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»Kannst du darauf aufpassen, so lange ich weg bin?« Nick öffnete den Verschluss der silbernen Kette um seinen Hals und reichte sie Danny.
»Klar«, sagte Danny und betrachtete den Schlüssel, der an der Kette hing. »Warum nimmst du die Kette nicht mit?«
»Lass uns annehmen, dass ich dir mehr vertraue, als den meisten Menschen, denen ich im Laufe des heutigen Tages begegnen werde«, meinte Nick ohne weitere Erklärung.
»Ich fühle mich geschmeichelt.« Danny legte sich die Kette um.
Nick lächelte. »Dazu besteht kein Grund.«
Nick betrachtete sich im kleinen Stahlspiegel über dem Waschbecken. Seine persönlichen Besitztümer waren ihm um fünf Uhr an diesem Morgen ausgehändigt worden, in einer großen Plastiktüte, die seit vier Jahren nicht mehr geöffnet worden war. Er musste um sechs Uhr aufbrechen, wenn er rechtzeitig zur Beerdigung in Schottland sein wollte.
»Ich kann es kaum erwarten«, sagte Danny und starrte ihn an.
»Was denn?« Nick rückte seine Krawatte zurecht.
»Dass ich endlich wieder meine eigenen Klamotten tragen darf.«
»Schon zu deinem Berufungsverfahren wird es soweit sein, und sobald das Urteil aufgehoben wird, musst du nie wieder Gefängniskleidung tragen. Du wirst direkt aus dem Gerichtsgebäude marschieren. Als freier Mann.«
»Insbesondere, wenn sie meine Kassette gehört haben«, fiel Big Al grinsend ein. »Ich glaube, heute ist der Tag gekommen.« Er wollte gerade erklären, was er damit meinte, als sie den Schlüssel im Schloss hörten. Zum ersten Mal sahen sie Mr. Pascoe und Mr. Jenkins in Zivilkleidung.
»Folgen Sie mir, Moncrieff«, sagte Mr. Pascoe. »Der Direktor will mit Ihnen reden, bevor wir nach Edinburgh aufbrechen.«
»Meine Empfehlung an den Herrn Direktor«, rief Danny, »und fragen Sie ihn, ob er gelegentlich zum Nachmittagstee vorbeischauen möchte.«
Nick lachte, als er hörte, wie Danny seinen Akzent imitierte. »Wenn du glaubst, dass du als ich durchgehen kannst, warum übernimmst du dann nicht heute Vormittag meinen Unterricht?«
»Sprichst du mit mir?«, fragte Big Al.
Davenports Telefon klingelte, aber es dauerte eine Weile, bis er unter der Decke auftauchte und den Hörer abnahm. »Wer zum Teufel ist denn da?«, murmelte er und schaltete die Nachttischlampe ein.
»Gibson«, verkündete die vertraute Stimme seines Agenten.
Davenport war sofort hellwach. Gibson Graham rief nur an, wenn es Arbeit gab. Davenport betete um einen Film, eine neue Fernsehrolle oder vielleicht einen Werbeauftrag – das wurde extrem gut bezahlt, auch wenn es nur Voiceover war. Mit Sicherheit würden seine Fans das wohlklingende Timbre von Dr. Beresford wiedererkennen.
»Ich habe eine Anfrage bekommen, ob du verfügbar bist.« Gibson versuchte, es so klingen zu lassen, als komme das regelmäßig vor. Davenport richtete sich auf und hielt den Atem an. »Eine Neuinszenierung von Bunbury oder Ernst sein ist alles. Sie wollen, dass du den Jack gibst. Eve Best wurde als Gwendolyn verpflichtet. Vier Wochen auf Tour, dann Premiere im West End. Die Bezahlung ist nicht so rosig, aber es wird allen Produzenten in Erinnerung rufen, dass es dich noch gibt.« Wie diplomatisch formuliert, dachte Davenport. Allerdings konnte er sich für diese Idee nicht wirklich erwärmen. Er erinnerte sich nur zu gut, wie es war, wenn man wochenlang tourte, gefolgt von täglichen Auftritten im West End. Von den halb leeren Matinees ganz zu schweigen. Obwohl er zugeben musste, dass es sich dabei um das erste ernstzunehmende Angebot seit fast vier Monaten handelte.
»Ich denke darüber nach«, meinte er.
