70
»Wie Sie wissen, Nicholas, ist das unser letzter Termin.«
»Ja, Ms. Bennett.«
»Wir waren nicht immer einer Meinung, aber ich habe das Gefühl, dass wir diese Erfahrung beide insgesamt gut überstanden haben.«
»Da stimme ich Ihnen zu, Ms. Bennett.«
»Wenn Sie dieses Gebäude heute zum letzten Mal verlassen, dann werden Sie ein freier Mann sein.«
»Ja, Ms. Bennett.«
»Aber bevor ich offiziell das entsprechende Dokument unterschreibe, muss ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen.«
»Natürlich, Ms. Bennett.«
Sie nahm einen angenagten Stift zur Hand und sah auf die lange Liste an Fragen hinunter, auf deren Beantwortung das Innenministerium bestand, bevor ein Gefangener endgültig in die Freiheit entlassen wurde.
»Nehmen Sie derzeit Drogen?«
»Nein, Ms. Bennett.«
»Waren Sie in letzter Zeit versucht, ein Verbrechen zu begehen?«
»In letzter Zeit nicht, Ms. Bennett.«
»Hatten Sie im letzten Jahr Kontakt mit bekannten Verbrechern?«
»Nicht mit bekannten Verbrechern«, sagte Danny. Ms. Bennett sah auf. »Aber ich treffe mich nicht mehr mit ihnen, und ich habe auch nicht den Wunsch, sie wiederzusehen, außer vor Gericht.«
»Es freut mich, das zu hören.« Ms. Bennett machte ein Häkchen in das entsprechende Kästchen. »Haben Sie immer noch eine Unterkunft?«
»Ja, aber ich gedenke, in Kürze umzuziehen.« Der Stift verharrte in der Luft. »An einen Ort, an dem ich schon war. Offiziell anerkannt.« Der Stift hakte ein weiteres Kästchen ab.
»Wohnen Sie derzeit bei Ihrer Familie?«
»Ja.«
Ms. Bennett sah wieder auf. »Als ich Ihnen das letzte Mal diese Frage stellte, Moncrieff, da sagten Sie mir, dass Sie allein leben.«
»Wir haben uns vor kurzem versöhnt.«
»Das freut mich zu hören, Nicholas.« Ein weiteres Kästchen wurde abgehakt.
»Sind Menschen von Ihnen versorgungsabhängig?«
»Ja, eine Tochter. Christy.«
»Sie wohnen also derzeit mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter zusammen?«
»Beth und ich sind verlobt. Und sobald wir noch einige Probleme gelöst haben, mit denen ich mich befassen muss, werden wir heiraten.«
»Auch das freut mich zu hören«, sagte Ms. Bennett. »Kann Ihnen die Bewährungsbehörde bei diesen Problemen helfen?«
»Sehr freundlich, dass Sie fragen, Ms. Bennett, aber ich glaube nicht. Ich treffe mich jedoch morgen Vormittag mit meinem Anwalt und ich hoffe sehr, dass er mir weiterhelfen kann.«
»Ich verstehe.« Ms. Bennett wandte sich wieder ihrem Fragenkatalog zu. »Hat Ihre Partnerin eine Ganztagsarbeit?«
»Ja«, sagte Danny. »Sie ist die persönliche Assistentin des Vorsitzenden der City Insurance Company.«
»Sobald Sie eine Stelle gefunden haben, werden Sie also beide zum Unterhalt der Familie beitragen?«
»Ja, aber in absehbarer Zukunft wird mein Gehalt sehr viel geringer sein als ihres.«
»Warum? Welche Stelle möchten Sie denn annehmen?«
»Ich gehe davon aus, als Bibliothekar einer großen Institution zu arbeiten«, entgegnete Danny.
»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.« Ms. Bennett hakte ein weiteres Kästchen ab und ging zur nächsten Frage über. »Werden Sie in naher Zukunft ins Ausland reisen?«
»Ich habe nicht die Absicht«, antwortete Danny.
