19. KAPITEL
Die Tage und Nächte verschmolzen zu einem endlosen Fluss aus Schmerz, mit dem eine Welle aus purer Qual nach der anderen angespült wurde. Nicht einmal der Schlaf bot einen Zufluchtsort; das Leiden, ein grausames rotes Phantom, lauerte hinter seinen geschlossenen Augenlidern und saugte ihm unaufhörlich Blut und Kraft aus.
Sein Folterknecht indes kam nicht wieder zurück. Die Kohlestücke in der Schüssel erloschen langsam, bis am Ende nichts als weiße Asche von ihnen übrig geblieben war. In seinen Wunden aber brannte ihre Hitze weiter. Seine Arme taten weh, die Hände dagegen waren wie abgestorben, verzweifelt nach Blut lechzend, das sein Herz nicht zu ihnen hinaufpumpen konnte, und was dort fehlte, sammelte sich in seinen Beinen und Füßen, bis die Haut über dem dick angeschwollenen Gewebe spannte.
Sich zu bewegen brachte keine Erleichterung, sondern erzeugte nur zusätzliche Schmerzen, ebenso wie es nicht zu tun.
Seine Gedanken wanderten zu Ayla. Suchte sie nach ihm? Natürlich täte sie das, aber würde sie ihn auch finden? Und wenn nicht, würde sein Körper rechtzeitig aufgeben, damit ihm weitere, womöglich noch schlimmere Torturen erspart blieben?
Jahrhundertelang war der Tod sein Leben gewesen. Jetzt, als sterbliches Wesen, löste er gleichermaßen Angst und Faszination in ihm aus. Er sehnte ihn herbei, mit jedem unerträglichen Pochen seines geschundenen Fleisches wünschte er, der Tod möge ihn endlich erlösen. Aber mehr noch wünschte er sich, von dem Schmerz erlöst zu werden, jedoch weiter am Leben zu bleiben. Er wollte in Aylas Armen liegen, gesund und glücklich, ohne die Spuren des Martyriums, dem er zum Opfer gefallen war.
Aber es schien, dass die Dinge, die er in Wirklichkeit wollte, für immer in unerreichbare Ferne gerückt waren, und so blieb ihm nur, sich auf das Sterben vorzubereiten. Die Befreiung von seinem vergänglichen Körper, der viel zu großen Schaden genommen hatte, um überleben zu können, und sich dennoch an den Funken Hoffnung klammerte, der ihm alles nur noch schwerer machte.
Kein Laut war zu hören. Stille, völlige Finsternis. Sonst nichts. Selbst wenn er die Kraft gehabt hätte, die Augen zu öffnen, würde er nur Dunkelheit sehen.
An diesem Gedanken hielt er sich fest, denn er wusste, wenn er letztlich doch ein Licht sähe, würde dies bedeuten, dass er frei war.
Als Ayla aufwachte, fühlte sie sich so erschlagen, als hätte sie hundert Kampfübungen absolviert. Sie hatte sich im Schlaf nicht ein einziges Mal bewegt, und nun waren ihre Glieder steif, und ihr Körper kam ihr weitaus zerbrechlicher – menschlicher – vor, als der einer Elfe, selbst einer Halbelfe, es eigentlich jemals hätte sein dürfen.
