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Zum ersten Mal seit Monaten sah sich Danny in einem Ganzkörperspiegel. Seine Reaktion überraschte ihn selbst. Nicks Einfluss musste doch weiter reichen, als ihm klargewesen war, denn plötzlich fiel ihm unangenehm auf, dass Jeans und ein West-Ham-T-Shirt womöglich nicht die angemessene Kleidung für ein Erscheinen vor Gericht darstellten. Er bedauerte bereits, dass er Nicks Angebot ausgeschlagen hatte. Da die Disparität ihrer Kleidergrößen vernachlässigbar war (Begriffe, die Danny nicht länger nachschlagen musste), hatte Nick ihm einen Anzug in gedeckter Farbe sowie Hemd und Krawatte leihen wollen, die für die Schwere des Anlasses (Nicks Worte) passender gewesen wären.
Danny setzte sich auf seinen Platz auf der Anklagebank und wartete darauf, dass die drei Richter erschienen. Er war um sieben Uhr morgens in Belmarsh abgeholt worden, in einem großen, weißen Gefängnisbus, zusammen mit zwölf anderen Gefangenen, die an diesem Morgen alle einen Termin vor dem Berufungsgericht hatten. Wie viele von ihnen würden am Abend zurückkehren?
Bei der Ankunft im Gericht wurde er in eine Zelle gesperrt, um dort zu warten. Dadurch hatte er Zeit zum Nachdenken. Nicht, dass er vor Gericht etwas hätte sagen dürfen; Mr. Redmayne war das Verfahren in allen Einzelheiten mit ihm durchgegangen und hatte ihm erklärt, dass es völlig anders ablaufen würde als damals bei der Hauptverhandlung.
Den drei Richtern waren die Beweise sowie das Protokoll der Verhandlung vorgelegt worden. Nun musste man sie davon überzeugen, dass es neue Beweise gab, die dem Richter und den Geschworenen nicht zur Verfügung gestanden hatten, als diese ihr Urteil fällten.
Nachdem Alex Redmayne die Kassette gehört hatte, war er zuversichtlich, in den Richtern genügend Zweifel säen zu können, obwohl er nicht allzu lange bei dem Punkt zu verweilen beabsichtigte, warum Toby Mortimer nicht als Zeuge vor Gericht erscheinen konnte.
Es dauerte geraume Zeit, bis Dannys Zellentür aufgeschlossen wurde und Alex eintrat. Bei ihrem letzten Gespräch hatte er darauf bestanden, dass Danny ihn mit Vornamen ansprach. Danny weigerte sich aber immer noch, weil es sich für ihn nicht korrekt anfühlte, trotz der Tatsache, dass ihn sein Anwalt immer auf Augenhöhe behandelt hatte. Alex ging alle neuen Beweise detailliert durch. Mortimer hatte sich umgebracht, aber sie besaßen ja die Kassette, die Alex als ihre ›Trumpfkarte‹ bezeichnete.
»Man sollte Klischees stets vermeiden, Mr. Redmayne«, sagte Danny grinsend.
Alex lächelte. »Noch ein weiteres Jahr, und Sie können sich selbst verteidigen.«
»Lassen Sie uns hoffen, dass das nicht nötig sein wird.«
Danny sah zur Empore. Beth und ihre Mutter saßen in der ersten Reihe. Außerdem drängten sich dort oben lauter Bürger aus Bow, die nicht daran zweifelten, dass er im Laufe des Tages auf freien Fuß kommen würde. Es tat ihm leid, dass Beths Vater nicht unter ihnen war.
Danny wusste jedoch nicht, wie viele Leute draußen auf der Straße skandierend vor dem Gerichtsgebäude standen und auf Spruchbändern seine Freilassung forderten. Er sah zu den Plätzen, die für die Presse reserviert waren. Dort saß ein junger Repräsentant der Bethnal and Bow Gazette mit aufgeschlagenem Notizblock und gespitztem Bleistift. Würde er eine saftige Schlagzeile für die morgige Ausgabe bekommen? Alex hatte Danny klarzumachen versucht, dass die Kassette allein vielleicht nicht ausreichen würde, aber sobald sie vor Gericht abgespielt würde, dürfte jede Zeitung des Landes den Inhalt veröffentlichen und danach …
Danny war nicht länger allein. Alex, Nick, Big Al und natürlich Beth waren die Generäle einer rasch anwachsenden Armee. Alex hatte zugegeben, dass er immer noch auf einen zweiten Zeugen hoffte, der Mortimers Aussage bestätigen würde. Wenn Toby Mortimer gestanden hatte, dann würden es vielleicht auch Gerald Payne oder Lawrence Davenport tun. Nachdem sie zwei Jahre mit ihrem Gewissen hatten leben müssen, wollten sie womöglich alles wieder ins Reine bringen.
