24. KAPITEL

In den frühen Morgenstunden kam jemand, um Malachi abzuholen. Keine von Aylas Leibwachen und auch nicht Ayla selbst. Es war ein Elf, der für seine Rasse ungewöhnlich muskulös und bedeutend größer war als jeder der anderen, die Malachi bisher gesehen hatte, dabei aber immer noch kleiner als er, mit hellem Haar und ebensolchen Augen.

Als er die Tür geöffnet und den Raum betreten hatte, war Malachi jäh aus seinem unruhigen Schlaf erwacht, im ersten Moment überzeugt davon, es sei Ayla, die zu ihm kam, um alles zurückzunehmen, was sie gestern gesagt hatte. Die Enttäuschung, die er kurz darauf beim Anblick des fremden Elfen empfand, war nicht so groß gewesen, wie sie es, im Nachhinein, eigentlich hätte sein müssen. Sollte er sich also letztlich doch mit seinem Unglück abgefunden haben?

„So, du bist also hier, um mich fortzubringen.“

Er hat nicht damit gerechnet, dass der Elf ihn verstehen würde, und umso mehr überraschte es ihn, als dieser etwas darauf erwiderte, noch dazu ohne den geringsten Anflug des eigentümlichen Akzents, den er von Ayla gewohnt war, wenn sie die Menschensprache gebrauchte.

„Sie lässt dir dies hier schicken“, sagte er, einen Lederbeutel von seiner Schulter streifend, den er Malachi entgegenhielt. „Du findest darin Kleidung, etwas Geld und eine Waffe.“

„Ich weiß nicht, wie man Waffen benutzt.“ Er zupfte an seinem zerfledderten Hemd. „Und die Kleider, die ich habe, erfüllen ihren Zweck.“ Aber er nahm den Beutel dennoch und schwang ihn über seine Schulter. „Du sprichst wie ein Sterblicher.“

„So wie du.“ Es war die einzige Antwort, die der Elf ihm zu geben bereit zu sein schien. „Wir müssen jetzt gehen.“

Sie marschierten zügig und ohne Umwege durch den Palast. Die Hallen waren wie ausgestorben.

„Wo sind alle?“ Als die Krieger ihn in den Kerker gebracht hatten, waren unzählige Schaulustige da gewesen, die ihre Hälse reckten, um die bestmögliche Sicht auf den in Ketten gelegten Darkworlder zu haben, der an ihnen vorbeigetrieben wurde.

„Davongelaufen. Sie haben Angst, als Verräter hingerichtet zu werden, sollte Garret gewinnen.“ Der Elf sah ihn nicht ein einziges Mal an, während er mit ihm sprach, sondern richtete seinen Blick stur geradeaus.

Malachi schnalzte sarkastisch mit der Zunge. „Ich hatte gedacht, sie würden sich das Spektakel nicht entgehen lassen. Deine Rasse scheint doch ganz versessen darauf zu sein, andere leiden und sterben zu sehen. Warum bist du nicht auch weggerannt und hast dich in Sicherheit gebracht?“

Die letzte Bemerkung war als Beleidigung gedacht gewesen, aber anstatt wütend zu werden, warf der Elf den Kopf in den Nacken und lachte. „Du hast eine höhere Meinung von meiner Rasse als ich.“ Dann verschwand der amüsierte Ausdruck aus seinem Gesicht. „Ich würde meine Königin niemals im Stich lassen, schon gar nicht in Zeiten wie diesen, in denen sie meine Hilfe am dringendsten braucht.“

