5. KAPITEL

Die Königin verließ ihre Gemächer grundsätzlich erst weit nach Sonnenaufgang. Garret ärgerte sich darüber, umso mehr, da ihm die Gründe für die Faulheit seiner Schwester nur allzu bekannt waren. Es handelte sich dabei entweder um Cedric, den Gildenmeister, oder Tristan, dessen Stellvertreter. Manchmal vergnügte sie sich sogar mit Robin Good-fellow, diesem ordinären Taugenichts, einfach nur, weil er sie amüsierte.

Abstoßend, was sie da veranstaltete. Man konnte meinen, in ihrer Besessenheit, unbedingt einen Erben zeugen zu wollen, stieg sie mit jedem xbeliebigen gut aussehenden Elfen ins Bett, der sie mit charmantem Geschwätz umschmeichelte. Es war doch wirklich lächerlich für eine unsterbliche Herrscherin, sich um die Erhaltung ihrer Linie Sorgen zu machen. Besonders, da sie einen jüngeren, viel besser geeigneten Bruder hatte, der mit Freude an ihrer Stelle den Thron besteigen würde, einmal angenommen, es sollte ihr etwas zustoßen.

Götter bewahret!

Er wartete in ihrem privaten, für Besucher vorgesehenen Salon, zweifelsohne einer der am exquisitesten eingerichteten Räume im Palast. Kein nackter Beton für Königin Mabb. Eine Vertäfelung aus echtem Holz an den Wänden schützte ihre empfindlichen Augen vor dem unschönen Anblick, und ein dicker Grasteppich auf dem Boden federte jeden ihrer zarten Schritte ab. Auch die kunstvoll verschnörkelten Möbel bestanden aus Holz, und irgendwie glückte es ihr, sich stets frische Blumen besorgen zu lassen, welche die Seiten der runden Türen schmückten. Der gesamte Palast war wunderschön anzusehen, und allein in Mabbs privaten Räumlichkeiten fand sich eine opulente Ansammlung von Extravaganzen. Garret dachte an sein eigenes Domizil außerhalb des Palastes, ein einzelnes Zimmer, recht groß zwar für die Verhältnisse im Untergrund, aber doch winzig im Vergleich zu Mabbs Residenz. Und warum gehörte all dies nicht ihm? Weil er der Zweitgeborene war.

Selbstverständlich stünde es ihm jederzeit frei, in den Palast zu ziehen. Natürlich. Sofern er Verlangen danach verspürte, sich komplett der Kontrolle seiner Schwester auszuliefern. Ihr entging ohnehin kaum etwas, sie hatte einen messerscharfen Verstand und setzte diesen auch genauso gegen ihren Bruder ein – wie ein Messer, das sie ihm bei jeder Gelegenheit in den Rücken stach. Aber konnte sie auch mit sich selbst so streng ins Gericht gehen? Nein, warum sollte sie auch, dachte Garret bitter, während er den Kammerzofen zusah, die geschäftig Schüsseln mit heißem Wasser und flauschige Handtücher für Mabbs aufwendige Morgentoilette heranschafften. Das Wasser stammte aus dem Refugium, kein Zweifel, denn Mabb fand es zu umständlich, den Palast zum Baden zu verlassen, und verlangte deshalb, dass man das kostbare Nass zu ihr brachte.

„Nun macht doch nicht so ein Gesicht, Garret.“ Scota, eine hübsche Zofe mit safranfarbenen Schmetterlingsflügeln, schnalzte missbilligend mit der Zunge. Ihr Ton war respektvoll, doch in ihren Augen funkelte Belustigung. „Eure Schwester wird von ihren Verpflichtungen ungemein in Anspruch genommen, da verdient sie es, ein wenig verwöhnt zu werden.“

„Oh, da gebe ich dir völlig recht. Ich frage mich nur, wer genau sie gestern Nacht wohl wieder so ungemein in Anspruch genommen hat.“ Er schenkte der Zofe ein vielsagendes Lächeln, wohl wissend, welchen Effekt dies auf die weiblichen Bediensteten des Palastes hatte. Scotas Haut war wunderbar zart und hell, und ihr dunkles gewelltes Haar reichte ihr bis zur Hüfte, aber er würde jemanden ihrer niedrigen Stellung niemals für etwas anderes in Betracht ziehen als ein kleines Schäferstündchen. Dennoch konnte es nicht schaden, sich auch solche Optionen offenzuhalten, ganz besonders, da er bis jetzt noch nicht in den Genuss gekommen war, derlei Freuden mit Ayla zu teilen.

