9. KAPITEL

Der Streifen. Eine Beleidigung für die Sinne. Ein Festgelage der Sünde und des Lasters. Ein Mekka für die primitivsten Seelen – und die niedersten Seelenlosen in der Unterwelt. Malachi bestaunte all dies mit ausgesprochenem Missfallen. Sein Begleiter rief etwas zu der lärmenden Gruppe Sterblicher hinüber, die sich vor einem geschützten Verkaufsstand aufhielt. Kellers Stimme wurde vernommen, seinem Wunsch entsprochen, und er reichte Malachi einen aufgeweichten Pappbecher, der aussah, als wäre er schon einmal benutzt – und möglicherweise ausgespült worden –, obwohl Malachi den zwielichtigen Gestalten hier kaum so viel Hygienebewusstsein zutraute.

„Trink, Kumpel, runter damit“, drängte Keller, ihm mit seinem eigenen Becher kurz zuprostend, bevor er in einem Zug die faulig riechende Brühe in sich hineinschüttete.

Die scharfen Ausdünstungen, die von dem Zeug aufstiegen, stachen förmlich in der Nase. Das würde Malachi unter keinen Umständen trinken. „Ich dachte, du hast mich hergebracht, damit ein Heiler sich meiner annimmt, und nicht, um mich zu vergiften.“

„Wir sind ja auf dem Weg zu ihr“, sagte Keller mit einem Achselzucken. „Aber wenn wir schon da sind, können wir uns von ihr auch gleich den Leberschaden wieder in Ordnung bringen lassen. Das Ganze soll ja schließlich sein Geld wert sein, was?“

Tauschhandel. Die zweite bizarre Macht, welche das Leben der Sterblichen bestimmte. Wie hatte er das vergessen können. „Ich habe kein Geld“, erklärte Malachi unverhohlen, wobei er Keller das wabbelige Gefäß entgegenhielt. „Weder um dieses Getränk zu bezahlen, noch für einen Heiler.“

„Die Drinks gehen auf mich“, sagte Keller, während er interessiert den Becher beäugte. „Es sei denn, du willst deinen wirklich nicht.“

Malachi überließ ihm das stinkende Gebräu und sah angeekelt zu, wie der Mensch auch dieses mit einem einzigen Zug hinunterkippte. Keller machte ein glucksendes Geräusch und riss die Augen auf, ehe er sie gleich darauf fest zusammenkniff. Dann schüttelte es ihn, und er sah aus wie jemand, der nach dem Genuss einer Überdosis jeden Moment das Zeitliche segnen würde, bevor er ein zufriedenes „Ah“ von sich gab.

„Keine Sorge, diese Heilerin arbeitet nicht nur wegen des Geldes“, beruhigte er Malachi, seine Stimme rau und kratzig, als hätte er sich den Hals verätzt. „Na ja, bei mir vielleicht schon, aber von dir wird sie nichts verlangen. Sie hat ein Faible fürs Ungewöhnliche, und ich wette, so einer wie du ist ihr noch nie untergekommen.“

„Es gibt viele gefallene Engel“, sagte Malachi trocken. Und warum? Was genau war es nur, das seinesgleichen immer wieder dazu verleitete, freiwillig ihre Unsterblichkeit aufzugeben? Die Körper der verdorbenen Frauen, menschliche sowie auch anderen Rassen Zugehörige, die sich in provozierender Weise am Straßenrand präsentierten? Hätte irgendein Geschöpf vor seinem Fall solch ein Verlangen in ihm auslösen können?

Ja, flüsterte sein Unterbewusstsein ihm zu. Ein ganz bestimmtes. Und erneut flackerte seine Wut auf, bei dem Gedanken an nasses rotes Haar, das auf der Wasseroberfläche trieb, und wilde, glänzende Augen, die zu ihm hochblickten und ihn anstarrten.