»Letzte Frage«, sagte Ms. Bennett. »Fürchten Sie, dass Sie in Zukunft erneut ein Verbrechen begehen könnten?«
»Ich habe eine Entscheidung getroffen, die mir das in absehbarer Zukunft unmöglich macht«, versicherte er ihr.
»Ich freue mich sehr, das zu hören.« Ms. Bennett hakte das letzte Kästchen ab. »Damit wären meine Fragen abgehakt. Danke, Nicholas.«
»Danke, Ms. Bennett.«
»Ich hoffe, Ihr Anwalt bekommt die Probleme in den Griff, die Ihnen Kummer bereiten«, sagte sie und erhob sich.
»Wie nett von Ihnen.« Danny schüttelte ihr die Hand. »Wollen wir es hoffen.«
»Und wenn Sie jemals Hilfe brauchen, vergessen Sie nicht, dass Sie mich jederzeit anrufen können.«
»Ich denke, es ist gut möglich, dass Sie in naher Zukunft einen Anruf erhalten«, meinte Danny.
»Ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören«, erklärte Ms. Bennett. »Und ich hoffe, für Sie und Beth wird alles gut laufen.«
»Danke«, sagte Danny.
»Auf Wiedersehen, Nicholas.«
»Auf Wiedersehen, Ms. Bennett.«
Nicholas Moncrieff öffnete die Tür und trat als freier Mann auf die Straße. Morgen würde er Danny Cartwright sein.
»Bist du wach?«
»Ja«, sagte Beth.
»Hoffst du immer noch, dass ich meine Meinung ändere?«
»Ja, aber ich weiß, es wäre sinnlos, dich überreden zu wollen, Danny. Du warst immer schon störrisch wie ein Esel. Ich hoffe, dir ist klar, dass dies unsere letzte gemeinsame Nacht ist, wenn sich deine Entscheidung als falsch erweist.«
»Aber wenn ich recht habe, warten zehntausend Nächte wie diese auf uns«, erwiderte Danny.
»Wir können ein ganzes Leben voller Nächte wie dieser haben, ohne dass du ein so großes Risiko eingehst.«
»Ich gehe dieses Risiko seit meiner Entlassung aus dem Gefängnis jeden Tag ein. Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn man sich ständig über die Schulter schaut, Beth, wenn man dauernd darauf wartet, dass jemand sagt: ›Das Spiel ist aus, Dannyboy, du wanderst jetzt für den Rest deines Lebens zurück in den Knast.‹ Auf diese Weise bringe ich sie vielleicht dazu, mir zuzuhören.«
»Aber was hat dich davon überzeugt, dass du nur so deine Unschuld beweisen kannst?«
»Du warst das«, sagte Danny. »Als ich dich in der Tür stehen sah … ›Es tut mir leid, Sie zu stören, Sir Nicholas‹«, machte er sie nach, »da wurde mir klar, dass ich nicht länger Sir Nicholas Moncrieff sein will. Ich bin Danny Cartwright, und ich liebe Beth Bacon aus der Wilson Road.«
Beth lachte. »Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann du mich das letzte Mal so genannt hast.«
»Als du eine furchtbare Elfjährige mit Rattenschwänzen warst.«
Beth ließ sich auf das Kissen fallen und sagte eine Weile nichts. Danny fragte sich schon, ob sie eingeschlafen war, aber dann nahm sie seine Hand. »Es ist genauso gut möglich, dass du den Rest deines Lebens im Gefängnis verbringen musst.«
»Ich hatte reichlich Zeit, darüber nachzudenken«, sagte Danny. »Ich bin davon überzeugt, wenn ich mit Alex Redmayne zusammen auf ein Polizeirevier gehe und mich stelle – zusammen mit dem Haus, allen Vermögenswerten und vor allem mit dir, glaubst du nicht, dass dann irgendjemand davon überzeugt sein wird, dass ich unschuldig bin?«
»Die meisten Menschen würden ein solches Risiko nicht eingehen«, erklärte Beth. »Sie wären ganz zufrieden damit, den Rest ihres Lebens als Sir Nicholas Moncrieff zu verbringen, mit allem, was dazu gehört.«