Scota errötete liebreizend und senkte gespielt sittsam den Blick, doch Garrets Gedanken kreisten bereits wieder ausschließlich um seine Schülerin. Ayla. Angehörige des tiefsten Standes, den es überhaupt geben konnte, der Inbegriff eines Gossenkindes. Obendrein halb menschlich, und … oh, wie schrecklich diese Tatsache seine allerliebste Schwester piesackte. Aber Ayla hatte diese einzigartige wilde, ursprüngliche Eleganz an sich. Ihre Art, sich zu bewegen, geschmeidig und zugleich kraftvoll, als schlummere tief in ihr eine geborene Tänzerin. Und wie ihre Haare dabei wippten, wie Hunderte flammend roter Bänder. Von niederer Geburt, ja, dafür jedoch nicht so verzärtelt wie seine adlige, nichtsnutzige Schwester. Ayla würde ihm Nachkommen gebären und damit Mabbs Plan, selbst für einen Thronfolger zu sorgen, endgültig zunichtemachen.

Doch es ging ihm nicht nur darum, seine Schwester zu quälen. Er empfand durchaus echte Zuneigung für Ayla. Außerdem kam es seinem Kampfgeist sehr gelegen, dass von all den Elfen am Hof, aus denen er sich seine Gefährtin wählen könnte, ausgerechnet die eine sein Interesse weckte, die ihm nicht zu Füßen lag. Doch das würde sie, und zwar bald. Er spürte, dass ihr Widerstand langsam begann zu bröckeln. Trotzdem, bis seine Beute endlich aufgab und sich reißen ließ, stand ihm noch eine lange, aufregende Jagd bevor.

Eine andere Zofe kam aus den Schlafgemächern der Königin und machte eine kleine Verbeugung vor ihm. „Sie ist nun bereit, Euch zu empfangen, Euer Gnaden.“

„Jetzt schon?“, knurrte er, obwohl ihm natürlich klar war, dass die zitternde Dienstmagd keine Schuld an der Verzögerung traf und sie sich auch nicht um die Spannungen zwischen ihm und Mabb scherte. Seinen Ärger hinunterschluckend setzte er sein liebenswürdigstes Lächeln auf und trat ein.

War der Salon schon extravagant, das Schlafzimmer übertraf ihn in Sachen Luxus bei Weitem. Der Boden bestand aus auf Hochglanz poliertem dunkelgrünen Marmor. Kein anderer Ort im gesamten Untergrund erstrahlte in solcher Pracht. Mabbs Bett stand auf einem Podest, die Vorhänge aus feinster Gaze waren zurückgeschlagen und gaben den Blick frei auf die Berge dicker, weicher Kissen und Polster, zwischen denen sie zu schlummern pflegte. Die hohen geschwungenen Pfosten reichten beinahe bis zur Decke, die, als besonders eindrucksvolles Beispiel des Erfindungsreichtums der Untergrundbewohner, eine naturgetreu gestaltete Nachbildung des Himmels zierte, welche die rissigen Fliesen und Rohre dahinter vollständig verdeckte. Mabb verabscheute alles, was mit Sterblichen zu tun hatte, doch sie ließ sich dazu herab, die Verwendung von Elektrizität zu gestatten. Damit tagsüber eine künstliche Sonne auf sie herabscheinen und des Nachts Tausende funkelnder Sterne über ihr glitzern konnten. Im Zentrum all dieser widerwärtigen Dekadenz stand Mabb vor einem riesigen Spiegel, der von einer ihrer Zofen gehalten wurde, während die übrigen eifrig an der perfekten Erscheinung ihrer Königin arbeiteten. Wie eine wunderschöne Statue wirkte sie, ihre Haltung aufrecht und stolz, die weiße Haut im Kontrast zu ihrem lavendelfarbenen Kleid noch blasser erscheinend. Ihre Flügel waren wie immer gebunden und verhüllt. Garret konnte sich nicht daran erinnern, jemals die Flügel seiner Schwester gesehen zu haben, nicht einmal in Kindertagen. Mabb war solch eine makellose Schönheit, es gäbe sicherlich kein Körperteil an ihr, das nicht ebenso entzückend wäre wie der Rest, und wahrscheinlich lag ihre Entscheidung, sie zu verstecken, genau hierin begründet.