„Sterbliches Blut“, murmelte er ärgerlich zu sich selbst. Doch abermals wallte, ohne dass er es verhindern konnte, dieses brennende Begehren in ihm auf. Es war so stark, dass ihm der Atem in seinen frisch menschlich gewordenen Lungen stockte, überkam ihn, als er sich unwillkürlich vorstellte, ihren blassen Hals mit seinen großen Händen zu packen und zuzudrücken, fester und fester, bis die zerbrechlichen Knochen und Sehnen darin zerbarsten und die Lebenskraft aus ihrem Körper sprudelte. Unsterbliche Rasse oder nicht, diese Elfe hatte sterbliches Blut in sich. Er könnte sie also töten. Würde sie töten. Er würde einen Weg finden.

Keller setzte sich wieder in Bewegung und führte ihn weiter durch die belebten Gänge, wobei sie problemlos vorankamen, denn bei Malachis Anblick teilte die Menge sich wie von selbst und machte ihnen Platz. Neugieriges Flüstern folgte den beiden, Hunderte Augenpaare schienen auf sie geheftet zu sein, und hin und wieder schnellte eine unverschämte Hand hervor, um die Absonderlichkeit zu berühren, die Malachi darstellte.

„Haben die noch nie ein Wesen mit Flügeln gesehen?“, brummte er, schuppige blaue Finger beiseiteschubsend, die sich um seinen Oberarm geschlossen hatten.

Unbeeindruckt von der Aufmerksamkeit, die sie erregten, marschierte Keller weiter, an einer Gruppe auffallend blasser Menschen vorbei. „Nicht solche Flügel wie deine. Ich muss sagen, die sind mir wirklich gut gelungen. Hey, nimm dich vor denen da in Acht, das sind Vampire.“

Die erwähnten Kreaturen rissen wie auf ein Stichwort hin ihre Münder auf und fletschten blitzende, sehr spitz aussehende Zähne. Einer von ihnen, ein weiblicher Vampir mit raspelkurzem Haar und in einem engen Ledermieder, das den Busen fast bis zum Hals hochquetschte, machte einen Schritt auf Malachi zu und legte ihm eine Hand auf die Brust. Sie war rau und eiskalt.

„Na, wollen wir ein bisschen spielen, hübscher Flattermann?“ Sie lachte, dabei entblößte sie gelbliche, bedrohlich lange Fangzähne. Dann beugte sie sich vor, ihr offener Mund nur Zentimeter von Malachis Kehle entfernt. „Komm schon, du weißt, dass du es willst.“

„Ich kann den Tod an dir riechen, gottlose Kreatur“, flüsterte er ihr ins Ohr. Die Blutsaugerin schreckte mit einem zischenden Laut zurück, als ob sie sich an etwas Heißem verbrannt hätte.

„Rührt ihn nicht an, er ist ein Todesengel!“, kreischte sie, worauf die übrigen Vampire in Gelächter ausbrachen.

Einer, ein männlicher Glatzkopf mit blauer Tätowierung auf der Stirn, versetzte ihr einen Stoß, sodass sie rückwärts taumelte. „Er ist sterblich, du dumme Pute.“ Wieder lachten die anderen lauthals. „Was könnte er also tun? Außer ein fettes Mahl für uns abgeben?“

„Ich werde kein Mahl für euch abgeben“, warnte Malachi, Kellers Zupfen an seinem Ärmel ignorierend.

„Wir sollten jetzt besser keinen Streit vom Zaun brechen“, bekniete der Bio-Mech ihn und versuchte ihn fortzuziehen. „Nicht mit Gegnern, die ein ganzes Waffenarsenal im Mund mit sich rumtragen. Es sollte besser noch was von dir übrig sein, wenn wir bei der Heilerin ankommen, sonst war der ganze Ausflug umsonst.“

Der kahle Vampir grinste breit. „Hör lieber auf deinen feigen Freund. Er weiß, wovon er redet.“

Ein großer Schlaksiger mit langen schwarzen Haaren fauchte Keller an, Malachi machte einen Satz rückwärts und wäre beinahe gestürzt, als er reflexartig versuchte, sich an irgendetwas festzuhalten.