»Aber das ist genau der Punkt, Beth. Ich bin nicht Sir Nicholas Moncrieff, ich bin Danny Cartwright.«
»Und ich bin nicht Beth Moncrieff, und doch würde ich lieber Beth Moncrieff sein, als dich die nächsten zwanzig Jahre jeden ersten Sonntag im Monat in Belmarsh zu besuchen.«
»Es würde aber kein Tag vergehen, an dem du nicht über die Schulter sehen, die kleinste Anspielung missverstehen würdest und jedem aus dem Weg gehen müsstest, der Danny oder auch Nick gekannt hat. Und mit wem kannst du dieses Geheimnis teilen? Mit deiner Mutter? Mit meiner Mutter? Mit deinen Freundinnen? Die Antwort lautet: mit niemandem. Und was sollen wir Christy erzählen, sobald sie alt genug ist, um alles zu verstehen? Sollen wir von ihr verlangen, dass sie ein Leben der Lüge führt und nie erfährt, wer ihre Eltern wirklich sind? Nein, wenn das die Alternative ist, dann gehe ich lieber ein Risiko ein. Wenn drei Oberste Richter meinen Fall für so gut halten, dass sie eine königliche Begnadigung in Erwägung ziehen, dann halten sie den Fall vielleicht für noch besser, wenn ich bereit bin, so viel aufzugeben, um meine Unschuld zu beweisen.«
»Ich weiß, dass du recht hast, Danny, aber die letzten Tage waren die glücklichsten meines ganzen Lebens.«
»Meine auch, Beth. Aber sie werden noch glücklicher sein, sobald ich ein freier Mann bin. Ich glaube an die menschliche Natur, und ich glaube, dass Alex Redmayne, Fraser Munro und sogar Sarah Davenport nicht ruhen werden, bevor nicht der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.«
»Du hast eine Schwäche für Sarah Davenport, nicht wahr?« Beth fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare.
Danny lächelte sie an. »Ich muss zugeben, dass Sir Nicholas Moncrieff eine Schwäche für sie hatte, aber Danny Cartwright? Niemals!«
»Lass uns noch einen Tag zusammen verbringen«, schlug sie vor. »Lass uns etwas tun, was wir noch nie getan haben. Und da es dein letzter Tag in Freiheit sein könnte, erlaube ich dir alles, was du dir wünschst.«
»Dann lass uns im Bett bleiben, den ganzen Tag«, sagte Danny.
»Männer!« Beth lächelte.
»Wir könnten morgens mit Christy in den Zoo und dann in Ramsey’s Fish und Chips Imbiss essen.«
»Und dann?«, fragte Beth.
»Dann gehe ich in den Upton Park und schaue mir die Hammers an, während du mit Christy deine Mutter besuchst.«
»Und am Abend?«
»Da darfst du dir einen Film aussuchen. Egal, welchen … Hauptsache, es ist der neue James Bond.«
»Und danach?«
»Dasselbe wie jede Nacht in dieser Woche.« Er nahm sie in die Arme.
»Wenn das so ist, dann halten wir uns besser an Plan A«, sagte Beth. »Du musst morgen früh rechtzeitig zu deinem Termin mit Alex Redmayne kommen.«
»Ich kann’s kaum erwarten, sein Gesicht zu sehen«, freute sich Danny. »Er denkt, er hat einen Termin mit Sir Nicholas Moncrieff, um über die Tagebücher zu sprechen und über die Möglichkeit, dass er seine Meinung ändert und als Zeuge auftritt, wo er in Wirklichkeit Danny Cartwright von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten wird, der sich stellen will.«
»Alex wird entzückt sein«, meinte Beth. »Er sagt ständig: ›Wenn ich doch nur eine zweite Chance hätte.‹«
»Tja, er wird sie erhalten. Und ich sage dir, Beth, ich kann diesen Termin auch deshalb kaum erwarten, weil ich zum ersten Mal seit Jahren frei sein werde.« Danny beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Lippen. Als sie aus ihrem Nachthemd glitt, legte er seine Hand auf ihren Schenkel.