»Warum sprechen Sie nicht mit Ihnen?«, hatte Danny gefragt. »Vielleicht hören sie auf Sie.«
Alex hatte ihm erklärt, warum das unmöglich war, und ihn darauf hingewiesen, dass ihm der Fall entzogen werden könnte, wenn er einen von ihnen auch nur zufällig bei einem gesellschaftlichen Anlass traf. Man konnte ihm dann sogar wegen unprofessionellen Verhaltens die Berufserlaubnis entziehen.
»Können Sie nicht jemanden an Ihrer Stelle zu ihnen schicken, um die Beweise zu bekommen, die wir brauchen? Wie es Big Al für mich getan hat?«
»Nein«, erklärte Alex nachdrücklich. »Wenn man ein solches Unterfangen auf mich zurückführt, dann müssen Sie sich einen neuen Prozessanwalt suchen und ich mir einen neuen Beruf.«
»Was ist mit dem Barkeeper?«, wollte Danny wissen.
Alex sagte ihm, dass sie Reg Taylor, den Barkeeper des Dunlop Arms, auf Vorstrafen hatten überprüfen lassen.
»Und?«
»Nichts«, sagte Alex. »Er wurde in den vergangenen fünf Jahren zweimal wegen Hehlerei verhaftet, aber die Polizei hatte nie genug Beweise für eine Verurteilung, darum wurde die Anklage beide Male fallengelassen.«
»Was ist mit Beth?«, fragte Danny. »Wird sie ein zweites Mal aussagen dürfen?«
»Nein«, erwiderte Alex. »Den Richtern liegt ihre schriftliche Aussage sowie das Protokoll der Verhandlung vor, und an Wiederholungen sind sie nicht interessiert.« Er wies Danny darauf hin, dass die Zusammenfassung des Richters bei der Verhandlung keine ausreichenden Hinweise auf Voreingenommenheit bot, mit denen sich eine Neuverhandlung begründen ließe. »Um die Wahrheit zu sagen, alles hängt jetzt von der Kassette ab.«
»Was ist mit Big Al?«
Alex räumte ein, dass er darüber nachgedacht hatte, Albert Crann als Zeugen vorzuladen, dann aber zu dem Schluss gekommen war, dass es mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen würde.
»Aber er ist ein loyaler Freund«, erklärte Danny.
»Mit einem Vorstrafenregister.«
Schlag zehn Uhr marschierten die drei Richter in den Saal. Die Gerichtsangestellten erhoben sich, verneigten sich vor den Richtern und warteten, bis diese ihre Plätze eingenommen hatten. Für Danny schienen die zwei Männer und die Frau, die über den Rest seines Lebens entscheiden würden, irgendwie schattenhaft. Auf den Köpfen trugen sie kleine Perücken und ihre Alltagskleidung war unter knöchellangen, schwarzen Talaren versteckt.
Alex Redmayne legte eine Akte auf das schmale Pult vor sich. Er hatte Danny erklärt, dass er allein vor die Richter treten würde, da der Staatsanwalt bei Berufungen nicht zugegen war. Danny hatte nicht das Gefühl, Mr. Arnold Pearson zu vermissen.
Sobald sich die Richter gesetzt hatten, forderte Richter Browne Alex auf, mit seinem Plädoyer zu beginnen.
Alex erinnerte das Gericht an die Hintergründe des Falls und versuchte erneut, Zweifel in den Richtern zu säen, aber nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, machte er keinen großen Eindruck auf sie. Mehr als einmal unterbrach ihn Richter Browne sogar, um sich zu erkundigen, ob es in diesem Fall keine neuen Beweise gebe, da er und seine beiden Kollegen das Protokoll der Verhandlung gründlich studiert hätten, wie er betonte.
Nach einer Stunde gab Alex schließlich klein bei. »Seien Sie versichert, Euer Lordschaft, dass ich Ihnen tatsächlich bedeutende, neue Beweise vorlegen möchte.«
»Seien Sie versichert, Mr. Redmayne, dass wir uns schon darauf freuen«, erwiderte Richter Browne.
Alex wappnete sich und schlug eine neue Seite auf. »Meine Lordschaften, ich bin im Besitz einer Kassette, die ich Ihnen zur Berücksichtigung vorlegen möchte. Es handelt sich um ein Gespräch mit Toby Mortimer, einem der Musketiere, der in der fraglichen Nacht im Dunlop Arms zugegen war, jedoch aufgrund einer Unpässlichkeit bei der Verhandlung nicht aussagen konnte.«
Danny hielt den Atem an, als Alex die Kassette zur Hand nahm und sie in den Kassettenrekorder auf dem Tisch vor ihm einlegte. Er wollte sie gerade abspielen, als sich Richter Browne vorbeugte: »Einen Augenblick bitte, Mr. Redmayne.«
Danny spürte, wie ein Schauder über seinen Körper lief, als die drei Richter sich flüsternd besprachen. Es dauerte eine Weile, bevor Richter Browne eine Frage stellte, auf die er zweifellos schon die Antwort wusste, dachte Alex.
»Wird Mr. Mortimer hier als Zeuge aussagen?«, wollte er wissen.