„Wäre ich nicht sterblich …“, begann Malachi, dann erkannte er seinen Irrtum. Wäre er nicht sterblich, hätte er nicht einmal über den freien Willen verfügt, diesen seelenlosen Kreaturen ein Leid anzutun.

Der Vampir wusste das auch. Er lachte und packte seine Begleiterin am Handgelenk. Mit einem Grollen in Malachis Richtung sagte er: „Aber du bist es. Und wenn wir uns das nächste Mal begegnen, werde ich dafür sorgen, dass du es nicht wieder vergisst.“

„Ja, sehr freundlich“, japste Keller, praktisch vor dem Wesen auf dem Boden rutschend, so tief verbeugte er sich. „Danke für die Warnung. Mac, lass uns hier verschwinden.“

Er sagte keinen Ton mehr, bis sie ein gutes Stück Abstand zwischen sich und die Gruppe Vampire gebracht hatten. „Versuchst du absichtlich, dich abmurksen zu lassen, oder ist das eine deiner göttlichen Gaben, für die du nichts kannst?“

„Ich habe keine Sympathie für die Untoten.“ Und warum sollte er auch? Ihre Seelen waren in dem Moment zerstört worden, in dem sie sich für ein ewiges Dasein auf der Erde entschieden und damit die Verheißung, eines Tages in den Himmel aufzusteigen, für immer ausgeschlagen hatten. Vielleicht weniger eine Verheißung denn ein weit entfernter Wunschtraum, aber das war keine Entschuldigung. Umherwandelnde Körper ohne Seele waren unrein, verdorben.

Keller drehte sich um und stoppte ihn, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte. Das Gesicht des Menschen, sonst meistens ausgesprochen gelassen, nahm einen Ausdruck furchtsamer Ernsthaftigkeit an. „Sympathie oder nicht, du bist nicht mehr unzerstörbar, Mann. Und ich bin es noch nie gewesen. Also tu mir einen Gefallen, so wie ich dir schließlich auch einen tue, und leg es nicht mehr drauf an, dass uns ganz gewaltig der Arsch aufgerissen wird.“

Sie trotteten weiter durch die umherwuselnden Massen. Nach kurzer Zeit hatten sie schon wieder einen Rattenschwanz neugieriger Schaulustiger im Schlepptau. Das Geschiebe und Geschubse in den engen, überfüllten Gassen wurde immer schlimmer. Malachi mochte es nicht, von so vielen Augenpaaren beobachtet zu werden.

„Dieser Ort beginnt mich zu ermüden. Wo ist dieser Heiler?“

„Gleich da vorne“, rief Keller ihm über die Schulter zu.

„Siehst du, da oben? Das ist das Zeichen der Heiler.“

Über die Köpfe der Kreaturen hinweg konnte Malachi eine Reihe ansteigender, halb gestrichener Metallstangen erkennen, die eine Treppe aus grob zusammengezimmerten Holzplatten stützten. Eine zweite Ebene mit Buden und kleinen Läden war über diesen Zugang erreichbar, wobei es dort weniger überfüllt zu sein schien als unten.

„Der Laden mit der blauen Hand. Das ist ihrer“, sagte Keller und griff nach dem Geländer der Treppe. Er kämpfte sich die steilen Stufen hoch, ohne auf Malachi zu warten. Das hätte er auch nicht gekonnt, denn dann wäre er wahrscheinlich totgetrampelt worden. Obwohl sich das Gedränge auf der oberen Ebene in Grenzen hielt, wurde der Strom derer, die hinauf- oder hinunterwollten, auf einen schmalen Raum zusammengepresst, und dieser Strom bewegte sich unaufhaltsam in beide Richtungen vorwärts. Stehen zu bleiben wäre lebensgefährlich gewesen.