Fast augenblicklich stand Cedric an ihrem Bett und reichte ihr einen Becher Wasser. „Eure Hoheit, wenn Ihr in der Nacht ausreichend geruht habt, wäre es jetzt vielleicht an der Zeit, Euch dem Hofstaat vorzustellen.“
Sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht wischend, nahm sie den Becher entgegen und leerte ihn mit wenigen Schlucken. „So kann ich ihnen nicht gegenübertreten. Sie können es wahrscheinlich kaum erwarten, mich in der Luft zu zerreißen.“
Cedric nickte. „Selbstverständlich werde ich vorher ein Bad für Euch vorbereiten lassen, und frische Kleidung. Es gibt eine Handvoll ausgesuchter Diener im Palast, die absolut vertrauenswürdig sind. Nur Ihnen wird der Zutritt zu Euren privaten Räumen gestattet. Ihr werdet also vollkommen sicher sein.“
„Ihr lasst mich allein?“ Sie hatte nicht beabsichtigt, so vorwurfsvoll zu klingen. Und so ängstlich. Aber Cedric hatte sich in dem Chaos der vergangenen Tage als ihr einziger Verbündeter erwiesen, und der Gedanke, auf seine Rückendeckung verzichten zu müssen, versetzte sie in Panik. „Sie hassen mich. Wie soll ich mich ohne Euch vor ihnen behaupten?“
„Höflinge lassen sich leicht von Äußerlichkeiten beeindrucken. Zeigt Ihnen, dass Ihr stark seid, selbstbewusst, und erscheint in den prunkvollsten Kleidern und dem edelsten Schmuck. Sie werden sich im Kampf darum, wer Euch als Erster die Treue schwören darf, gegenseitig die Augen auskratzen.“ Er richtete sich auf und ging zu dem Frisiertisch, an dem Mabb noch vor so kurzer Zeit morgens immer gesessen hatte. „Es gibt etwas, um das ich Euch bitten möchte, Eure Majestät.“
„Cedric, ich will gar nicht daran denken, was ohne Euch aus mir geworden wäre. Wäret Ihr mir nicht zu Hilfe gekommen, würde ich noch immer im Kerker sitzen.“ Ayla schauderte bei der Vorstellung. „Was kann ich also für Euch tun?“
Er öffnete eins der mit kunstvollen Ornamenten verzierten Kästchen auf dem Tisch und nahm eine Kette mit einem Anhänger heraus. Er hielt sie gerade lange genug hoch, sodass Ayla das Zopfmuster des bronzefarbenen Metalls und den schimmernden Stein in der Mitte erkennen konnte. „Ich habe dies einmal der Königin geschenkt.“ Er schloss die Hand fest um den Anhänger. „Ich hätte es gern zurück.“
„Natürlich.“ Sie fühlte sich, als würde er nicht das Schmuckstück, sondern ihren Hals mit seinen Fingern umklammern und ihr die Luft abdrücken. Sie war daran gewöhnt, jegliche Form körperlicher Qual mitanzusehen, ohne die Fassung zu verlieren. Diese Art Schmerz aber, die Cedric seinen Mund zu einer dünnen Linie zusammenpressen und seine Augenwinkel nervös zucken ließ, war für sie schier unerträglich. „Und danke für alles, was Ihr für mich getan habt.“
„Ich will mindestens ebenso sehr wie Ihr, dass Mabbs wahrer Mörder als das entlarvt wird, was er wirklich ist.“ Die Verbitterung in seiner Stimme machte deutlich, dass die Phase, in der die Wunde noch zu frisch war, um das Thema anzusprechen, vorüber war. „Ihr könnt Euch gewiss sein, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, Eure Stellung als rechtmäßige Königin zu etablieren und zu festigen.“
Nachdem er gegangen war und Ayla allein mit den vertrauenswürdigen Dienern zurückblieb, denen er nochmals eingeschärft hatte, dass sie für ihre Sicherheit verantwortlich waren, hatte sie Zeit, über seine Äußerung von vorhin nachzudenken. Cedric verdächtigte Garret, seine Schwester umgebracht zu haben. Und wenn er das tat, waren sicherlich auch andere schon argwöhnisch geworden. Es musste noch mehr Elfen geben, die Garrets falsches Spiel durchschauten.
Ihre weiblichen Diener hatten mittlerweile das Bad für sie bereitet, und die Erschöpfung der letzten Tage wurde von dem wunderbaren warmen Wasser aufgesogen, perlte zusammen mit dem Schmutz nach und nach von ihrem Körper ab, wurde mit dem Duft des süßen Öls davongetragen, das man sanft in ihre Haut einmassierte. Als sie schließlich dem luxuriösen Waschzuber entstiegen und fertig angekleidet war – in eine Robe aus feinstem goldfarbenen Tuch gehüllt, die Mabb gehört haben musste, denn sie lag eng am Rücken an und verbarg Aylas Flügel – und man ihre verkletteten Haare ausgiebig gekämmt und frisiert hatte, spürte sie, wie ihr früheres Selbstvertrauen langsam zurückkehrte. Selbstvertrauen, das immer mehr und mehr geschrumpft war, seit sie Garrets Werben letztlich nachgegeben hatte.
Selbstvertrauen, das sich vor der Tür des Thronsaals schlagartig in Luft auflöste.