»Aber bitte nicht zu lange«, riet Gibson. »Ich weiß, dass sie auch schon mit dem Agenten von Nigel Havers in Kontakt stehen.«
»Ich denke darüber nach«, wiederholte Davenport und legte den Hörer auf. Er sah auf seinen Wecker. Zehn nach zehn. Er stöhnte, schaltete das Licht aus und kroch wieder unter die Decke.
Mr. Pascoe klopfte leise an die Tür, dann begleiteten er und Mr. Jenkins Nick ins Büro.
»Guten Morgen, Moncrieff«, sagte der Direktor und sah von seinem Schreibtisch auf.
»Guten Morgen, Mr. Barton«, antwortete Nick.
»Ihnen ist klar, dass Sie zwar Sonderurlaub erhalten haben, um der Beerdigung Ihres Vaters beizuwohnen, dass Sie aber trotzdem ein Gefangener der Kategorie A bleiben, was bedeutet, dass zwei Beamte Sie bis zu Ihrer Rückkehr heute Nacht begleiten werden«, sagte Barton. »Gemäß den Bestimmungen haben Sie eigentlich die ganze Zeit Handschellen zu tragen. Angesichts der Umstände und weil Sie in den vergangenen zwei Jahren ein vorbildlicher Gefangener waren und Sie ja auch in einigen Monaten entlassen werden, werde ich von meinem Vorrecht Gebrauch machen und Ihnen gestatten, nach Überschreiten der Grenze zu Schottland die Handschellen abzulegen. Außer Mr. Pascoe oder Mr. Jenkins hätten Grund zu der Annahme, dass Sie zu fliehen versuchen oder ein Verbrechen planen. Ich bin sicher, ich muss Sie nicht daran erinnern, Moncrieff, dass ich dem Bewährungsausschuss von einer vorzeitigen Entlassung am« – er warf einen Blick in Nicks Akte – »am siebzehnten Juli abraten muss, sollten Sie meine Entscheidung auszunutzen versuchen, und dass Sie dann Ihre volle Strafe abzusitzen hätten, also weitere vier Jahre. Haben Sie das begriffen, Moncrieff?«
»Ja. Dankeschön, Governor«, sagte Nick.
»Dann bleibt mir nichts weiter zu sagen, als dass ich Ihnen zum Tod Ihres Vaters mein Beileid ausspreche und hoffe, dass Sie einen friedvollen Tag verleben werden.« Michael Barton erhob sich und fügte hinzu: »Es tut mir sehr leid, dass dieses traurige Ereignis nicht nach Ihrer Entlassung stattfinden konnte.«
»Danke, Governor.«
Barton nickte und Mr. Pascoe und Mr. Jenkins führten den Gefangenen ab.
Der Direktor runzelte die Stirn, als er den Namen des nächsten Gefangenen las, der zu ihm vorgelassen werden sollte. Auf diese Begegnung freute er sich nicht.
Während der Vormittagspause übernahm Danny Nicks Pflichten als Gefängnisbibliothekar, stellte frisch zurückgegebene Bücher wieder an ihren Regalplatz und stempelte das Datum in die Bücher, die die Gefangenen auszuleihen wünschten. Nachdem er damit fertig war, nahm er eine Ausgabe der Times vom Zeitungsregal und setzte sich. Jeden Morgen wurden diverse Zeitungen an das Gefängnis ausgeliefert, man durfte sie aber nur in der Bibliothek lesen: sechs Ausgaben der Sun, vier Ausgaben des Mirror, zweimal die Daily Mail und eine einzige Ausgabe der Times – Danny fand, dass sich in diesem Verhältnis die Vorlieben der Gefangenen sehr gut widerspiegelten.
Seit einem Jahr las Danny jeden Tag die Times. Anders als Nick konnte er das Kreuzworträtsel immer noch nicht lösen, aber er verbrachte ebenso viel Zeit mit dem Wirtschaftsteil wie mit den Sportseiten. Doch dieser Tag war anders. Er blätterte die Zeitung durch, bis er zu einem Teil kam, den er bislang nie gelesen hatte.