Sich am Geländer festklammernd erklomm auch Malachi mit zitternden Knien eine Holzplanke nach der anderen. Klettern war nicht dasselbe wie Fliegen. Es machte ihn nervös, so weit oben zu sein, ohne dabei den beruhigenden Widerstand der Luft unter seinen Flügeln zu spüren. Aber das war ohnehin nur eine Illusion gewesen, nicht wahr? Er hatte sich niemals vom Wind tragen lassen. Sein stofflicher Körper hatte nie wirklich existiert, er war nur ein Trugbild für diejenigen, deren Seelen er sammelte. Ein Todesengel bewegte sich nur deshalb durch die Lüfte, weil es eben so sein musste. Wieder fragte er sich, ob er in dieser menschlichen Hülle wohl überhaupt noch fliegen könnte.

Das Zeichen der Heiler war eine Anordnung aus leuchtenden blauen Röhren, in die Form einer Hand gebogen. In deren Mitte waren noch heller strahlende Röhrchen eingelassen, gelbe und pinkfarbene, die ein offenes Auge formten, das zu flackern begann, als Keller und Malachi sich näherten. Die Tür bestand aus einem schwarzen, über einen Metallrahmen gespannten Gewebegitter mit einer auf Hüfthöhe waagerecht angenagelten Latte als Griff. Ein schwerer, rauchiger Geruch drang nach außen. Keller zog die Tür auf und scheuchte Malachi hinein.

Ein schummriger Raum, in den Ecken weitere, gerade Leuchtstäbe. Allerdings schwarze, die ein unheimliches lilablaues Licht verbreiteten. Die Wände waren in Blau, Gelb und Pink gestrichen, die Farben glühten, als würden sie von innen angestrahlt werden, wie das Zeichen draußen. An einer der Wände war eine Reihe Stühle aufgestellt, die am Durchgang zu einem kurzen Flur endete. Dort wiederum gab es noch mehr Türen, alle geschlossen und mit denselben seltsamen Symbolen bemalt, die auch den Eingangsbereich zierten. Im Zentrum des Hauptraumes stand ein Podest aus Holz. Darauf saß, in der Mitte eines schimmernden Kreises, eine ältere Frau mit kurzem weißen Haar, bekleidet mit einem lockeren weißen Gewand, die Augen geschlossen. Sie zeigte keine Reaktion, als die beiden eintraten.

„Was geschieht jetzt?“, fragte Malachi, seine Stimme wirkte viel zu laut und gewaltig für die gedämpfte Atmosphäre. Sie hallte von den gestrichenen Steinmauern wider und wurde von der hohen Decke zurückgeworfen.

„Kannst du vielleicht mal …“, brachte Keller ihn, begleitet von einer raschen Handbewegung, zum Schweigen. In einem deutlich ruhigeren Ton sagte er dann: „Setz dich hin. Wenn sie bereit ist, sich mit uns zu befassen, wird sie es schon sagen.“

Die Stühle waren alle leer. Malachi entschied sich für den am dichtesten neben der Tür gelegenen und starrte die Frau ungeduldig an. Sie schien nicht bemerkt zu haben, dass sie Gesellschaft hatte, sondern verweilte in ihrer meditativen Pose, die Beine locker im Schneidersitz übereinandergeschlagen, das Gesicht zum Himmel emporgehoben.

Es wurde ein langes Warten. Malachi rutschte auf seinem Stuhl hin und her und versuchte herauszufinden, in welcher Position seine Flügel ihn am wenigsten störten, klemmte sie dabei ein und keuchte erschrocken auf. Letztlich kam er zu dem Schluss, dass es die beste Lösung war, wenn er die Füße anzog, sie auf den Rand der Sitzfläche stellte und seine Flügel lose hinter sich hängen ließ.