„Nur Mut, Eure Hoheit“, flüsterte eine der jungen Zofen hinter ihr, und Ayla war Cedric unendlich dankbar, dass er sie ausgewählt hatte. Sie atmete tief durch und wartete mit hoch erhobenem Kopf, bis die Türflügel sich öffneten.
Der separate Eingang, durch den die Königin den Saal betrat, befand sich hinter dem Podium, auf dem der Thron stand. Ein junger Wächter, kaum alt genug, um zu dienen, lief von seinem Posten zu dem Ausrufer, der neben dem Podium stand.
„Ihre Majestät, Königin Ayla“, kündigte dieser ihr Erscheinen mit donnernder Stimme an, die wie ein Schwerthieb des Henkers durch den Raum hallte.
Sofort fing das Getuschel und Gemurmel an, zuerst nur verhalten wie Wasserrauschen, dann lauter und lauter werdend und sich bis zu Rufen der Empörung und offenem Gelächter steigernd. Aylas Schritte wurden langsamer, am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre davongerannt, aber dann entdeckte sie Garret.
In einem wuchtigen Stuhl neben dem Podium sitzend, seinen Mund in stiller Genugtuung über die Reaktion des Hofstaates zu einem schmalen Lächeln verzogen, entsprach er genau dem Bild des durchtriebenen Schurken, der er, wie sie mittlerweile hatte erkennen müssen, tatsächlich war. Und es war seine Siegessicherheit, die Ayla anspornte, weiterzugehen und, ihn kaum eines Blickes würdigend, an ihm vorbei auf ihren Thron zuzuschreiten.
Jemand in der Menge konnte nicht länger an sich halten und schrie: „Mörderin!“ Aber sofort war ein Wachmann bei ihm und schaffte ihn kurzerhand nach draußen, was die Aufmerksamkeit der anderen für einen kurzen Moment ablenkte, sodass Ayla sich wieder fangen konnte, bevor jemand bemerkte, wie sehr der Zwischenruf sie verunsichert hatte. Als im Saal Ruhe eingekehrt und jedes Augenpaar – Garrets eingeschlossen, das spürte sie, auch wenn sie ihn noch immer nicht ansah – auf sie gerichtet war, blieb sie stehen.
Falls ihre Stimme zitterte, fiel es ihr selbst nicht auf. Und obwohl sie sich vorher keine Gedanken darüber gemacht hatte, was sie sagen würde, und ihre Fähigkeit, die richtigen Worte zu finden, ohne sich zu verhaspeln, nicht gerade ausgeprägt war, geschweige denn vor so vielen Zuhörern, gelang es ihr jetzt irgendwie.
„Verehrte … Elfen.“ Sie ließ diese simple Anrede einen Augenblick wirken und sah, wie in den Augen einiger Anwesender ein Funken Anerkennung aufblitzte. „Ich erinnere mich weder an die Zeit, bevor unsere Rasse in den Untergrund verbannt wurde, noch habe ich in historischen Schlachten gekämpft. Bisher hatte ich mein Leben der Aufgabe verschrieben, der Lightworld als Assassine zu dienen, und die Kämpfe, die ich als solche ausgefochten habe, können schwerlich als ruhmreich bezeichnet werden. Doch sie haben zu eurer aller Sicherheit beigetragen. Als eure Königin, das gelobe ich, werde ich zehnmal so hart für die Sicherheit und die Interessen unseres Volkes kämpfen, wie ich es als Assassine jemals getan habe, um meinen Gegner zu besiegen.“ Das leise Zischeln einzelner Höflinge untereinander ignorierend, fuhr sie fort: „Viel zu lange hat unsere Rasse in der Dunkelheit zugebracht, den Tag herbeisehnend, an dem wir unseren rechtmäßigen Platz in der Welt zurückfordern. Stattdessen aber haben wir begonnen, mehr und mehr wie die Menschen zu leben, denen wir unsere desolate Lage verdanken. Viel zu lange haben wir stagniert, die vermeintliche Aussichtslosigkeit hingenommen und uns mit unserem Schicksal abgefunden. Ich gebe euch heute mein Versprechen, dass ich alles tun werde, selbst wenn es Jahrhunderte brauchen sollte, mein Ziel zu erreichen, um jedem Bewohner der Lightworld eine Rückkehr auf die Oberfläche zu ermöglichen und ihm damit das Leben zurückzugeben, das ihm die Menschen gestohlen haben. Ich erwarte dafür weder Dank noch Verehrung, nicht einmal euren Respekt. Alles, worum ich euch bitte, ist, dass ihr mir eine Chance gebt, meine Liebe und mein ehrliches Interesse am Wohl unseres Volkes zu beweisen, bevor ihr euch ein endgültiges Urteil über mich bildet.“
Als sie mit diesen Worten ihre Rede beschloss, war es, als wäre plötzlich alle Kraft aus ihrem Körper gewichen. Die unheilvolle Stille im Saal drückte sie förmlich nieder, sodass sie sich setzen musste, um nicht ohnmächtig zu werden.
