40
»Guten Morgen, Mr. Munro.« Danny streckte die Hand aus. »Wie schön, Sie wiederzusehen.«
»Gleichfalls, Sir Nicholas«, erwiderte Munro. »Hatten Sie eine angenehme Reise?«
Nick hatte Mr. Munro so gut beschrieben, dass Danny das Gefühl hatte, ihn bereits zu kennen. »Ja, danke. Im Zug konnte ich noch einmal unsere Korrespondenz durchlesen und mir Ihre Empfehlungen durch den Kopf gehen lassen.«
Munro führte ihn zu einem bequemen Stuhl neben seinem Schreibtisch.
»Ich fürchte, mein letztes Schreiben hat Sie nicht mehr rechtzeitig erreicht«, sagte Munro. »Ich hätte ja angerufen, aber …«
»Das war eben nicht möglich«, unterbrach Danny, der nur daran interessiert war, was in dem Brief stand.
»Ich fürchte, es handelt sich um keine gute Nachricht.« Munro klopfte mit den Fingern auf den Schreibtisch – eine Angewohnheit, die Nick nicht erwähnt hatte. »Gegen Sie wurde eine Verfügung erlassen …«
Danny krallte sich in die Lehne des Stuhles. Wartete die Polizei vor der Tür auf ihn?
»… von Ihrem Onkel Hugo.«
Danny atmete sichtlich erleichtert auf.
»Ich hätte es kommen sehen müssen«, sagte Munro. »Darum mache ich mir die größten Vorwürfe.«
Und was weiter, hätte Danny am liebsten gesagt. Nick sagte nichts.
»In der Verfügung wird behauptet, dass Ihr Vater das Anwesen in Schottland und das Haus in London Ihrem Onkel vermachte und dass Sie daher keinerlei rechtliche Ansprüche darauf haben.«
»Das ist doch Unsinn!«, rief Danny.
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich darauf antworten, dass wir mit aller uns zu Gebote stehenden Macht gegen diese Verfügung angehen werden.« Danny war mit Munros Vorgehen vollkommen einverstanden, obwohl ihm klar war, dass Nick zurückhaltender agiert hätte.
»Was alles noch viel schlimmer macht«, fuhr Munro fort, »ist der Umstand, dass die Anwälte Ihres Onkels einen sogenannten Kompromiss vorgeschlagen haben.«
Danny nickte, immer noch nicht in der Lage, etwas dazu zu sagen.
»Sollten Sie das ursprüngliche Angebot Ihres Onkels akzeptieren, dass nämlich beide Immobilien in seinen Besitz übergehen und er dafür auch die Hypotheken übernimmt, dann würde die Verfügung zurückgezogen.«
»Er blufft nur«, sagte Danny. »Wenn ich mich recht erinnere, Mr. Munro, lautete Ihr ursprünglicher Rat an mich, gegen meinen Onkel vor Gericht zu ziehen und meinen Anspruch auf das Geld anzumelden, das mein Vater sich auf die beiden Immobilien geliehen hat – nämlich 2,1 Millionen Pfund.«
»Das habe ich Ihnen geraten«, sagte Mr. Munro. »Aber wenn ich mich recht erinnere, Sir Nicholas« – er setzte seine Bifokalbrille auf und öffnete eine Akte – »ja, hier ist es. Ihre exakten Worte lauteten: ›Wenn das der Letzte Wille meines Vaters war, dann werde ich nicht dagegen vorgehen.‹«
»Das war meine Ansicht zum damaligen Zeitpunkt, Mr. Munro«, erklärte Danny. »Aber die Umstände haben sich zwischenzeitlich geändert. Ich glaube nicht, dass mein Vater damit einverstanden gewesen wäre, dass Onkel Hugo eine Verfügung gegen seinen Neffen erwirkt.«
»Da gebe ich Ihnen recht.« Munro konnte kaum seine Überraschung angesichts der Meinungsänderung seines Mandanten verbergen. »Darf ich also vorschlagen, Sir Nicholas, dass wir seinen Bluff aufdecken und ihn zwingen, Farbe zu bekennen?«
»Wie können wir das tun?«
»Wir könnten eine Gegenverfügung erwirken«, erwiderte Munro, »und das Gericht zu der Feststellung veranlassen, ob Ihr Vater überhaupt das Recht hatte, Geld auf die beiden Immobilien zu leihen, ohne Sie zuvor zu konsultieren. Ich bin zwar von Natur aus ein vorsichtiger Mann, Sir Nicholas, aber ich möchte doch behaupten, dass wir das Gesetz auf unserer Seite haben. Ich bin sicher, Sie haben in Ihrer Jugend Bleak House gelesen.«
»Es ist noch gar nicht so lange her«, sagte Danny.
»Dann kennen Sie ja die Risiken, die mit einer solchen Aktion einhergehen.«
»Anders als Jarndyce und Jarndyce gehe ich bei Onkel Hugo davon aus, dass er sich außergerichtlich einigen will«, meinte Danny.