„Hey, pass auf mit den Dingern“, flüsterte Keller scharf. „Sei einfach still, okay?“

„Dein Freund verfügt nicht über die Gabe, die man Geduld nennt“, bemerkte eine weiche weibliche Stimme, und Malachi drehte den Kopf zu der Frau auf dem Podest. Obwohl ihre Augen weiterhin geschlossen waren, hob sie einen Arm, um ihn zu sich zu winken.

„Los, geh“, drängte Keller und gab ihm einen leichten Schubs gegen die Schulter, worauf Malachi umständlich von seinem Stuhl kletterte.

Um das Holzpodest herum waren mehrere Kissen arrangiert. Malachi kniete sich auf eines von ihnen und überlegte, ob es wohl eine Sünde wäre, sich ein wenig vor ihr zu verbeugen, und ob ihm das als Anbetung eines falschen Gottes ausgelegt werden könnte.

„Du bist dabei, dir mächtige Feinde zu machen, auch wenn du es jetzt noch nicht weißt“, begann sie unvermittelt. „Handle mit Bedacht.“

„Man hat mich bereits vor den Vampiren gewarnt.“ Für kryptische Botschaften hatte Malachi nicht allzu viel übrig.

„Ich spreche nicht von den Vampiren. Andere, stärkere. Geflügelte Krieger, die dich vernichten wollen.“

Die Engel, die seine Flügel zerstört und ihn aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen hatten. Ja, in der Tat, sie verfügte über die außergewöhnliche Fähigkeit, ihm zu erzählen, was in der Vergangenheit geschehen war. „Ich habe kein Interesse an deinen törichten Vorhersagen. Ich bin hier, damit du mich heilst.“

Sie öffnete die Augen. „Du wünschst, geheilt zu werden.“

Er nickte. „Du bist doch eine Heilerin, oder etwa nicht?“ „Ich beherrsche die Heilkunst, ja, doch das, was du möchtest, kann ich nicht vollbringen. Dich wieder zu dem zu machen, was du einst gewesen bist, ist unmöglich.“ Sie machte die Augen wieder zu, wie um zu signalisieren, dass die Unterredung beendet war. „Du bist geheilt, zumindest insoweit, als ich dir behilflich sein kann.“ Keller war auffallend schweigsam, bis sie wieder bei der wackeligen, überfüllten Treppe waren. Sie drückten sich so nah wie möglich an eine Gebäudewand, der Fluss ungewaschener Körper kreiste mit lauten Unmutsäußerungen um sie herum.

Keller kratzte wie so oft die Metallplatte über seinem Ohr und fragte schließlich: „Was hat sie gemeint? Feinde, die dich vernichten wollen? Was für Feinde?“

„Das sind ihre Lügen und Blendwerk, um sich als übernatürlich darzustellen.“ Hätte er die Antwort auf die Fragen des Menschen nicht bereits gekannt, wären sie ihm vielleicht nicht so lästig gewesen. Er kämpfte sich vorwärts und fügte sich irgendwie in das wirre Muster des vorbeiziehenden Verkehrs ein, hoffend, in die Richtung zu gehen, aus der sie vorhin gekommen waren. Erleichtert erkannte er, dass es so war, als er die erste Planke der Treppe betrat.

„Hey, warte auf mich!“ Keller wurde von einer ausgesprochen gemächlich schlurfenden Ogirin vor ihm aufgehalten, die sich bei seinem Ausruf allerdings blitzartig umdrehte, ihn anfauchte und drohend die knochigen Stacheln aufstellte, die aus ihrem Rücken ragten. Malachi blieb nicht stehen, um auf den Menschen zu warten. Er hatte es eilig, den Streifen hinter sich zu lassen und in die vertraute Dunkelheit und Isolation der Darkworld zurückzukehren.