Sie liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, und die Worte des Elfen gingen Malachi noch lange durch den Kopf. Dachte er etwa, dass Malachi die Königin im Stich ließ? Das wäre ihm unerträglich, für einen egoistischen Feigling gehalten zu werden, wo er sie praktisch angebettelt hatte, ihn an ihrer Stelle kämpfen zu lassen, und sein Herz schwer von Trauer war, weil er nicht bei ihr sein konnte. Jetzt, wo sie ihn am dringendsten brauchte.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, so wie Keller es in diesem Moment tun würde, wäre er jetzt hier, sagte der Elf plötzlich: „Ich weiß, dass du gern an ihrer Seite geblieben wärest, aber sie kann nicht anders, als den steinigsten Weg zu wählen. Es ist ein Drama, das in seiner Tragik alles übersteigt, was der fantasiebegabteste Barde je ersinnen könnte. Sie zweifelt so sehr an der Liebe ihres Volkes zu ihrer Königin, dass sie glaubt, es würde ihr nicht einmal eine kleine Sünde vergeben wie die, einen Darkworlder im Palast zu verstecken.“

„Ich bin nicht nur irgendein Darkworlder.“ Zum ersten Mal störte er sich an dieser Bezeichnung. Vielleicht lag es daran, dass Ayla ihn ständig so nannte. Zu hören, wie jemand anders ganz selbstverständlich den gleichen Ausdruck benutzte, missfiel ihm jedenfalls, aus welchem Grund auch immer. „Für deine Rasse sind alle, die außerhalb eurer Lightworld leben, automatisch böse oder minderwertig. Aber ich hatte das große Glück, einem Menschen zu begegnen, der tausendmal besser war als jeder, den ich hier kennengelernt habe. Eure Königin eingeschlossen, wie es aussieht.“

Wieder reagierte der Elf unerwartet gelassen. „Nun, es steht dir frei, diesen Menschen aufzusuchen, sobald du unsere entsetzliche Welt verlassen hast.“

„Er ist von euren Kriegern kaltblütig abgeschlachtet worden“, zischte Malachi bitter, die Hand, mit der er den Gurt des Beutels hielt, zur Faust ballend.

Der Elf nickte. „Das tut mir leid.“ Sie befanden sich bereits außerhalb des Palastes und bei einem der Eingänge des verzweigten Tunnelsystems der Lightworld, als er schließlich sein bedrücktes Schweigen brach. „Auch ich hatte schon einmal Kontakt mit Menschen, lange bevor wir Elfen uns plötzlich im Untergrund wiedergefunden haben. Es waren gute, aufrechte Zeitgenossen mit sehr ausgeprägtem Rechtsbewusstsein. Aber du musst wissen, dass die Lebensart der Elfen nicht in menschliche Maßstäbe gepresst werden kann. Sie ist zu urtümlich und fremdartig für einen Sterblichen, als dass sein Verstand die Hintergründe wirklich erfassen könnte.“

„Mein sterblicher Verstand kann erfassen, dass Ayla mich liebt, es aber nicht zugeben will“, sagte Malachi leise. „Ich verstehe nur nicht, warum. Vielleicht erscheint uns eure Lebensart nicht wegen ihrer Urtümlichkeit so seltsam, sondern weil wir ihre Mängel erkennen können, die ihr nicht seht.“

Diese Sichtweise schien dem Elf zu denken zu geben. Seine Fühler zuckten und vibrierten leicht, wie Aylas es taten, wenn sie nachdachte. Es dauerte eine Weile, bis er etwas erwiderte. Entgegen Malachis Erwartung versuchte er nicht, die unergründlichen Wege seiner Art zu verteidigen. „Ja, sie liebt dich. Dessen bin ich mir sicher. Und es ist eben diese Liebe, die sie dazu zwingt, sich von dir zu trennen.“

„Damit ich nicht verletzt werde“, seufzte Malachi resigniert. „Ich weiß, das hat sie mir oft genug gesagt.“

Der Elf schüttelte den Kopf. „Nicht nur deswegen. Das ist einer ihrer Beweggründe, aber nicht der alleinige.“

In der Ferne tat sich vor ihnen die Öffnung des Tunnels auf, an dessen Ende der Streifen lag, von wo aus das Stimmengewirr und die Gerüche der geschäftigen neutralen Zone schon vage zu ihnen herübergeweht wurden. Doch anstatt weiter darauf zuzugehen, blieb der Elf auf einmal stehen und sah Malachi zum ersten Mal, seit sie seinen geheimen Unterschlupf verlassen hatten, direkt ins Gesicht.