Dann, wie das leise Knacken eines gefrorenen Sees, auf dem das Eis zu brechen begann, setzte vereinzelt unsicheres Klatschen ein, das bald lauter und zahlreicher wurde, bis der Raum von tosendem geschlossenen Beifall erfüllt war.
Jetzt sah Ayla zu Garret hinüber, um sich zu versichern, dass die Überheblichkeit aus seinem Gesicht verschwunden war. Er starrte sie wütend an, den jubelnden Hofstaat, dann sprang er auf, stürmte aus dem Thronsaal und zur Tür hinaus.
Ayla winkte eine ihrer Dienerinnen heran, die zu ihrer Rechten neben dem Podium stand. Die junge Elfe kam zu ihr und verbeugte sich.
„Gibt es eine Verbindung zwischen den Gemächern des königlichen Gefährten und denen der Königin?“, flüsterte Ayla, und die Dienerin nickte. „Sorge bitte dafür, dass dieser Zugang bewacht wird, bis er versiegelt wurde.“
„Ja, Eure Hoheit.“
Als es schien, der Applaus würde gar nicht mehr abebben wollen, verließ Ayla den Saal. Cedric hatte die Höflinge vollkommen richtig eingeschätzt, dennoch hoffte Ayla, einige seien nicht nur von ihrem schillernden Aussehen, sondern vielmehr von der Aufrichtigkeit ihrer Worte überzeugt gewesen. Zudem wünschte sie sich innig, eine Königin zu sein, die ihr Vertrauen auch verdiente.
„Eins muss man ihr lassen“, sagte Garret mit einem zynischen Lachen, niemanden im Besonderen ansprechend, obwohl seine Diener scharenweise um ihn herumwuselten. „Sie hat genau ihren wunden Punkt getroffen. Natürlich hatte Cedric seine Finger mit im Spiel, aber ihre Vorstellung war wirklich originell. Sie glauben allen Ernstes, Ayla könne als Königin bestehen.“
Die Bediensteten taten, als würden sie sein Selbstgespräch überhaupt nicht hören. Wen scherte das schon, auf ihre Meinung legte er ohnehin keinen Wert. Sollten sie nur damit weitermachen, wofür sie da waren, und seine Gemächer aufräumen, nachdem er alles in Reichweite kurz und klein geschlagen hatte. Er war außer sich vor Wut gewesen, aber jetzt wich sein Zorn der pragmatischen Planung seines nächsten Schachzuges. Noch war nicht alles verloren. Ayla stand nach wie vor im Verdacht, die Königin ermordet zu haben, ob die Höflinge sich nun von ihrem Geschwafel hatten einlullen lassen oder nicht.
Und er hatte ihren Darkworlder. Wenn der ihr so viel bedeutete, dass sie sogar ihr Leben riskierte, um ihm in die Darkworld zu folgen, dann würde sie vielleicht bereit sein, einen kleinen Handel einzugehen, um sein erbärmliches Leben zu retten.
„Wache“, er gab einem von ihnen ein Zeichen, demjenigen, der neben der Tür stand. Es waren insgesamt vier, zwei im Inneren seiner Räume, zwei draußen auf dem Korridor. Wäre er an Aylas Stelle und sie an seiner, würde er sie kurzerhand aus dem Weg räumen. Dazu würde er ihr keine Chance lassen. „Im Kerker befindet sich ein Gefangener, ein Darkworlder. Ich will, dass du ihn zu mir bringst. Achte darauf, von niemandem gesehen zu werden.“
Wahrscheinlich gab Ayla ihre Versuche, ihn herauszufordern, schleunigst auf, sobald sie begriffen hatte, was auf dem Spiel stand.