Zu seiner Ernüchterung musste er bald feststellen, dass er die Schilder an den Tunneleingängen, die aus der neutralen Stadt herausführten, nicht entziffern konnte. Das Aussehen der Kreaturen, die in verschiedene Tunnel einbogen, war der einzige für ihn brauchbare Hinweis, und so folgte er in einigem Abstand einer Gruppe menschlicher Vagabunden.

Es war gut, allein zu sein, Zeit zum Denken zu haben. Der Mensch konnte ihm, nachdem er ihm beigebracht hatte, wie man sich als sterbliches Wesen verhielt, nicht mehr von Nutzen sein, und dies war ein ebenso praktischer Weg wie jeder andere, der Malachi einfiel, ihn loszuwerden. Jetzt, mit dem nötigen Wissen ausgestattet, das er brauchte, um in dieser Welt zu überleben, könnte er sich darauf konzentrieren, diese Elfe zu finden und sie anschließend zu töten.

Und wenn dieses Ziel erreicht ist, was dann? spottete eine Stimme, die er nie zuvor gehört hatte, eine Stimme, die seiner eigenen, menschlichen, erschreckend ähnlich klang. Selbst nachdem du sie getötet hast, wirst du trotzdem noch immer ein Sterblicher sein.

Die Stimme hatte ärgerlicherweise recht. Was bliebe ihm, sobald er die Elfe, die für seine Verbannung verantwortlich war, dafür hatte büßen lassen? Er konnte nicht zum Schöpfer zurückkehren. Niemals würde er einen der Seinen wiedersehen, bis zu dem Tag, an dem sein sterblicher Körper endgültig verfiel und seine Seele freigab. Und dann wäre dies alles, was von ihm übrig war, um zum Äther gebracht zu werden und dort zusammen mit all den anderen gefangenen Seelen auf die Wiederkehr des Allmächtigen zu harren.

Die Ätherkugel leuchtete vor seinem geistigen Auge auf, funkelnde blaue und grüne Lichtschwaden hinter einer glänzenden Oberfläche wie poliertes Glas. Natürlich gab es in Wirklichkeit keine Oberfläche, und die Seelen, milchig und dem Anschein nach flüssig, so wie sie umherschwebten, übereinander und ineinander verschlungen, wurden durch keinen anderen Behälter dort gehalten als dem jedem sterblichen Wesen innewohnenden Wunsch, ins Reich Gottes zurückzukehren. Ihre Anzahl vervielfachte sich täglich, und mit ihr wurde der stoische menschliche Wille, der sie bleiben ließ, mit jedem Tag schwächer, solange bis – wie Malachi sich vorstellte – die Kugel einfach zerbersten würde, wie eine Seifenblase es wohl tat.

Als Engel war es für ihn selbstverständlich gewesen, dass alles möglich war und das Universum keine Grenzen kannte. Doch jetzt, zu seiner großen Bestürzung, konnte er nicht einmal mehr daran glauben, dass die Ätherkugel solch einer Überlastung für immer standhielt. Sein Geist war von den physikalischen Gesetzen der Welt der Sterblichen eingepfercht worden.

Angewidert starrte er im Gehen hinunter auf seine Füße, hässlich und rechteckig, mit Zehen, auf denen seltsame kleine Haare sprossen. Die Laute der Menschen vor ihm wurden leiser, als sie sich immer weiter entfernten, und er lauschte stattdessen dem Tropfen des schmutzigen Wassers, das von den Tunnelwänden perlte, während sein Weg ihn tiefer in die Darkworld führte.

An einer Kreuzung vernahm er einen neuen Ton, der ihn faszinierte. Stahl, der auf Stahl traf, vergängliche Kreaturen im Kampf. Obwohl sein Körper sterblich geworden war, trieben seine Instinkte ihn dichter an das Geschehen heran, auch wenn er sich damit selbst in Gefahr brachte. Er sah die Öffnung eines dunklen Tunnels, spärlich erhellt von einer flackernden grünlichen Flamme, es war die Abzweigung, welche die Menschen genommen haben mussten. Daneben die andere, aus der ein wärmeres Licht drang und die prägnanten, aufgeregten Geräusche des Konflikts, die ihn magisch anzogen.