„Du weißt nicht viel über Aylas Vergangenheit. Sie spricht nicht gern davon, und auch mein Wissen beschränkt sich auf das, was Garret mir erzählt hat, als er ihr Mentor war. Sie hat ein hartes Leben geführt, Malachi. Und sie ist noch sehr jung. Sie weiß nicht, dass Liebe nicht nur Verlust und Schmerz bedeutet.“ Er gab Malachi ein Zeichen, sich hinzusetzen. Das war leichter gesagt als getan auf dem nackten Boden, auch wenn es dem Elf offenbar keine Probleme bereitete, seine Flügel so zu falten, dass sie nicht im Weg waren. Malachi knickte unbeholfen in den Knien ein und senkte vorsichtig den Oberkörper ab, bis seine Flügelspitzen sich in den lockeren Sand des Tunnelbodens gruben.

„Ayla lebt erst seit fünf Jahren in der Lightworld. Sie zählt nicht einmal zwanzig vollendete Menschenjahre. Nach unserer Zeitrechnung ist sie praktisch noch ein Kind, verglichen mit dem Alter vieler von uns ein Baby. Aber sie ist zur Hälfte ein Mensch und nicht hier im Elfenreich aufgewachsen.“

„Warum nicht?“, fragte Malachi.

„Ihre Mutter war eine Angehörige des Hofes von recht niedriger Stellung. Sie bändelte hin und wieder mit den menschlichen Bewohnern des Streifens an. Irgendwann wurde mit einem von ihnen etwas Ernsteres daraus, und sie blieb bei ihm, bis sie Ayla zur Welt brachte. Doch kurz nachdem das Baby geboren war, kehrte sie in die Lightworld zurück. Ich glaube nicht, dass sich heute überhaupt noch jemand an sie erinnert. Ich weiß nur, dass sie bei Mabb in Ungnade gefallen war, aber das taten so viele, dass ich nicht sagen kann, welche ihrer Feindinnen Aylas Mutter gewesen sein könnte.“

„Weiß sie es?“

„Ich glaube nicht. Ihre Kindheit verbrachte sie auf dem

Streifen, wie eine Sterbliche. Sie musste stehlen, um zu überleben. Die meisten Menschen dort sind Gestrandete, die nicht mehr versuchen, aus ihrem Elend herauszukommen, sondern sich von einem Tag zum nächsten durchschlagen, und zu dieser Sorte gehörte auch ihr Vater. Als sie alt genug war, auf eigenen Füßen zu stehen, kam sie zu uns und erbat die Aufnahme in unsere Welt.“

„Aber ihre Mutter war eine Elfe.“ Malachi ließ den Beutel von seiner Schulter gleiten und legte ihn neben sich auf den Boden. „Warum musste sie darum bitten, dass ihre eigene Rasse sie bei sich aufnimmt?“

„Wir gewähren nicht grundsätzlich allen Sprösslingen eines jeden Elfen, der sich auf ein Abenteuer außerhalb unserer Grenzen eingelassen hat, das Recht, sich im Elfenreich niederzulassen. Ich bin mir sicher, es gibt auch unter uns jene, die lasterhaft genug sind, sogar mit einem Dämonen das Bett zu teilen, und wir können nicht zulassen, dass sich verdorbenes Blut weiter mit unserem mischt.“ Cedric zeigte keinerlei Reue hinsichtlich dieser letzten arroganten Bemerkung, sondern sprach ungerührt weiter. „Ayla wäre abgewiesen worden, hätte Garret sich nicht Hals über Kopf in sie verliebt und seine Stellung als Bruder der Königin genutzt, um den Hofstaat zu ihren Gunsten zu beeinflussen.“

Malachi presste verärgert die Zähne aufeinander, so fest, dass sein Kiefer wehtat. „Er hat sie nie geliebt. Hätte er das, würde er jetzt nicht ihren Tod wollen.“