Es war beinahe Mitternacht, als Cedric an die Tür zu Aylas Schlafgemach klopfte. Sie lag bereits im Bett, schlief aber noch nicht, obwohl der sehr anstrengende Tag sie ziemlich erschöpft hatte.
„Euer königlicher Gefährte wünscht Euch zu sehen“, informierte Cedric sie ernst.
„Jetzt sofort.“
Rasch die Decke um ihren Oberkörper schlingend, setzte Ayla sich auf. „Ich werde seiner Bitte morgen früh nachkommen. Unsere Bindung existiert nur noch formell, er kann nicht mitten in der Nacht nach mir schicken lassen, als ob ich …“
„Er hat den Darkworlder in seiner Gewalt.“
Die Worte lösten eine Mischung aus Erleichterung und Sorge in ihr aus. Malachi war hier, im Palast, aber als Garrets Gefangener. Dann fiel ihr mit Schrecken ein, dass noch eine andere Möglichkeit bestand. „Ist er am Leben?“
Cedric nickte. „Aber sein Leben hängt an einem seidenen Faden. Ich muss Eure Majestät warnen, sein Zustand ist ausgesprochen bedenklich. Es besteht die Gefahr, dass er es nicht schaffen wird.“
Sie schnappte sich ihre Robe, die am Fußende des Bettes lag, und zog sie sich hastig über den Kopf. „Was soll das bedeuten, er schafft es vielleicht nicht? Hat Garret ihm etwas angetan?“
„Ja.“ Er hielt inne, als sie wie erstarrt mitten in der Bewegung verharrte, ein Bein über der Bettkante. „Ihr müsst euch beeilen.“
Die folgenden Minuten waren die längsten in Aylas Leben. Wie gern hätte sie auf dem Weg zu Garret Cedrics Hand genommen und fest gedrückt, doch das konnte sie nicht, denn er ging einige Schritte hinter ihr, an der Spitze der Wachleute, die sie begleiteten, ihr hin und wieder kurze Richtungsanweisungen gebend, wenn sie sich nicht sicher zu sein schien, welche Abzweigung sie nehmen musste.
Als sie die Tür zu Garrets Räumlichkeiten erreichten, kam Cedric dichter zu ihr und flüsterte: „Ich muss Euch erneut warnen, Garret hat diesen Darkworlder furchtbar zugerichtet. Ihr habt als Assassine grauenhafte Dinge gesehen. Nutzt diese Erfahrungen jetzt, um Euch auf den Anblick vorzubereiten.“
Sie hatte grauenhafte Dinge gesehen. Und grauenhafte Dinge getan. Gleich würde sie erfahren, zu welchen Grausamkeiten Garret fähig war.
Die Wachen, die innen rechts und links neben der Tür standen, sahen sie feindselig an, als sie an ihnen vorbeiging. Cedric hatte offenbar schon gewusst, warum er ihre eigenen Leibwächter besonders sorgfältig für sie ausgewählt hatte.
Ayla hatte die Gemächer des königlichen Gefährten nie zuvor gesehen. Bis jetzt war ihr nicht einmal bekannt gewesen, dass es im Palast so etwas überhaupt gab. Verglichen mit denen der Königin waren sie nicht allzu großzügig bemessen, dafür aber nicht weniger komfortabel. Obwohl sie noch nie jemand bewohnt hatte, wurden sie offensichtlich über die Jahrhunderte hinweg laufend instand gehalten. Die wertvollen Möbel aus der Oberwelt waren sauber und gepflegt, sämtliche Einrichtungsgegenstände derart akkurat angeordnet, als ob Mabb höchstpersönlich jeden kleinsten Handgriff der Bediensteten überwacht hätte.
Sie durchquerten, geführt von einem von Garrets Wachmännern, den ersten Raum, dann traten sie in einen weiteren ein.
„Bleibt in meiner Nähe“, flüsterte Cedric ihr zu, und sie nickte, obwohl sie befürchtete, es könne sie schwach erscheinen lassen, als würde sie sich hinter dem Gildenmeister verstecken.