Eins der Kammermädchen zupfte Mabbs Ärmel zurecht, und Garret erspähte ein aus kleinen Amethysten und Olivinen gesticktes Blumenmuster. Das leise Knistern, das durch die Bewegung entstand, klang beinahe wie ein Klagelied der empörten Steine, die sich darüber beschwerten, dass sie für einen derart profanen Zweck verschwendet wurden – um die Gewänder einer verhätschelten Königin zu schmücken.

Mabbs Augen begegneten im Spiegel denen ihres Bruders, und ihr frostiger Gesichtsausdruck erwärmte sich um einige wenige Grade. Sie scheuchte mit einer knappen Geste die Zofe fort, die gerade an ihrem Haar herumfummelte, so hellblond, dass es fast weiß aussah, und zog unwirsch ihren Ärmel aus den Händen der zweiten. Es bedurfte keiner mündlichen Aufforderung, um sie wissen zu lassen, was von ihnen erwartet wurde. Rasch huschten sie zur Tür und hatten, noch während Mabb sich zu ihrem Bruder umdrehte, bereits den Raum verlassen.

„Garret. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe, als ich heute Morgen hörte, dass du auf eine Audienz wartest.“

„Nein, das kann ich wohl nicht.“ Er hatte sich eigentlich vorgenommen, ihr bei diesem Treffen ein wenig zu schmeicheln, doch stattdessen gab er patzige Antworten wie ein ungezogenes Kind. „Entschuldige. Ich habe nicht besonders gut geschlafen.“

„Hat der Suchtrupp etwa deine verloren gegangene Schülerin noch nicht wieder zurückgebracht?“ Sie schnippte einen unsichtbaren Fussel von ihrer Schulter. „Nun, ich bin sicher, sie wird früher oder später auch allein wieder nach Hause finden.“

„Sie ist zurück, ohne die Hilfe deiner Soldaten. Aber es war dennoch ein sehr unerfreulicher Zwischenfall für mich, und ich wünsche nicht, dass sich so etwas wiederholt.“ Er betrachtete eingehend das zu seiner Rechten in einer Ecke stehende, kunstvolle Schreibpult, auf dem sich diverse mit dem Siegel der Gilde versehenen Pergamente stapelten, und hoffte, Mabbs Blick würde seinem folgen.

„Aber Garret, würdest du sie wirklich ihrer einzigen Leidenschaft berauben wollen, nur damit du nachts beruhigt schlafen kannst?“ Ein mütterlicher Tonfall begleitete ihre Worte.

Die Frage diente keinesfalls dem Zweck, ihm ins Gewissen zu reden, sondern um ihn zu reizen, das wusste Garret. „Wir haben das doch schon alles besprochen. Sobald sie meine Gefährtin ist …“

„Nur, dass sie noch immer nicht eingewilligt hat, nicht wahr? Weder das, noch hast du deine Wahl öffentlich bekannt gegeben.“ Sie machte eine abfällige Handbewegung. „Wenn du nur hierhergekommen bist, um dich mit mir zu streiten …“

„Ich will mich nicht mit dir streiten. Ich bin hier, um deine Erlaubnis einzuholen, als Oberhaupt der königlichen Familie, sodass ich Ayla offiziell als meine Erwählte bekannt geben kann.“ Hätte er die Macht gehabt, für einen Moment die Zeit anzuhalten, so würde er sie jetzt gebrauchen, um diesen kolossalen Anblick noch etwas länger genießen zu können. Wie Mabbs Fassade auf einmal Risse bekam, was äußerst selten geschah, und ihr vor Wut und Entsetzen unwillkürlich die Kinnlade herunterklappte.