Der Nachruf auf Sir Angus Moncrieff, Baronet, Träger des Military Cross und des Order of the British Empire, erstreckte sich über eine halbe Seite, auch wenn es nur die untere Hälfte war. Danny las die Einzelheiten seines Lebens nach, von den Tagen an der Loretto School, gefolgt von seiner militärischen Ausbildung in Sandhurst, nach der er als Leutnant zu den Cameron Highlanders kam. Nachdem ihm das Military Cross für seinen Einsatz in Korea verliehen worden war, wurde Sir Angus Oberst des Regiments und erhielt 1994 den Order of the British Empire. Im letzten Absatz stand, dass seine Frau 1970 gestorben war und der Titel nun an ihren einzigen Sohn, Nicholas Alexander Moncrieff, überging. Danny nahm das Lexikon zur Hand, das immer in seiner Nähe war, und schlug die Bedeutung von Baronet, Military Cross und Order of the British Empire nach. Er lächelte bei dem Gedanken, wie er Big Al erzählen würde, dass sie ihre Zelle jetzt mit einem Ritter teilten, mit Sir Nicholas Moncrieff, Baronet.
»Bis nachher, Nick!«, rief eine Stimme, aber der Gefangene hatte die Bibliothek schon verlassen, bevor Danny seinen Irrtum klarstellen konnte.
Danny spielte mit dem Messer an der silbernen Kette und wünschte sich, wie Malvolio, dass er jemand sein könnte, der er nicht war. Es erinnerte ihn daran, dass er bis zum Ende der Woche seine Erörterung über Was ihr wollt bei Miss Watkins abzugeben hatte. Er dachte an den Irrtum, der seinem Mitgefangenen unterlaufen war, und fragte sich, ob er vor Nicks Schülern damit durchkommen würde. Danny faltete die Times, legte sie wieder auf das Regal und ging dann quer über den Flur zur Fortbildungsabteilung.
Die Gruppe von Nick saß bereits wartend an ihren Tischen. Offenbar hatte ihnen niemand gesagt, dass ihr üblicher Lehrer auf dem Weg nach Schottland war, um der Beerdigung seines Vaters beizuwohnen. Danny marschierte kühn durch den Raum und lächelte die zwölf erwartungsvollen Gesichter an. Er knöpfte sein blau-weiß gestreiftes Hemd auf, damit man die silberne Kette noch deutlicher sehen konnte.
»Schlagt eure Bücher auf Seite neun auf.« Danny hoffte, dass er wie Nick klang. »Ihr seht Abbildungen von Tieren auf der linken Seite und eine Liste mit Namen auf der rechten. Ich verlange nichts weiter, als dass ihr die Bilder mit den Namen in Verbindung bringt. Ihr habt zwei Minuten.«
»Ich kann Seite neun nicht finden«, sagte einer der Gefangenen. Danny ging zu ihm, als ein Beamter in den Raum trat. Er wirkte verwirrt.
»Moncrieff?«
Danny sah auf.
»Ich dachte, Sie hätten Sonderurlaub?« Der Beamte sah auf sein Klemmbrett.
»Sie haben absolut recht, Mr. Roberts«, sagte Danny. »Nick ist auf der Beerdigung seines Vaters in Schottland. Er hat mich gebeten, heute Morgen seinen Leseunterricht zu übernehmen.«
Roberts wirkte noch verwirrter. »Wollen Sie mich verarschen, Cartwright?«
»Nein, Mr. Roberts.«
»Dann bewegen Sie Ihren Hintern zurück in die Bibliothek, bevor ich eine Meldung mache.«
Rasch verließ Danny den Raum und kehrte an seinen Schreibtisch in der Bibliothek zurück. Er versuchte, nicht zu lachen, aber es dauerte eine Weile, bis er sich genug konzentrieren konnte, um an dem Aufsatz über seine Lieblingskomödie von Shakespeare weiterzuschreiben.
Kurz nach zwölf fuhr Nicks Zug im Waverly Bahnhof ein. Ein Streifenwagen wartete bereits auf sie, um sie von Edinburgh in das dreißig Meilen entfernte Dunbroath zu fahren. Als sie losfuhren, sah Pascoe auf seine Uhr. »Wir haben noch reichlich Zeit. Die Trauerfeier beginnt erst um 14 Uhr.«
Nick schaute aus dem Wagenfenster und sah, wie die Stadt dem offenen Land wich. Er spürte ein Gefühl der Freiheit, das er seit Jahren nicht mehr gekannt hatte. Nick hatte ganz vergessen, wie herrlich Schottland war, mit der rauen Landschaft in Grün und Braun und dem beinahe purpurnen Himmel. Fast vier Jahre in Belmarsh, wo man nur hohe Steinmauern mit Stacheldraht sah, hatten die Erinnerung getrübt.