Cedric zuckte mit den Achseln. „Doch, das hat er, sosehr es ihm eben möglich war. Er entstammt einer jahrtausendealten Linie reinrassiger Elfen. Für einen Elf hat Liebe traditionell wenig mit Selbstlosigkeit zu tun, und man hat ihm nie etwas anderes beigebracht.“

„Wie sollte man einer Kreatur wie ihm auch begreiflich machen, was Liebe ist?“ Der bloße Gedanke an Garret erzeugte Abscheu in Malachi, die Erinnerung an seine bösartige Fratze einen fauligen Geschmack auf seiner Zunge, von dem ihm schlecht wurde. „Als ob er dieses Gefühl jemals verstehen könnte.“

„Es ist möglich.“ Schwang da ein trauriger Unterton in der Stimme des Elfen mit? „Wir sind fähig, es zu lernen, und zwar recht gut. Aber es war Garrets Stärke und Ehrgeiz, mit denen er Ayla beeindruckt hat, nicht seine Zuneigung. Sie weiß nicht, dass es noch andere Dinge gibt, die im Leben zählen.“

„Sie weiß, dass sie mich verletzt hat, und es ist ihr egal. Sie schickt mich einfach weg!“ Obwohl er tief in seinem Inneren wusste, dass das nicht stimmte, konnte er sich noch nicht dazu überwinden, es sich einzugestehen.

„Vielleicht, wenn all dies vorüber ist“, begann der Elf und fuhr nach einer kurzen Denkpause fort: „Und so es der Wille der Götter ist, dass sie Garret besiegt, könntest du zurückkommen.“

„Wohl kaum. Sie will es nicht.“ Er stand auf und stapfte auf den Tunneleingang zu, in der Annahme, sein Begleiter würde schon nachkommen. Bestimmt hatte er es doch ebenso eilig wie Ayla, den unwürdigen Darkworlder seine glorreiche Welt endlich verlassen zu sehen.

„Was eine Person will und was sie braucht, ist nicht immer das Gleiche.“ Der Elf folgte ihm tatsächlich, allerdings beinahe widerwillig. „Ich bin dazu berechtigt, dir, wenn du ins Elfenreich zurückkehren willst, meine Hilfe anzubieten. Ich verfüge über die Autorität, es möglich zu machen.“

Dies war ein so abstruses Angebot, dass Malachi nicht einfach darüber hinweggehen konnte. Er starrte den Elf ungläubig an, doch der ging weiter, als wäre es ihm gar nicht aufgefallen, dass sein Schützling stehen geblieben war.

„Und wer bist du, zu behaupten, dich ihren Wünschen widersetzen zu können?“, rief Malachi ihm hinterher, auch wenn er nur mit seinem Rücken sprach. „Sie ist die Königin!“

„Und ich bin ihr Freund“, antwortete der Elf knapp. „Los, beeil dich, sonst werde ich nicht rechtzeitig zurück sein, um ihr zur Seite zu stehen.“

Garrets Rückkehr in die Lightworld wurde mit weit weniger Enthusiasmus gefeiert, als er erwartet hatte. Natürlich, in Zeiten des Umbruchs flüchteten die Schwächeren erfahrungsgemäß in sicherere Gefilde, doch nie zuvor hatte er das Elfenreich derart leer gefegt gesehen.

„Wirklich entzückend, diese Illoyalität zu ihrem Herrscher“, brummte er und wünschte, nur für einen Augenblick, Bran wäre noch da, um ihm beizupflichten. Geschah dem Dummkopf ganz recht, mit den Drachen war eben nicht zu spaßen, das wusste jedes Kind.