Als sie schließlich zu einer Antwort ansetzte, verhaspelte sie sich mehrmals, bevor es ihr gelang, einen zusammenhängenden Satz zu bilden. Dabei presste sie eine Hand gegen ihre Brust, als leide sie fürchterliche Schmerzen. „Sie ist eine Gewöhnliche.“

„Es existieren keine Richtlinien dafür, mit wem ein Adliger eine Bindung eingehen kann, abgesehen davon, dass der gewählte Gefährte kein Sterblicher sein darf, und Ayla ist keine Sterbliche.“ Garret hatte etliche Stunden damit zugebracht, über der Schriftrolle der Erbfolgestatuten zu brüten, und könnte, wenn es sein müsste, ganze Passagen daraus rezitieren, falls seine Schwester die Diskussion auf die Spitze treiben sollte.

„Aber halb sterblich!“, erboste sich Mabb, ihr Gesicht nahm eine ungesunde rosa Farbe an. Die feingliedrigen Fühler rechts und links an der Oberseite ihrer Stirn summten und glühten in einem pulsierenden Rot, und sie fuhr automatisch mit der Hand darüber, um sie glatt zu streichen, die Scham über ihren entwürdigenden Kontrollverlust lenkte sie für einen Augenblick von ihrem Zorn ab. „Es tut mir leid, Garret. Ich verbiete es.“

„So, so.“ Garret zuckte mit den Achseln und begann in einem weiten Kreis langsam um seine Schwester herumzugehen. „Ach, das macht nichts. Ich werde mein Anliegen dem Konzil vortragen. Sie sind deiner ständigen Exzesse überdrüssig geworden, Mabb. Sie werden die Statuten der Erbfolge lesen und nichts finden, was es an meiner Wahl auszusetzen gäbe. Das täten sie nicht einmal, wenn ich beabsichtigen würde, mich mit einer Zwergin einzulassen, so begierig sind sie darauf, dich in deinen Beschlüssen zu überstimmen. Würde dir das gefallen? Eine Halbzwergin, die nur darauf wartet, nach deinem Ableben den Thron der Lightworld zu besteigen?“

Mabb wirbelte herum, die Fäuste in ihre Hüften gestemmt, und starrte ihn wutentbrannt an. „Das wagst du nicht! Wir sind die einzigen der Linie unserer Mutter, die noch übrig sind! Nur eine wahre Königin kann den Thron beanspruchen, und du willst dieses … dieses gewöhnliche Flittchen an meine Stelle treten lassen?“

Plötzlich seinerseits außer sich vor Zorn, gab Garret ihr eine schallende Ohrfeige. Ein leuchtend roter Abdruck prangte auf ihrer pfirsichzarten Wange, und in ihren Augen blitzte offene Feindseligkeit auf. „Was erlaubst du dir, mich zu schlagen!“

„Was erlaubst du dir, mich dazu zu provozieren.“ Er wandte sich ab, bevor er noch einmal die Beherrschung verlieren konnte, denn wenn er jetzt anfing, auf sie einzuschlagen, würde er vermutlich nie mehr aufhören. „Denkst du, es gefällt mir, dir drohen zu müssen? Denkst du, es ist angenehm für mich, mit irgendeinem dieser aufgeblasenen Ratsmitglieder zu sprechen? Der einzige Grund, warum sie mich überhaupt anhören würden, ist, dass sie das baldige Ende unserer Linie herbeisehnen. Sie wollen die Lightworld selbst regieren, am besten gleich über den gesamten Untergrund herrschen.“ Er schnaubte verächtlich. „Sie werden sich nur deshalb auf meine Seite schlagen, weil sie dadurch deine Position ins Wanken bringen können. Aber wenn du mir deine Zustimmung versagst, wenn du mich Ayla nicht haben lässt, dann hast du dir all dies selbst zuzuschreiben.“

