es ihr gelang, sie zu verbergen, bevor er einen Kommentar zu deren Aussehen abgeben konnte, würde ihr die Peinlichkeit erspart bleiben.
Das Wasser war angenehm kühl und klar. Zum ersten Mal ließ sie sich vom Rand in ein Bassin rutschen, ohne dabei daran zu denken, wie die Nässe ihre Kleidung aufweichen würde, die dann stundenlang kalt und klamm an ihrer Haut klebte, bis sie wieder getrocknet war. Sie hatte, so wie Garret, ihre Sachen ausgezogen und im Gras liegen lassen. Nun sank sie hinab, bis ihr Kopf vollständig unter Wasser war, öffnete die Augen und beobachtete, wie ihre Haare dicht über ihr auf der Oberfläche trieben wie rostfarbener Seetang. Als sie wieder auftauchte, war Garret direkt neben ihr, amüsiert lachend. „Ich hatte ganz vergessen, dass du wahrscheinlich nicht so oft hier bist wie ich.“
Sie schwamm zu einem niedrigen Felsvorsprung in der Nähe des Wasserfalls. „Ich habe nicht viel Zeit.“
„Ab jetzt wirst du sie haben“, versprach Garret und tauchte unter. Er schwamm an ihre Seite und zog sich hoch, um sich neben sie auf den Felsen zu setzen. „Wir können herkommen, sooft du willst. Von mir aus sogar jeden Tag, wenn es dich glücklich macht.“ Bei diesen Worten wurde ihr schwer ums Herz. Sie konnte nicht von sich behaupten, jemals wirklich glücklich gewesen zu sein, jedenfalls nicht so, wie er es meinte. Nicht einmal als Kind. Der glücklichste Tag ihres Lebens war der gewesen, an dem ihre Sippe – ihre echte Sippe – sie widerwillig in ihren Kreis aufgenommen hatte. Und selbst da wurde jeglicher Anflug von Freude durch das Wissen getrübt, dass sie, auf vielerlei Weise, nach wie vor eine Außenseiterin blieb.
Garret strich sanft einige lose Haarsträhnen hinter ihre Ohren, dann nahm er ihr Gesicht in seine schlanken Hände. „Ich weiß, manchmal muss es dir so erscheinen, als könnte ich an nichts anderes denken als an mich. Aber ich bin jetzt seit fünf Jahren dein Mentor, und du hättest kaum so lange überlebt, wäre ich tatsächlich so eigensüchtig, wie du glaubst. Ich sehe deinen Schmerz, jeden Tag, und er ist in all dieser Zeit permanent unerträglicher geworden. Ich möchte dich nicht in dieser Verfassung sehen, nie mehr.“ Er beugte sich vor, bis seine Lippen nur Millimeter von ihren entfernt waren. „Lass mich ihn dir nehmen, Ayla. Lass mich dich glücklich machen.“
Es war vermutlich die letzte Chance auf ein besseres Leben, die sie bekommen würde. Und während sie in Garrets Augen blickte, so freundlich und ausnahmsweise absolut ehrlich, wuchs in ihr der Wunsch, wahrhaft glücklich zu sein. Mit ihm.
Sie packte die Gelegenheit beim Schopf.
Im Bruchteil einer Sekunde hatte sie sich in seine Arme geworfen, ihre nassen Körper drängten sich eng aneinander, und er zog sie auf seinen Schoß. Es hätte den Funken eines Gefühls in ihr auslösen können, aber die für sie völlig neue Erfahrung, von einem anderen auf diese Weise berührt zu werden, und das beunruhigende Bewusstsein, dass dieser andere Garret war, ihr Mentor, jemand, den sie bisher nur als solchen gesehen hatte und weniger als männlichen Elfen, machte jegliche potenzielle Regung sofort zunichte. Abgesehen von einem winzigen Kribbeln in ihrem Bauch bei dem Gedanken, dass sie kurz davorstand, etwas zu erleben, das bisher unerreichbar fern und geheimnisvoll für sie gewesen war.