Irgendwo an der Spitze seiner Karawane gab jemand das Zeichen zum Anhalten. Der Karren, auf dem er saß, dieses Mal nicht mit seinen Habseligkeiten beladen – es würde vermessen erscheinen, sie jetzt schon mitzuführen, als ob er das Duell bereits gewonnen hätte –, schwankte bedenklich zur Seite, als seine elfischen Zugpferde ihn ruckartig absetzten. Garret gelang es nur mit Mühe, sich aufrecht zu halten, bevor er mit einem Satz hinuntersprang, um nachzusehen, warum sie hielten. Die Verzögerung machte ihn rasend wie ein lästiges Insekt, das zerquetscht werden musste, und mit jedem Schritt, den er auf den Ursprung des Übels zumachte, wuchs seine Wut.

„Was soll das hier sein?“, blaffte er, als er die bewaffneten Wachen erreichte, die ihnen den Weg versperrten.

„Ihr könnt nicht passieren“, informierte ihn einer der Wachleute kühl. „Es ist Euch nicht gestattet, den Palast zu betreten. Ihr werdet Euer Lager in einem der Tunnel nahe des Refugiums aufschlagen und dort bis zum festgesetzten Termin des Duells verbleiben.“

„Es ist mir nicht gestattet?“ Er warf den Kopf zurück und lachte lauthals, als würde dieses absurde Verbot ihn tatsächlich amüsieren. Innerlich aber kochte er vor Zorn. „Ich bin der König. Noch nie ist es vorgekommen, dass dem Oberhaupt der Elfen der Zutritt zu seinem Palast verwehrt wurde.“

„Es ist auch noch nie eine solch ernste Situation eingetreten wie die jetzige“, erwiderte der Wachposten, offensichtlich vollkommen unbeeindruckt von der Tatsache, dass sein Gebieter vor ihm stand.

So, sie sind also auf ihrer Seite, ja? Garret nahm einen tiefen Atemzug, der seine Nasenflügel flattern ließ. Er wirkte Furcht einflößend, wenn er das tat, das wusste er. Majestätisch, um ein Vielfaches majestätischer als das Subjekt, das jetzt den Thron besetzte.

Er würde sämtliche Palastwachen exekutieren lassen und durch seine Getreuen ersetzen, sobald er mit Ayla fertig war. Fürs Erste müsste er sich aber wohl damit zufriedengeben, diesen einen hier einen Kopf kürzer zu machen.

„Ein Schwert!“, rief er der Gruppe seiner Gefolgsleute hinter sich zu.

Der Verräter vor ihm jedoch hielt eine Hand hoch. „Die Königin lässt Euch ebenfalls ausrichten, dass ein Angriff auf die königlichen Wachen einem Angriff auf sie selbst gleichkäme. Durch einen feindlichen Akt dieser Art würde Eure Herausforderung zum Zweikampf null und nichtig werden, der Eure umgehende Verbannung aus der Lightworld zur Folge hätte.“

„Wenn ich euch Verräterpack nicht vorher allesamt ins Jenseits befördere!“ Eine seiner eigenen Wachen drückte ihm wie geheißen ein Schwert in die Hand. Er nahm es, warf seinem Gegner einen eisigen Blick zu und schleuderte es fort. Dann drehte er sich zu seinen Leuten um. „Wir gehen zum Refugium. Ein bisschen Entspannung wird mir guttun und meinen Vorteil ihr gegenüber nur noch vergrößern.“ An die abtrünnigen Palastwachen gewandt fügte er hinzu: „Das ist der letzte Fehler Eurer Königin gewesen.“

Sie legten ihr eine Rüstung an. Noch nie hatte sie eine Rüstung getragen. Jeder ihrer Kämpfe war ohne Regeln vonstattengegangen und auch ohne die Hilfsmittel, die einem Krieger zustanden. Sie waren grausam und erbarmungslos gewesen, und nur Aylas Können hatte sie davor geschützt, verletzt oder gar getötet zu werden.