»Was bringt Sie zu dieser Annahme?«
»Er wird sein Konterfei nicht auf der Titelseite des Scotsman und der Edinburgh Evening News sehen wollen, die beide ihre Leser und Leserinnen nur zu gern daran erinnern werden, wo sein Neffe die letzten vier Jahre verbracht hat.«
»Ein Punkt, den ich noch gar nicht berücksichtigt hatte«, räumte Munro ein. »Aber wenn ich so darüber nachdenke, muss ich Ihnen recht geben.« Er hüstelte. »Als wir uns das letzte Mal trafen, da schienen Sie nicht der Meinung zu sein, dass –«
»Als wir uns das letzte Mal trafen, Mr. Munro, war ich mit anderen Dingen beschäftigt und daher nicht in der Verfassung, die Bedeutung dessen zu ermessen, was Sie mir mitteilten. Seit damals hatte ich Zeit, über Ihren Rat nachzudenken und …« Danny hatte diese Sätze in seiner Zelle immer wieder geübt, wobei Big Al die Rolle von Mr. Munro gespielt hatte.
»Natürlich.« Munro setzte seine Brille ab und betrachtete seinen Mandanten eingehend. »Mit Ihrer Erlaubnis werde ich also vom Leder ziehen. Ihnen muss allerdings klar sein, dass sich diese Angelegenheit in die Länge ziehen könnte.«
»Wie lange?«, wollte Danny wissen.
»Ein Jahr, möglicherweise länger, bevor der Fall vor Gericht kommt.«
»Das könnte in der Tat ein Problem werden«, meinte Danny. »Ich bin nicht sicher, ob genug Geld auf meinem Konto bei Coutts ist, um …«
»Zweifellos werden Sie sich mit mir in Verbindung setzen, sobald Sie mit Ihren Bankern gesprochen haben.«
»Natürlich«, sagte Danny.
Mr. Munro hüstelte neuerlich. »Wir sollten noch über ein oder zwei andere Dinge sprechen, Sir Nicholas.«
Danny nickte nur. Munro setzte seine Brille wieder auf und wühlte einige Papiere auf seinem Schreibtisch durch. »Vor kurzem haben Sie im Gefängnis ein Testament aufgesetzt.« Munro zog ein Dokument unter dem Papierberg hervor.
»Erinnern Sie mich an die Details.« Danny erkannte die vertraute Handschrift von Nick auf dem linierten Gefängnispapier.
»Sie stellen den Großteil Ihres Besitzes einem gewissen Daniel Cartwright in Aussicht.«
»O mein Gott«, entfuhr es Danny.
»Darf ich aus dieser Äußerung schließen, dass Sie Ihr Testament überdenken wollen, Sir Nicholas?«
»Nein.« Danny fasste sich rasch wieder. »Es ist nur so, dass Danny Cartwright vor kurzem verstorben ist.«
»Dann werden Sie in Kürze ein neues Testament aufsetzen müssen. Aber offen gesagt haben wir derzeit an dringlichere Dinge zu denken.«
»An was zum Beispiel?«
»Es gibt einen Schlüssel, den Ihr Onkel offenbar unbedingt in die Finger bekommen möchte.«
»Einen Schlüssel?«
»Ja«, sagte Mr. Munro. »Anscheinend ist er bereit, Ihnen eintausend Pfund für eine Silberkette mit einem Schlüssel anzubieten, den Sie seiner Meinung nach in Ihrem Besitz haben. Ihm ist klar, dass Kette und Schlüssel an sich wenig Wert besitzen, aber er wünscht, dass diese Objekte in der Familie bleiben.«
»Das werden sie auch«, beteuerte Danny. »Mr. Munro, darf ich Sie ganz im Vertrauen fragen, ob Sie wissen, was man mit diesem Schlüssel öffnen kann?«
»Nein, das weiß ich nicht«, räumte Munro ein. »In diesem Punkt hat sich mir Ihr Großvater nicht anvertraut. Ich nehme mir die Kühnheit heraus, zu behaupten, dass es angesichts der Tatsache, wie sehr es Ihr Onkel auf den Schlüssel abgesehen hat, äußerst wahrscheinlich ist, dass der Inhalt dessen, was sich mit diesem Schlüssel öffnen lässt, weit mehr als eintausend Pfund wert ist.«
»Sehr richtig«, sagte Danny und ahmte dabei Mr. Munro nach.
»Wie soll ich also auf dieses Angebot reagieren?«, fragte Munro.
»Sagen Sie ihm, dass Sie von der Existenz eines solchen Schlüssels keine Kenntnis haben.«
»Wie Sie wünschen, Sir Nicholas. Aber ich zweifele nicht daran, dass er sich nicht so leicht davon abbringen lassen, sondern sich mit einem höheren Angebot an uns wenden wird.«
»Meine Antwort wird sich nicht ändern, ungeachtet seines Angebots«, erklärte Danny fest.