Er versuchte, sich zu sammeln, bevor sie die Gemeindekirche erreichten, in der er getauft worden war. Mr. Pascoe hatte sich einverstanden erklärt, dass er nach dem Gottesdienst eine Stunde mit Fraser Munro, dem Familienanwalt, reden durfte, der auch seinen Sonderurlaub beantragt hatte. Außerdem vermutete Nick, dass Munro um minimale Sicherheitsvorkehrungen gebeten hatte, also ohne Handschellen, sobald sie die Grenze nach Schottland überquerten.
Der Streifenwagen fuhr 15 Minuten vor Beginn des Gottesdienstes vor der Kirche vor. Ein älterer Herr, an den Nick sich aus seiner Jugend erinnerte, trat vor, als der Polizist den Wagenschlag öffnete. Der Mann trug einen schwarzen Gehrock, einen steifen Kragen und eine schwarze Seidenkrawatte. Nick schüttelte ihm die Hand und lächelte. »Guten Tag, Mr. Munro«, sagte er. »Wie schön, Sie wiederzusehen.«
»Guten Tag, Sir Nicholas«, erwiderte dieser. »Willkommen zu Hause.«
»Leach, obwohl Sie aus der Dunkelhaft entlassen wurden, möchte ich Sie daran erinnern, dass es nur eine einstweilige Entlassung ist«, sagte der Direktor. »Sollten Sie in Ihrem Flügel auch nur für den Hauch von Unruhe sorgen, werden Sie ohne Nachsehen meinerseits unverzüglich wieder in verdunkelte Einzelhaft kommen.«
»Ohne Nachsehen Ihrerseits?«, höhnte Leach, der vor dem Schreibtisch des Direktors stand, je einen Beamten zu beiden Seiten.
»Stellen Sie etwa meine Autorität in Frage?«, erkundigte sich der Direktor. »Falls dem so sein sollte …«
»Nein, keineswegs, Sir«, meinte Leach sarkastisch. »Nur Ihre Kenntnis der Gefängnisverordnung von 1999. Ich wurde in Dunkelhaft gelegt, bevor Meldung gemacht wurde.«
»Ein Direktor hat das Recht, eine solche Maßnahme zu ergreifen, ohne dass Meldung erstattet wurde, wenn er Grund zu der Annahme hat, dass der Tatbestand der …«
»Ich möchte sofort meinen Anwalt sprechen«, erklärte Leach kühl.
»Ich werde Ihr Ersuchen schriftlich festhalten.« Barton versuchte, Haltung zu wahren. »Und wer ist Ihr Anwalt?«
»Spencer Craig«, erwiderte Leach. Barton notierte den Namen auf einem Notizblock. »Ich werde fordern, dass er offiziell Beschwerde gegen Sie und drei Angehörige Ihrer Belegschaft einreicht.«
»Wollen Sie mir drohen, Leach?«
»Nein, Sir. Ich will nur sicherstellen, dass meine formelle Beschwerde in meine Akte kommt.«
Barton konnte seine Wut nicht länger verbergen. Er nickte kurz und bedeutete den Beamten, ihm den Gefangenen sofort aus den Augen zu schaffen.
Danny hätte Nick die guten Nachrichten am liebsten sofort übermittelt, aber er wusste, dass Nick erst nach Mitternacht aus Schottland zurückkehren würde.
Alex Redmayne hatte ihm geschrieben, dass sein Berufungsverfahren für den 18. Juni angesetzt worden war – in nur drei Wochen. Mr. Redmayne wollte auch wissen, ob Danny an der Anhörung teilzunehmen wünschte, denn er erinnerte sich, dass er in der Verhandlung keine Aussage gemacht hatte. Danny hatte postwendend geantwortet, dass er unbedingt dabei sein wollte.
Danny hatte auch an Beth geschrieben. Sie sollte die Erste sein, die erfuhr, dass Mortimer ein volles Geständnis abgelegt hatte und Big Al jedes einzelne Wort auf Dannys Kassettenrekorder festgehalten hatte. Die Aufnahme war jetzt sicher in seiner Matratze versteckt; er würde sie Mr. Redmayne bei dessen nächstem Besuch überreichen. Danny hätte das Beth gern geschrieben, aber er konnte es nicht riskieren, irgendetwas schriftlich festzuhalten.
Big Al versuchte, nicht allzu deutlich zu zeigen, wie stolz er auf sich war. Er bot sich sogar als Zeuge an. Es hatte den Anschein, als sollte Nick recht behalten. Danny würde noch vor ihm auf freien Fuß kommen.