„Es ist keine Herabwürdigung Eurer Fähigkeiten“, erklärte Cedric, als sie ihn fragte, wozu all das gut sein sollte. „Und der Harnisch wird keinem tödlichen Schlag standhalten, sollte es Garret gelingen, einen zu platzieren. Es ist in erster Linie ein taktisches Manöver, ein Kostüm. Ihr müsst wie eine Königin aussehen, nicht wie eine Assassine.“

„Und wenn ich ihm in Lumpen gegenübertrete, wäre es auch egal, ich sehe niemals wie eine Königin aus. Aber wenigstens hätte ich dann eine Chance, den Kampf zu überleben.“ Sie zog an einer der abgerundeten Metallplatten, die ihre Schultern bedeckten. „Wie soll ich kämpfen, wenn ich mich nicht bewegen kann?“

„Keine Sorge, das werdet Ihr können. Die Rüstung ist nicht schwerer als die Gewänder, die Ihr bisher schon in Eurer Eigenschaft als Herrscherin habt tragen müssen.“ Cedric trat beiseite, um einer zwischen ihnen hindurchrauschenden Kammerzofe Platz zu machen, während zwei andere gerade damit beschäftigt waren, Aylas Haare zu zwei Knoten an ihrem Hinterkopf zusammenzustecken, so fest, dass ihre Kopfhaut spannte.

„In diesen Gewändern musste ich aber auch noch nie kämpfen.“ Es war weniger die Sorge um das zusätzliche Gewicht oder ihre Bewegungsfreiheit, die sie in Wahrheit beschäftigte, sondern vielmehr der Gedanke daran, was Garret dazu gesagt hätte, als er noch ihr Mentor gewesen war, wäre sie auf die Idee gekommen, sich hinter schützender Kleidung zu verstecken. Ihr war, als würde sie seine Stimme hören, wie so oft mit diesem ihm eigenen Unterton, den sie immer für freundschaftliche Spöttelei gehalten hatte und von dem sie nun wusste, dass es echter Spott war. Zweifelst du so sehr an dir selbst, Ayla, dass du eine Rüstung brauchst, um die Folgen deiner eigenen Fehler abzumildern?

Vielleicht lag es daran, dass sie sich unter all dem Metall wirklich ein bisschen sicherer fühlte, warum Garrets imaginärer Kommentar sie so traf. Sie machte sich keine Illusionen, was ihre Fähigkeiten im Vergleich zu seinen betraf, und die Rüstung vermittelte ihr – zu ihrer Beschämung – eine trügerische Sicherheit, als könnte sie dadurch womöglich doch noch mit heiler Haut davonkommen.

Cedric gab ihr keine Antwort. Vermutlich wusste er ebenso um all diese Dinge, oder er wollte seiner Königin nicht erneut widersprechen. Statt also etwas zu erwidern, ging er zur Tür, als es anklopfte, und nahm eine Schachtel in Empfang, die einer ihrer Wachleute überbrachte.

„Was ist das?“ Die Ungeduld, mit der sie fragte, war die eines Kindes, das ein lange ersehntes Geschenk erwartete. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit rasch auf die Zierfalten ihrer hauchdünnen Ärmel und zupfte daran herum, in der Hoffnung, dabei möglichst desinteressiert auszusehen. Plötzlich verbeugten sich ihre Dienerinnen, und sie wusste, ohne aufblicken zu müssen, dass Cedric ihnen ein Zeichen gegeben hatte, sie beide allein zu lassen. Nachdem sie gegangen waren und die Tür hinter der letzten Zofe von außen zugezogen wurde, nahm er den Deckel der Schachtel ab und holte, Ayla den Rücken zugewandt, etwas heraus.

„Ich habe dies aus der Schatzkammer bringen lassen. Unter dem Vorwand, Eure Anordnung auszuführen. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir diese Notlüge.“ Er drehte sich um, und was er in den Händen hielt, verschlug Ayla den Atem. Es war eine Krone. Ein ausladendes Geflecht aus Dornenzweigen, gehalten durch silberne Spitzen, die wie leicht gebogene Messerklingen geformt waren. Die Spitzen ragten aus einem ebenfalls silbernen glitzernden Ring, der mit blutroten Edelsteinen besetzt war. Daran hingen, an so dünnen Kettchen, dass sie wie Spinnweben wirkten, funkelnde Rubine.