Vorsichtig schlich er weiter in die Richtung, aus der das Lärmen des Gefechts hallte.

Dieser Tunnel war trocken und leicht ansteigend, und keine welligen Reflektionen aufgewirbelten Wassers huschten über die Wände. Goldene Kreise aus hellem elektrischen Licht leuchteten um ihre winzigen gläsernen Quellen herum, in regelmäßigen Abständen an Kabeln hängend, die aus Malachis Sichtfeld schwangen, als er sich darunter hindurchduckte. Ein Hauch von Blut lag in der Luft. Möglicherweise könnte er jene Vampire anlocken, vor denen der Mensch ihn gewarnt hatte, doch er würde keine anderen Todesengel auf den Plan rufen. Der Geruch war seelenlos, nicht menschlich. Er lächelte verächtlich bei dem Gedanken an all die armseligen Geschöpfe, im Grunde kaum mehr als Tiere, und ihren absurden Kampf um die Welt da oben.

Ein arroganter Ausdruck fühlte sich gut auf seinem Gesicht an. Er sollte ihn ab jetzt vielleicht öfter benutzen.

Als er sich näherte und die Geräusche lauter wurden, tauchten an den Wänden schwarze Schatten auf. Ein langer, wendiger Schatten, der zwischen mehreren breiten und sich schwerfällig bewegenden Schemen umherzutanzen schien. Er sprang, schnellte vor, duckte sich, beinahe spielerisch. Was für eine Kreatur war das, die in dieser düsteren Darkworld voller Widerwärtigkeiten solch eine Eleganz, Können und Schönheit im Kampf vereinte?

Als es abermals einem Hieb auswich, konnte er einen kurzen Blick auf das Wesen werfen, und Wut begann in seinen Adern hochzukochen. Die Lichtquelle über ihrem Kopf warf einen goldenen Schimmer auf ihre flammend roten Haare, die hinter ihr auf und nieder hüpften, während sie ihren kriegerischen Tanz fortführte. Ihr Körper war unglaublich klein. Würde sie neben ihm stehen, hätte ihr Kopf ihm gerade einmal bis zur Schulter gereicht. Und ihre Arme, wenngleich muskulös und mit großer Kraft das gewaltige Schwert schwingend, wirkten dünn und zerbrechlich im Vergleich zu seinen eigenen. Ihre Haut war so weiß, dass sie beinahe durchsichtig aussah, und zwei leuchtende Fäden, die sich scheinbar unabhängig vom Rest bewegten, lugten unter ihren Haaren hervor. Groteske lederartige Flügel lagen zusammengefaltet an ihrem Rücken an, und es juckte Malachi förmlich in den Händen, danach zu greifen, sie aus ihrem Körper zu reißen, genauso wie ihm von ihr seine genommen worden waren.

Vorausgesetzt, die Monster, gegen die sie kämpfte, kamen ihm nicht zuvor. Es waren riesige Kreaturen, wie lebendig gewordene Felsen, doppelt so groß wie die Elfe, dabei zwar langsam und ungeschickt, aber extrem stark, mit Waffen, die ihre zarte Gegnerin mit einem Hieb zerschmettern oder einfach in zwei Hälften zerteilen könnten. Sie sprang zwischen ihnen hin und her, teilte flinke, herausfordernde Schläge mit ihrem Schwert aus, immer in Reichweite der monströsen Klauen, die wie polierte steinerne Klingen im Licht aufblitzten.

Sie stieß einen triumphierenden Schrei aus, als sich ihr Schwert in den Hals einer der Bestien bohrte. Die Muskeln unter ihrer blassen Haut spannten sich an, sie riss die Waffe schräg nach unten und trennte den hässlichen Kopf des Wesens ab, schnell und sauber. Ein anderes Monster packte ihren Arm, und feine Spritzer ihres Blutes klatschten an die Wand hinter ihr.