Der zweite Raum war nicht annähernd so schön wie der vorherige. Er war trist und hässlich. Keine Tapeten an den grauen Betonwänden, kein einziges Möbelstück. In einer Ecke zusammengesunken, mit den Knöcheln an einen dicken Eisenring am Boden gefesselt, lag Malachi, reglos. Und neben ihm stand Garret, den Kopf hoch erhoben und offensichtlich stolz auf sein Werk, der Triumph in seinem Gesichtsausdruck unübersehbar.
Dicht, aber nicht zu dicht, wie Ayla auffiel, als sie den Abstand zwischen Garret und seinem Gefangenen abschätzte. Das hieß, Malachi war noch am Leben, zumindest genug, um Garret Vorsicht walten zu lassen.
„Ihr habt nach mir verlangt, hier bin ich“, sagte sie kalt. Ihre Hände wurden zu Fäusten, und sie verbarg sie schnell in den Falten ihrer Robe, damit Garret nicht bemerkte, wie sehr sie all dies in Wirklichkeit mitnahm. „Was war nun so wichtig, dass es nicht bis zu meiner Morgenaudienz warten konnte?“
„Ayla.“ Garret sprach ihren Namen in einem nachsichtigen Tonfall aus, als würde er mit einem Kind sprechen. So wie er es früher immer getan hatte, wenn ihr etwas beim Training nicht gelang oder sie wieder einmal seit längerer Zeit keinen Auftrag mehr gehabt hatte und deswegen frustriert war. Jetzt bereitete es ihm solch ein Vergnügen, in diesem Ton mit ihr zu reden, dass sie sich unwillkürlich vorstellte, die Hand auszustrecken und ihm das Genick zu brechen. Er kam langsam näher, ein Grinsen erschien auf seinem selbstzufriedenen Gesicht. „Hättest du etwa gewollt, dass der ganze Hofstaat den Beweis für deinen kleinen Ausrutscher zu sehen bekommt?“
„Ich sehe keinen Beweis für irgendetwas“, sagte Cedric ruhig. „Nur einen Darkworlder, den Ihr über unsere Grenze geschmuggelt und fast zu Tode gefoltert habt.“
Garrets Wutausbruch kam plötzlich und mit derselben Heftigkeit wie die verheerenden Orkane in der Oberwelt, die alles dem Erdboden gleichmachten. „Wer hat dich gefragt! Wag es nicht noch einmal, mit deinem König zu sprechen, als stündest du mit ihm auf einer Stufe!“
„Er wird so sprechen, wie es ihm beliebt!“ Ayla fixierte Garret mit einem eisigen Blick. „Ich muss Euch wohl nicht daran erinnern, dass Ihr keinesfalls die höchste Instanz seid. Ihr seid der königliche Gefährte, in der Gegenwart der Königin, und Ihr werdet Euch zügeln und Euren Ton mäßigen.“
„In der Gegenwart der Königin?“ Garret lachte und schaute sich zu seinen Wachen um, als erwarte er, dass sie mit einstimmten. Sie wagten es nicht. „Du bist nur deswegen Königin, weil ich dich dazu gemacht habe! Bevor ich den Fehler beging, mich mit dir einzulassen, warst du nichts als eine wertlose Halbelfe, eine unbedeutende Assassine.“ Sein giftiger Blick wanderte zu Cedric. „Und du! Du wärst nie so weit nach oben gekommen, wenn meine Schwester sich dich nicht als ihr kleines Schoßhündchen gehalten hätte. Glaubst du wirklich, du hättest es bis zum Gildenmeister gebracht, ohne dass sie im Hintergrund ihre Fäden spinnt?“
Cedric nickte. „Ja, das glaube ich.“
„Dann bist du noch dümmer, als ich dachte.“
Ayla verlor langsam die Geduld. Es gab im Moment wichtigere Dinge als diese fruchtlose Streiterei. Nämlich, Malachi aus Garrets Gewalt zu befreien. „Wachen“, rief sie. Dann, um etwaige Missverständnisse zu vermeiden: „Meine Wachen. Bringt den Gefangenen in den Kerker. Und lasst nach den Heilern schicken.“
„Halt!“ Garret wandte sich an seine Wachen. „Ihr werdet ihnen nicht erlauben, ihn auch nur anzufassen.“
Ayla fühlte, wie ein plötzlicher Anflug von Panik ihre Brust einschnürte. Wenn Garret sie um jeden Preis davon abhalten wollte, Malachi mitzunehmen, hätte sie ihm nichts entgegenzusetzen. Sie war in Begleitung von nur zwei Leibwächtern gekommen, und darüber hinaus wusste sie sehr gut, welchen Vorteil ein Feind auf seinem eigenen Terrain hatte, selbst wenn er nicht zahlenmäßig überlegen war.