„Was ist das?“, fragte sie abermals. Ayla war früher nicht oft im Palast gewesen, aber von den wenigen Malen, die sie Mabb gesehen hatte, war ihr keine einzige Gelegenheit in Erinnerung, zu der sie etwas wie dieses gewaltige Gebilde getragen hätte. Nein, Mabb hatte feineren Kopfschmuck bevorzugt, Diademe, die ihre eigene Schönheit und Eleganz nicht überstrahlten.

In Cedrics Worten schwang eine unterschwellige Traurigkeit mit, die immer auftauchte, wenn er über die verstorbene Königin sprach und die Ayla mittlerweile sofort heraushören konnte. „Die Krone, die Mabb in der ersten Schlacht gegen die Menschen getragen hatte. Sie sah aus wie eine Kriegsgöttin, als sie damit in die Menschenstadt einzog.“

„Nur in der ersten? In der zweiten nicht?“ Ayla beäugte das unheimliche Ding in Cedrics Händen. Würde Garret sich dadurch an den Anblick seiner Schwester erinnert fühlen, mit der er Seite an Seite in beiden dieser sagenumwobenen Gefechte gekämpft hatte? Und die er dennoch kaltblütig ermordet hatte?

Ein Lächeln umspielte Cedrics Mundwinkel. „Nein. In der zweiten nicht.“

Sie brauchte wirklich nicht auch noch ein Symbol einer legendären Niederlage, das auf ihrem Kopf prangte wie ein schlechtes Omen, wenn sie Garret gegenübertrat.

Cedric hob die Krone hoch, um sie Ayla aufzusetzen, und sie wappnete sich innerlich gegen deren Gewicht, doch zu ihrer Überraschung spürte sie es kaum. Der vordere Teil des silbernen Ringes lief nach unten hin zu einem Winkel zusammen, der an ihrer Stirn anlag wie eine Tiara, mit einem großen Rubin in der Mitte, der genau zwischen ihren Fühlern saß. Sie zuckten kurz, als sie mit dem kalten Stein in Berührung kamen, und Ayla strich mit den Fingern darüber.

„Nun Eure Hoheit, ich glaube, es ist Zeit.“

Sie gingen durch den verlassenen Palast, wo sie auf dem Weg nur einigen vereinzelten Wachen begegneten, die Ayla nicht ansahen, sondern stur geradeaus starrten. Als wäre ich schon ein Geist.

Die Gänge außerhalb der Palastmauern waren gleichsam gespenstisch leer. Die Pilger und verarmten Angehörigen des gemeinen Volkes, die sich normalerweise zu Hunderten vor den Toren tummelten und um Geld oder Essbares bettelten, waren im Angesicht des bevorstehenden Konfliktes und den daraus für sie möglicherweise resultierenden Unannehmlichkeiten in Scharen geflohen. Zusätzliche Schwierigkeiten, das wusste Ayla aus Erfahrung, waren für die armen und ohnehin schon gebeutelten Bewohner der Unterwelt mindestens so wenig erstrebenswert wie ein knurrender Magen.

Einen Augenblick lang dachte sie an die übrigen Teile der Lightworld. Dort wusste man wahrscheinlich nicht einmal, dass heute eine Königin einen Kampf auf Leben und Tod führen und ihn vermutlich verlieren würde. Und falls doch, würde es wohl kaum jemanden kümmern. Ihr Titel hörte sich in ihren Ohren nach wie vor grotesk an; sie war ebenso wenig eine Königin, wie man sie als Gelehrte hätte bezeichnen können. Garret mochte glauben, sie wolle ihren Thron verteidigen, doch alles, worum es für sie bei dieser Sache ging, war das nackte Überleben.