Malachis sterbliches Herz schien für einen Moment auszusetzen. Er war so dicht dran, die Chance für seine Rache greifbar nah. Sie durfte ihm jetzt nicht wieder genommen werden.

Die Wunde war so tief, dass man den Knochen sehen konnte. Sie starrte für einen Sekundenbruchteil ihre Verletzung an, dann richtete sie den Blick wieder auf ihre heimtückischen Angreifer und lachte laut. Es war ein kaltes Lachen, eine Mischung aus klingenden Glocken, rauschendem Wasser und eisigem Wind, der heulend durch hohe Baumkronen strich. Dann machte sie einen Satz nach vorn, in ihren Bewegungen noch schneller. Eine der verbliebenen Kreaturen fiel zu Boden, ehe Malachis Augen überhaupt den flammend roten Lichtstreifen richtig registriert hatten, der ihre blitzartige Drehung begleitete, als sie ihren Gegner niederstreckte. Erst jetzt wurde ihm klar, dass alles, was er bisher gesehen hatte, nur Vorgeplänkel gewesen war. Sie hatte gar nicht richtig gekämpft, sondern nur mit ihnen gespielt.

Binnen weniger Augenblicke war alles vorüber, so schnell, dass Malachi Mühe hatte, zu begreifen, was sich da gerade abgespielt hatte. Er ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken, nach wie vor im Schutz der Dunkelheit verborgen, in Sicherheit vor der winzigen tödlichen Gestalt im Schein der Glühbirne über ihrem Kopf. Starr, reglos, das Schwert noch immer in den Händen haltend, in der Position ihres letzten tödlichen Hiebes eingefroren – dessen Opfer schon lange gefallen war, das gurgelnd und keuchend sein Leben aushauchte –, strahlte sie eine seltsame Schönheit aus, wie sie dastand, in Blut gebadet.

Doch schon im nächsten Moment war diese Schönheit verschwunden, als sie ihre Schultern und Arme sinken ließ, aus ihrer Wunde weiterhin Blut strömend, und ihr Kinn nach vorn auf ihre Brust sackte. Ein scharfer Atemzug drang stockend aus ihrer Kehle. Ohne aufzusehen, sagte sie: „Ich weiß, dass du hier bist, Darkworlder.“

Ihre Worte klangen wie das Rascheln vertrockneter Blätter, begleitet von dem Knacken einer brechenden Eisschicht, und es bereitete Malachi große Schwierigkeiten, ihren Sinn zu entschlüsseln. Der fortschreitende Verlust seiner Fähigkeit, jede Sprache zu verstehen, traf ihn wie ein Stich, und ihm war, als würden die Wunden an seinen Flügeln, die der Mensch notdürftig geschlossen hatte, erneut aufreißen. Was würde er noch verlieren? Seine Erinnerungen schienen weit weg, unwirklich.

„Geh, Darkworlder“, sprach sie weiter, ihm und den Schatten, in denen er sich versteckte, den Rücken zugewandt. Sie schwang ihre gewaltige Waffe über ihre Schulter, trat aus dem Lichtkegel und ging langsam tiefer in den Tunnel hinein. „Wenn ich dich noch einmal sehe, werde ich dich töten.“

Diese Warnung brachte sein Blut zum Kochen, zwang seine Füße, ihr zu folgen. Sie wagte es, ihm Befehle zu erteilen, einem Geschöpf, aus Gottes Geist erschaffen, als ob er sie fürchten müsse? Er würde sie mit bloßen Händen zu Brei zerquetschen.

Doch als er die Lichtquellen an der Decke hinter sich gelassen hatte und in die Dunkelheit hetzte, war sie wie vom Erdboden verschluckt.