Die geradezu beängstigende Stille, die auf Garrets Wutausbruch folgte, wurde unvermittelt von einem unterdrückten Wimmern seiner Schwester durchbrochen. Sie weinte. Es versetzte ihm einen Stich ins Herz. Verdammt sollte sie sein, dafür, dass sie ihn mit einem so durchschaubaren Winkelzug derart treffen konnte. Doch er kannte seine Rolle in diesem schmutzigen Theaterstück und wusste, er würde sein Ziel nicht erreichen, wenn er sich weigerte, mitzuspielen. Mabb war inzwischen auf die Knie gesunken und kauerte auf dem kalten Marmorboden. Er ging zu ihr, kniete sich neben sie und legte die Arme um ihre bebenden Schultern. Ganz der starke, treu sorgende Bruder. „Ach, Schwesterchen, du weißt, ich wollte nicht so ärgerlich werden.“

„Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um sie von dir fernzuhalten“, schluchzte sie, das tränennasse Gesicht an seinen Oberarm gedrückt. „So viele Aufträge, von denen ich mir sicher war, dass sie dabei umkommen würde, und sie ist immer noch am Leben, um dich mir wegzunehmen. Und dann entreißt ihr mir zusammen meinen Thron.“

Da war sie einem fatalen Irrtum erlegen, doch Garret sagte es ihr nicht. Die Aufträge, von denen sie sprach, waren allesamt an erfahrenere Assassine übergeben worden, und zwar von Cedric, dem Gildenmeister höchstpersönlich. Nicht aus irgendwelchen Rachegelüsten der Königin gegenüber oder weil Garret ihn dazu überredet hätte, sondern weil er die Verantwortung für das Wohlergehen der Assassine trug. Es war seine Pflicht, sie davor zu schützen, vermeidbaren Schaden zu nehmen, und deshalb würde er niemals einen von ihnen auf eine Mission schicken, für die derjenige nicht ausreichend qualifiziert war. Garrets Beitrag zu Aylas Schutz vor den wirklich gefährlichen Aufträgen war, dass er versuchte, sie so untauglich wie möglich bleiben zu lassen. Doch was er ihr absichtlich vorenthalten hatte, lernte sie einfach durch Zusehen bei den anderen Schülern. Das betrachtete er, sofern sie überhaupt welche hatte, als ihren einzigen Fehler. Sie war ein bisschen zu schlau. Eine der Eigenschaften, die er, neben ihrer allzu großen Selbstständigkeit, beabsichtigte, etwas zu dämpfen. Warum das Denkvermögen einer gewöhnlichen Halbsterblichen über sein natürliches, eher geringes Maß hinauswachsen lassen?

„Mabb, ich werde niemals an deiner Stelle die Herrschaft übernehmen können. Dazu müsstest du zuerst den Tod finden, und das ist etwas, das ich mit allen Mitteln versuchen würde, zu verhindern. Ich sehne mich doch nur nach ein wenig von dem Glück, das mir bisher vorenthalten geblieben ist. Erinnerst du dich, wie Mutter und Vater waren, wie sie sich geliebt haben?“ Eine weitere Lüge. Ihre Eltern hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt, wenn es nicht unbedingt nötig war. Doch in den Jahrzehnten nach ihrem Dahinscheiden hatte Mabb die Historie des Sidhe-Geschlechts romantisiert. Dass mit der Zerstörung der Weltenbarriere alle Beweise für die erbitterte Fehde verloren gegangen waren, die zwischen dem ehemaligen Königspaar herrschte, kam ihr da gerade recht. Ohne Zeitzeugen, von denen sie hätte berichtigt werden können, glaubte Mabb mittlerweile selbst an die Liebesgeschichte, die sie sich für ihre Eltern ausgedacht hatte, und schilderte sie genauso glaubwürdig wie all die anderen fantastischen Dinge, die sich angeblich früher bei Hofe zugetragen haben sollten. Ihre Zuhörer waren mindestens ebenso verzweifelt wie sie, und wenn sie in der Gegenwart schon kein glückliches Leben haben konnten, so hatten sie nichts dagegen, dass wenigstens ihre Vergangenheit in einem helleren Licht erschien.