Sie marschierten durch die verzweigten Tunnel. Ayla ganz allein die Gruppe ihrer Begleiter anführend, Cedric einen Schritt hinter ihr, gefolgt von einer kleinen Eskorte aus Leibwächtern, die Ayla nicht einmal bemerkt hatte, bevor sie das Palastgelände hinter sich gelassen hatten und ihre Schritte in den hohen offenen Tunneln von den Wänden widerhallten. Sie fragte sich, wie Garret nach der Zeit im Exil aussehen mochte und welche Strategie er sich überlegt hatte. Würde er versuchen, sie zu verunsichern, indem er ihr ins Gedächtnis rief, dass sie beide einmal Gefährten waren, Freunde? Würden die Entbehrungen, die er außerhalb des Elfenreiches hatte erdulden müssen, in seinem Gesicht ihre Spuren hinterlassen haben? Würde er gramgebeugt und verhärmt aussehen?

Sie erreichten den Eingang des Refugiums, der große Bogen aus bröckelnden Steinen rahmte den Ausschnitt einer Idylle aus weißgrünem Licht ein. Von irgendwoher drang das Tschilpen eines Vogels herüber, wahrscheinlich aus der Oberwelt, und Aylas Herz machte einen Sprung, was es immer tat, sobald sie sich frischer Luft und unberührter Natur näherte. Ihr Herz war halb menschlich und zur anderen Hälfte das einer Elfe, und beide Geschöpfe in ihr hatten dieselbe tiefe Sehnsucht nach der Welt dort oben, wo es all dies im Überfluss gab.

Auf der obersten Stufe der Treppe blieb Ayla stehen. Natürlich würde Garret weder an ihre Gefühle appellieren noch sich die Auswirkungen des Exils anmerken lassen, ausgerechnet in einem alles entscheidenden Moment wie diesem. Er erwartete sie bereits, umringt von seinen Leibwächtern, seine Axt in der Hand. Er trug nicht die Robe eines Mentors der Gilde oder eines seiner Gewänder für offizielle Anlässe, sondern seine alte Lederhose und Weste. Die einfachen, funktionellen Kleidungsstücke, mit denen jeder Assassine bei seinem Eintritt in die Gilde ausgestattet wurde. Nur dass Garrets in Schwarz gehalten waren, im Gegensatz zu dem Braun, das alle anderen trugen. Um seine Oberarme waren zwei schwarze Riemen gebunden, in denen je ein Messer steckte, für den Fall, dass er entwaffnet wurde. Wie Ayla hatte er seine Flügel unbedeckt gelassen. Er verneigte sich spöttisch vor ihr und lachte, und durch die Reihen seiner Wachen hinter ihm ging ein unbehagliches Raunen. „Eure Hoheit“, sagte er, das Lachen noch immer seine Mundwinkel nach oben ziehend. „Mir war nicht bewusst, dass ich so ein Furcht einflößender Gegner bin, um Euch zu einem derartigen Aufwand zu veranlassen.“ Er ließ seinen Blick über ihre Rüstung und die Krone wandern und lachte wieder.

„Ich wollte nicht, dass Euer Blut eines meiner Kleider beschmutzt“, rief Ayla zurück, insgeheim hoffend, das Zittern in ihrer Stimme würde auf die Entfernung nicht auffallen. Sie ging die Stufen hinunter und auf Garret zu, während sie ihre Flügel leicht öffnete.

„Ah, die Königin der Elfen gibt uns die Ehre, uns mit ihrer Schönheit zu erfreuen“, sagte er ironisch.

Doch Ayla hatte schon so viele Beleidigungen wegen ihrer menschlichen Erscheinung einstecken müssen, dass seine Worte einfach an ihr abprallten.

Dann standen sie einander schließlich direkt gegenüber, nur eine Schwertlänge Abstand zwischen sich.

„Seid Ihr mit Eurer Vorstellung für Eure Gefolgschaft fertig?“, fragte Ayla und zog ihr Schwert. „Können wir endlich anfangen?“

Garret hob seine Axt und nickte.

Und dann, ohne irgendeine respektvolle Begrüßungszeremonie, wie sie zwischen den Kontrahenten eines Duells üblich war, stiegen sie in die Luft auf.