»Dann soll es so sein«, sagte Munro. »Darf ich fragen, ob Sie die Absicht haben, sich in Schottland niederzulassen?«
»Nein, Mr. Munro. Ich werde demnächst nach London zurückkehren, um meine finanziellen Angelegenheiten zu regeln. Aber seien Sie versichert, dass ich mit Ihnen in Kontakt bleibe.«
»Dann benötigen Sie die Schlüssel zu Ihrem Haus in London«, sagte Mr. Munro. »Seit dem Tod Ihres Vaters befinden sie sich in meinem Safe.« Er stand auf und ging zu einem großen Tresor in der Ecke seines Büros, wo er einen Code eingab und die schwere Tür aufzog, hinter der mehrere Regale voller Dokumente zum Vorschein kamen. Munro nahm zwei Umschläge vom obersten Regal. »Ich bin im Besitz der Schlüssel zu dem Haus in The Boltons und zu Ihrem Anwesen hier in Schottland, Sir Nicholas. Möchten Sie alle Schlüssel an sich nehmen?«
»Nein, danke«, erwiderte Danny. »Im Augenblick benötige ich nur die Schlüssel für mein Haus in London. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Schlüssel für das Anwesen bei sich behalten. Schließlich kann ich nicht an zwei Orten gleichzeitig sein.«
»Sehr richtig«, sagte Mr. Munro und reichte ihm einen der beiden gefütterten Umschläge.
»Danke«, sagte Danny. »Sie haben unserer Familie viele Jahre lang loyal gedient.« Mr. Munro lächelte. »Mein Großvater –«
»Ach«, seufzte Munro. Danny fragte sich, ob er zu weit gegangen war. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, aber wo Sie Ihren Großvater erwähnen, fällt mir wieder ein, dass ich noch einen Punkt zu klären habe.« Er kehrte zum Safe zurück, wühlte einen Augenblick darin herum und zog einen schmalen Umschlag heraus. »Ah, hier ist er ja«, verkündete er, Triumph im Blick. »Ihr Großvater hat mich gebeten, Ihnen den hier persönlich zu überreichen, jedoch erst nach dem Tod Ihres Vaters. Ich hätte seinem Wunsch schon bei unserer letzten Begegnung entsprechen sollen, aber angesichts all der … äh … Auflagen, denen Sie damals zu folgen hatten, ist es mir ehrlich gesagt entfallen.« Er reichte Danny den Umschlag. Danny sah hinein, fand aber nichts darin vor.
»Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?«, fragte Danny.
»Nein«, gab Munro zu. »Vielleicht sind der Name und die Adresse auf dem Umschlag von Bedeutung?«
Danny inspizierte den Umschlag. Er war an Baron de Coubertin, 25 Rue de la Croix Rouge, Genève, La Suisse adressiert. Danny steckte den Umschlag kommentarlos in seine Innentasche.
»Ich hoffe, Sir Nicholas, dass wir Sie bald wieder in Schottland begrüßen dürfen«, meinte Mr. Munro. »Sollten Sie in der Zwischenzeit meiner Dienste bedürfen, rufen Sie mich bitte jederzeit an.«
»Ich weiß nicht, wie ich mich für Ihre Freundlichkeit erkenntlich zeigen kann«, sagte Danny.
»Ich bin sicher, sobald wir das Problem Onkel Hugo gelöst haben, werde ich mich mehr als angemessen kompensiert fühlen.« Er lächelte freudlos, dann begleitete er Sir Nicholas zur Tür, schüttelte ihm herzlich die Hand und verabschiedete sich.
Während Mr. Munro seinem Mandanten nachsah, der in Richtung Hotel ging, musste er daran denken, wie sehr Sir Nicholas seinem Großvater ähnelte, obwohl er sich fragte, ob es klug war, die Regimentskrawatte zu tragen – angesichts der Umstände.
»Er hat was getan?«, brüllte Hugo in den Hörer.
»Er hat eine Gegenverfügung erwirkt und meldet auf die 2,1 Millionen Pfund, mit denen Sie die beiden Anwesen beliehen haben, eigene Ansprüche an.«
»Dahinter muss Fraser Munro stecken«, erklärte Hugo. »Nick hätte niemals den Mumm, sich gegen die Wünsche seines Vaters zu stellen. Was machen wir jetzt?«
»Wir akzeptieren die Gegenverfügung und teilen ihnen mit, dass wir uns vor Gericht wiedersehen werden.«
»Das können wir uns nicht leisten«, widersprach Hugo. »Sie haben immer gesagt, falls der Fall je vor Gericht enden sollte, würden wir verlieren – und die Presse hätte ihren großen Tag.«
»Stimmt, aber es wird nie vor Gericht enden.«
»Was macht Sie so sicher?«
»Ich werde dafür sorgen, dass sich der Fall mindestens zwei Jahre hinzieht – Ihrem Neffen wird lange vorher das Geld ausgegangen sein. Vergessen Sie nicht, wir wissen, wie viel sich auf seinem Konto befindet. Sie müssen nur etwas Geduld aufbringen, während ich ihn ausbluten lasse.«
»Was ist mit dem Schlüssel?«
»Munro behauptet, er wisse nichts von einem Schlüssel.«
»Bieten Sie ihm mehr Geld«, sagte Hugo. »Sollte Nick je herausfinden, was sich mit dem Schlüssel öffnen lässt, kann er nämlich zusehen, wie ich ausblute.«