„Ihr könnt einen Gefangenen nicht gegen den Willen der Königin festhalten“, erklärte Cedric, beinahe gelangweilt klingend. „Weist Eure Wachen an, zurückzutreten, oder Ihr werdet wegen Hochverrats angeklagt werden.“
In den Sekunden, in denen Garrets Gesicht tiefrot anlief, seine Augen und Nasenflügel zuckten und seine Fühler vor Zorn vibrierten, verspürte Ayla eine unglaubliche Erleichterung. Er würde es nicht darauf ankommen lassen und sich ihr offen widersetzen, jedenfalls nicht bei einer Sache dieser Größenordnung.
„Wachen“, rief Cedric knapp, dann, mit dem Kopf eine Verbeugung andeutend, „wenn Eure Majestät keine Einwände hat?“
„Nein, ich habe keine Einwände.“ Ihre Stimme blieb fest und ruhig. Sie zeigte nicht die leiseste Spur ihrer tatsächlichen Gefühle. Und sie war stolz und dankbar, dass es so war.
Als ihre Leibwächter Malachi vom Fußboden hoben und jeder von ihnen sich einen seiner Arme um die Schulter legte, um ihn zu stützen, schien er kurz zu sich zu kommen. Er schaute hoch, richtete mit dem einen Auge, das nicht komplett zugeschwollen war, seinen Blick auf Ayla, doch es sah nicht so aus, als ob er sie erkenne. Dann kippte sein Kopf wieder nach vorn, sein Körper hing kraftlos zwischen den beiden Wachen. Sie wankten unter seinem Gewicht, aber es gelang ihnen dennoch, ihn zu halten und zur Tür zu schleppen.
„Eure Majestät“, verabschiedete sich Cedric mit einer kühlen Verbeugung von Garret.
Er gab ihm keine Antwort, sondern verneigte sich steif vor Ayla. „Eure Majestät.“
Ayla drehte sich wortlos um und ging zu ihren Wachen, die an der Tür warteten.
Als sie Garrets Domizil verlassen hatten und Ayla sich vergewissert hatte, dass keiner seiner Bediensteten sie heimlich beobachtete, stoppte sie ihre Leibwächter.
„Ihr bringt ihn nicht in den Kerker. Ich wünsche, dass er in meinen privaten Räumen untergebracht und gut behandelt wird.“ Sie sah Cedric fragend an. „Es gibt doch sicherlich einen geeigneten Platz in meinen Gemächern, an dem dies auf diskrete Weise arrangiert werden kann?“
„Selbstverständlich, Eure Hoheit. Ich werde mich selbst darum kümmern.“ Er bedeutete den Wachen, ihm zu folgen.
„Danke.“ Die Tränen in ihren Augen und das Beben ihrer Stimme kamen für sie selbst überraschend, und sie scheuchte beides fort. „Kommt bitte zu mir, nachdem dafür gesorgt ist, dass die Heiler ihr Möglichstes für ihn tun.“
Cedric verbeugte sich zustimmend. Sie sah ihnen traurig nach, wie sie mit Malachi davongingen. Sie wollte zu ihm laufen, ihn aus seinem Schockzustand aufwecken und ihm versichern, dass niemand ihm mehr wehtun würde. Ihm die Angst und Verzweiflung nehmen, die ihn umgab wie dichter grauer Nebel. Doch sie konnte es nicht. Nicht jetzt. Genauso wenig wie sie ihm ihre Zuneigung hatte zeigen können, bevor sie Königin geworden war. Es würde ihr niemals vergönnt sein, ihre Liebe zu Malachi in der Öffentlichkeit nicht verheimlichen zu müssen.
Sie hatte ein Gefängnis gegen ein anderes eingetauscht.