Natürlich hatte Garret sie schon öfter berührt, beim Training, um ihr einen bestimmten Bewegungsablauf zu zeigen oder die korrekte Haltung einer Waffe. Die Art, wie er sie jetzt berührte, war anders. Besitzergreifend und hungrig. Er hielt sich nicht allzu lange bei nur einem Teil ihres Körpers auf. Sein Mund glitt von ihrem Hals hinunter zu ihren Brüsten, seine Hände wanderten rastlos über ihre Hüften. Dabei redete er die ganze Zeit leise auf sie ein, sein warmer Atem ganz dicht an ihrer Haut. Er gelobte, ihr ein guter Gefährte zu sein, versuchte sie zu beruhigen, bat sie, keine Angst zu haben. Sie verspürte keine Angst, behielt dies aber für sich, denn sie fürchtete, er könne darüber enttäuscht sein.
Es geschah alles so plötzlich, dass sie es kaum richtig mitbekam. Ein seltsames Summen breitete sich in ihrem Kopf aus, aufgewühlt und glühend rot, und sie stellte erstaunt fest, noch nie vorher ein Geräusch gehört zu haben, das eine Farbe hatte. Dann merkte sie auf einmal, dass ihr Körper ihr nicht länger gehorchte, und für einen Moment war ihr, als würde sie ohnmächtig werden. Sie grub ihre Finger fester in Garrets Rücken und hielt sich an ihm fest, und er erwiderte, was er für Leidenschaft hielt, doch sie konnte ihm unmöglich sagen, dass seine Liebkosungen nicht der Grund für ihre Schwindelattacke waren.
Er positionierte sie so, dass sie rittlings auf seinem Schoß saß, schob mit den Händen ihre Oberschenkel auseinander. Sie sah den männlichen Teil von ihm in einem merkwürdigen steilen Winkel zwischen ihren Beinen hervorstechen … und geriet in Panik.
„Bitte warte einen Moment …“
Wie sollte sie ihm klarmachen, dass ihr dies alles viel zu
schnell ging, er ihr mit einem Mal unglaublich große Furcht einflößte? Wie könnte sie ihm sagen, dass die Ränder ihres Sichtfeldes anfingen, sich nach innen zu kräuseln und schwarz zu werden wie angesengtes Pergament? Sie öffnete den Mund, wollte ihn bitten, ihr nur kurz eine Minute zu geben, damit sie ein paarmal tief durchatmen und sich sammeln konnte, doch die Spitze seiner Männlichkeit verschaffte sich unversehens Zugang, und bevor sie auch nur Luft holen konnte, packte er sie bei den Hüften und drückte sie nach unten, bahnte sich rücksichtslos seinen Weg in sie, während um sie herum alles begann, plötzlich tiefrot zu werden.
Das über ihren Köpfen sprudelnde Wasser verwandelte sich in Blut, die schwarzen Säume ihres Geistes wanden sich darum und verdrehten den dickflüssigen Strahl, bis daraus Aylas Haar geworden war. Es schwebte in der dunklen Leere, die sie umgab, wie von unsichtbaren Händen getragen, genauso wie es noch vor wenigen Augenblicken unter Wasser gewesen war. Unter ihr hingegen erstreckte sich, anstelle unendlicher Schwärze, ein Meer aus blutroten Federn, so weit sie blicken konnte, und sie rauschte im Sturzflug darauf zu, durchschlug die Oberfläche, ohne auch nur eine einzige von ihnen zu berühren. Dann wurden die Federn schwarz – wo hatte sie schwarze Federn gesehen? – und regneten auf Ayla herab, die mit eingeknickten Knien auf Garret saß. Die brennende Hitze, wo ihre Körper verschmolzen, schwoll zu einer Feuersbrunst an, die den Baum ihrer Lebenskraft in ihrem Innern in Flammen aufgehen ließ, und als sie ihren Kopf von Garrets Schulter löste, schluchzend, da war es nicht Garret, der sie hielt.
Es war der Darkworlder.