Mabb schniefte, griff nach Garrets Arm und zog ihn fester an sich heran. „Ja, ich erinnere mich. Und ich wünsche dir alles Glück der Welt. Aber du kennst mich und weißt, ich bin nun einmal eine selbstsüchtige Natur. Ich will dich für mich allein behalten.“

„Du wirst mich niemals verlieren.“ Das war eine traurige Wahrheit. Egal, mit welchen Tricks er auch versuchte, ihrem Einfluss zu entrinnen, nur der Tod würde ihn ein für alle Mal von seiner Schwester befreien. Er verfluchte innerlich die Unsterblichkeit der Elfen. „Ich werde immer für dich da sein.“

„Also schön. Meinetwegen sollst du deine kleine Halbblütlerin haben.“ Mabb setzte sich auf und rieb ihre verweinten Augen. „Aber nicht heute.“

„Warum nicht?“, begehrte Garret auf, dann jedoch zwang er sich dazu, einen neutraleren Ton anzuschlagen. Wenn er sie jetzt verärgerte, wären all seine mühevollen Anstrengungen von eben umsonst gewesen. „Du wirst sicher verstehen, dass ich es kaum erwarten kann, ihr die freudige Nachricht zu überbringen.“

Von einer Sekunde zur anderen wieder ganz die Alte, schritt Mabb hoch erhobenen Kopfes durch das Zimmer zu ihrem Schreibpult. Sie nahm ein Pergament von einem der Stapel, von ihr selbst persönlich versiegelt und an Ayla adressiert. „Sie hat einen Auftrag.“

„Dann werde ich ihn an sie weiterleiten.“ Garret wandte sich zum Gehen um, gespannt zu erfahren, was seine Schwester sich dieses Mal für eine Gemeinheit hatte einfallen lassen, um seine Schülerin – nein, dachte er mit einem Anflug von Triumphgefühl, meine Gefährtin – in Gefahr zu bringen, und wie er diese Gefahr von ihr abwenden könnte.

„Tu das und dann kommst du zu mir zurück.“ Mabb ließ sich auf ihrem Bett nieder, obwohl sie es doch gerade erst verlassen hatte. „Und schick nach meinen Heilern. Diese Auseinandersetzung hat mich furchtbar erschöpft. Wie sehr ich Familienstreitigkeiten verabscheue.“

„Ich werde zurückkommen“, versprach er matt. „Aber meine Vermählung mit Ayla findet noch heute statt. Ich habe lange genug gewartet.“

Mabb lachte, ein Laut wie das Klirren Tausender kleiner Kristalle. „Du glaubst also wirklich, dass sie einwilligt.“

„Das wird sie.“ Davon war er mehr als überzeugt. Er hatte sie schließlich nicht die letzten fünf Jahre mit all seinem Charme umworben, nur damit sie ihn nun zurückwies.

Er schob das Pergament in seine Robe und überließ seine Schwester ihrem vorgetäuschten Leiden. Im Vorzimmer erteilte er schnell einige Anordnungen für Mabbs Heiler und Kammerzofen, dann entfloh er eilig der erdrückenden Enge des Palastes. Es gab im ganzen Untergrund keinen Ort, der im Moment weitläufig genug für ihn gewesen wäre, jetzt, da sein Herz vor Freude über den errungenen Sieg am liebsten aus seiner Brust springen wollte. Bis zum Morgen würde Ayla endlich seine Gefährtin sein, die Bindung offiziell dem Konzil bekannt gegeben und in seinem Bett besiegelt. Die Vorfreude ließ seine Schritte auf dem Weg zu den Räumen der Assassinengilde schneller und schneller werden.