»Da ist noch etwas, worauf du die kommenden Monate verzichten musst«, flüsterte Beth. Plötzlich dröhnte ein Donnerschlag durch den Flur im Erdgeschoss.
»Was zum Teufel war das?« Danny schaltete die Nachttischlampe ein. Er hörte schwere Schritte die Treppe hochkommen. Danny schwang gerade die Beine über die Bettkante, als drei Polizisten in schusssicheren Westen und mit Schlagstöcken ins Schlafzimmer stürmten, drei weitere dicht hinter ihnen. Die ersten drei packten Danny und warfen ihn zu Boden, obwohl er keine Anstalten zeigte, sich zu wehren. Zwei von ihnen drückten sein Gesicht in den Teppich, während ihm der dritte die Hände auf den Rücken riss und ihm Handschellen anlegte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie eine Polizistin die nackte Beth gegen die Wand presste, während eine andere ihr Handschellen anlegte.
»Sie hat nichts getan!«, brüllte er, wollte sich losreißen und auf sie zulaufen, aber noch bevor er sich ganz aufgerichtet hatte, landete ein Schlagstock mit voller Wucht auf seinem Schädel, und er fiel wieder zu Boden.
Zwei Männer sprangen auf ihn, einer presste ein Knie auf seine Wirbelsäule, während der andere sich auf seine Beine setzte. Als Inspektor Fuller den Raum betrat, rissen sie Danny auf die Beine.
»Lest ihnen ihre Rechte vor«, sagte Fuller, setzte sich auf das Bett und zündete sich eine Zigarette an.
Nachdem das Ritual abgeschlossen war, stand er auf und schlenderte zu Danny.
»Dieses Mal werde ich dafür sorgen, dass man den Schlüssel wegwirft, Cartwright«, sagte er, als ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Und was deine kleine Freundin betrifft, so wird es keine Sonntagsbesuche mehr geben, weil sie nämlich ihre eigene Zelle bekommt.«
»Unter welcher Anklage?«, spuckte Danny.
»Begünstigung und Beihilfe sollten allemal ausreichen. Für gewöhnlich bringt das sechs Jahre ein, wenn ich mich recht erinnere. Nehmt sie mit.«
Danny und Beth wurden wie Kartoffelsäcke nach unten und aus der Haustür gezerrt, wo bereits drei Streifenwagen mit Blaulicht und offenen Türen auf sie warteten. Und überall rund um den Platz gingen jetzt die Schlafzimmerlichter an, während im Schlaf aufgeschreckte Nachbarn aus den Fenstern lugten, um zu sehen, was um alles in der Welt in Nummer 12 vor sich ging.
Danny wurde auf den Rücksitz des mittleren Streifenwagens geworfen, eingeklemmt zwischen zwei Beamten, nur mit einem Handtuch um die Hüften. Er sah Big Al, dem im Wagen vor ihm dieselbe Behandlung zuteil wurde. Die Autos fuhren im Konvoi vom Platz, ohne Sirenen, ohne je die Geschwindigkeitsbegrenzung zu überschreiten. Inspektor Fuller freute sich, dass die ganze Aktion weniger als zehn Minuten gedauert hatte. Sein Informant hatte sich bis ins kleinste Detail als zuverlässig erwiesen.
Danny ging nur ein Gedanke durch den Kopf. Wer würde ihm jetzt noch glauben, wenn er erzählte, dass er für den nächsten Morgen einen Termin bei seinem Anwalt hatte, wo er sich stellen und mit ihm das nächste Polizeirevier aufsuchen wollte?