So schnell, wie es entstanden war, verschwand sein Bild auch wieder, und an seiner Stelle sah sie Garret vor sich, noch immer in ihr, stöhnend, sein Körper wurde von einem Zittern geschüttelt. Ebenso verschwunden wie all die erschreckenden Trugbilder war das Brennen in ihrer Seele. Jetzt, da die Vision sich aufgelöst hatte und nicht mehr ihre Sinne in die Irre führte, war alles, was blieb, der allzu reale stechende Schmerz in ihrem geschundenen Fleisch, an der Stelle, wo Garret aus ihr herausrutschte. Auch die glänzenden Federn, die den Boden bedeckt hatten wie schwarzer Schnee, waren nur Einbildung gewesen. Sie senkte den Kopf und presste in einem verbissenen Versuch, ihren Geist dazu zu zwingen, sich zu beruhigen, die Fäuste gegen ihre Augen.
„Ayla, ist alles in Ordnung?“ Garret legte ungefragt seine Handflächen auf ihre Schläfen, und sie spürte, wie seine Energie gewaltsam in sie hineinströmen wollte, um ihr Erleichterung zu verschaffen, doch sie war mit spitzen Stacheln durchsetzt, kalt und eisig blau, und Ayla verspürte kein Verlangen, etwas davon anzunehmen.
„Es geht mir gut. Ich bin nur … überwältigt.“
Diese Antwort schmeichelte ihm offenbar. Mit einem kleinen Lachen sagte er: „Verständlich, wenn man bedenkt, dass es eine völlig neue Erfahrung für dich war.“
Von dem, was er sonst noch sagte, während er sie aus dem Becken hob und ihr zuvorkommend beim Anziehen half, bekam sie so gut wie nichts mehr mit.
Was hatte die Vision nur bedeuten sollen? Doch wohl ganz sicher nicht, dass Ayla insgeheim den Wunsch hegte, sich mit dem Darkworlder zu vereinigen! Diese Kreatur war nicht nur körperlich abstoßend, sondern sein gesamtes Wesen stand sämtlichen Prinzipien der Lightworld entgegen. Ein alleiniger Gott? Das Bestreben, die Erde zurück in die Hände der Menschen zu geben? Nein, nie und nimmer könnte sie sich dazu bringen, Verständnis für solch ein unsägliches Vorhaben aufzubringen.
Ein Mann mit Flügeln. Die Worte der alten Frau hallten in ihren Ohren wider. Dann war das, was sie eben gesehen hatte, also eine Warnung gewesen. Der Darkworlder würde sie vernichten und das Glück, das sie mit Garret bestimmt im Laufe der Zeit finden würde. Aber wie? Fand Garret womöglich heraus, was sich in der Darkworld zugetragen hatte, und verstieß sie? Nein, ihm lag etwas an ihr, und er mochte es nicht, etwas zu verlieren, was ihm wichtig war. Oder sollte der Darkworlder sie etwa tatsächlich töten, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte? Es erschien ihr wenig wahrscheinlich, nach dem, was in der Werkstatt dieses Menschen geschehen war. Aber die Heilerin verfügte zweifellos über mächtige Zauberkräfte und hatte Einblick in Dinge, die anderen verborgen blieben. Dieser Darkworlder würde sie ins Verderben stürzen, und die Vision war kein bloßer Zufall gewesen.
Garret kleidete sich rasch wieder an und kam dann zurück zu ihr, seine leicht zuckenden Fühler drückten Besorgnis aus. „Du siehst so ernst aus, Ayla. Kann es sein, dass dich doch irgendetwas plagt, das du mir aber nicht erzählen willst?“
„Nein“, widersprach sie schnell, den Kopf schüttelnd. „Ich bin nur …“
Sie bekam keine Gelegenheit, den Satz zu beenden. Garret hob die Hand und griff nach ihrem Haar, die Lippen aufeinandergepresst, als würde er ein Grinsen unterdrücken. „Wie hast du es denn geschafft, dass sich so was hier in deinen Haaren verklettet?“
Als er die Hand zurückzog, hielt er eine pechschwarze Feder zwischen Daumen und Zeigefinger.