»Nein, Euer Lordschaft, aber die Kassette wird zeigen …«
»Warum wird er nicht aussagen, Mr. Redmayne? Ist er immer noch unpässlich?«
»Leider ist er zwischenzeitlich verstorben, Mr. Redmayne.«
»Darf ich fragen, wie die Todesursache lautete?«
Alex fluchte. Ihm war klar, dass Richter Browne sehr wohl wusste, warum Mortimer nicht vor Gericht erscheinen konnte, jedoch dafür sorgen wollte, dass jede Einzelheit ins Protokoll kam. »Er hat Selbstmord begangen, Euer Lordschaft. Mittels einer Überdosis Heroin.«
»War er als Heroinsüchtiger bekannt?«, fuhr Richter Browne gnadenlos fort.
»Ja, Euer Lordschaft, aber glücklicherweise wurde diese Aufnahme in einer Phase der Drogenfreiheit aufgenommen.«
»Zweifellos wird ein Arzt uns das bestätigen?«
»Leider nicht, Euer Lordschaft.«
»Darf ich daraus schließen, dass während der Aufnahme kein Arzt zugegen war?«
»Ja, Euer Lordschaft.«
»Ich verstehe. Und wo wurde die Aufnahme gemacht?«
»Im Belmarsh Gefängnis, Euer Lordschaft.«
»Waren Sie bei der Aufnahme zugegen?«
»Nein, Euer Lordschaft.«
»War ein Gefängnisbeamter zugegen, der die Umstände bezeugen kann, unter denen diese Aufnahme entstand?«
»Nein, Euer Lordschaft.«
»Dann würde ich zu gern erfahren, Mr. Redmayne, wer genau bei dieser Gelegenheit anwesend war.«
»Ein Mr. Albert Crann.«
»Wenn er weder Arzt noch Gefängniswärter ist, welche Position hat er dann inne?«
»Er ist Gefängnisinsasse.«
»Tatsächlich? Ich muss Sie fragen, Mr. Redmayne, ob Sie irgendeinen Beweis vorlegen können, dass diese Aufnahme entstand, ohne dass Mr. Mortimer dazu gezwungen oder genötigt wurde?«
Alex zögerte. »Nein, Euer Lordschaft, aber ich bin zuversichtlich, dass Sie über den Zustand von Mr. Mortimer selbst ein Urteil fällen können, sobald Sie sich die Kassette angehört haben.«
»Wie können wir sicher sein, dass Mr. Crann ihm kein Messer an die Kehle gesetzt hat? Möglicherweise reichte schon die Anwesenheit von Mr. Crann aus, um Mr. Mortimer in Angst und Schrecken zu versetzen.«
»Wie ich bereits sagte, Euer Lordschaft, werden Sie sich darüber eine Meinung bilden können, sobald Sie die Aufnahme gehört haben.«
»Ich muss mich erst mit meinen Kollegen beraten, Mr. Redmayne.«
Erneut flüsterten die drei Richter miteinander.
Nach wenigen Augenblicken wandte Richter Browne seine Aufmerksamkeit wieder dem Verteidiger zu. »Mr. Redmayne, wir sind einhellig der Meinung, dass wir Ihnen nicht erlauben können, diese Aufnahme abzuspielen, da sie ganz offensichtlich nicht zulässig ist.«
»Aber Euer Lordschaft, ich möchte Sie auf einen Beschluss der Europäischen Gemeinschaft hinweisen, gemäß dem …«
»Beschlüsse der Europäischen Gemeinschaft sind in meinem Gericht …« – rasch korrigierte er sich – »in diesem Land nicht bindend. Ich möchte Sie warnen: Wenn der Inhalt dieser Kassette jemals öffentlich werden sollte, sehe ich mich gezwungen, diesen Umstand der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis zu bringen.«
Der einzige Journalist auf der Pressebank legte seinen Bleistift aus der Hand. Einen Moment lang hatte er geglaubt, über eine Sensation berichten zu können, da Mr. Redmayne ihm zweifelsohne die Kassette nach der Anhörung aushändigen würde, damit er selbst entscheiden konnte, ob seine Leser daran interessiert wären, auch wenn es die Richter nicht waren. Aber das war nunmehr unmöglich. Wenn die Zeitung nach dieser Anordnung des Richters auch nur ein Wort von der Aufnahme veröffentlichte, würde das eine Missachtung des Gerichts darstellen – und davor schreckten selbst die unverwüstlichsten Chefredakteure zurück.
Alex sortierte einige Papiere, aber er wusste, dass er nicht weiter in Richter Browne dringen durfte.
»Fahren Sie mit Ihrem Plädoyer fort, Mr. Redmayne«, schlug der Richter hilfreich vor. Verbissen machte Alex mit den wenigen neuen Beweisen weiter, die ihm zur Verfügung standen, aber er hatte nichts mehr in der Hand, was Richter Browne auch nur dazu brachte, eine Augenbraue zu heben. Als sich Alex schließlich auf seinen Platz setzte, fluchte er verhalten. Er hätte die Aufnahme am Tag vor der Berufung der Presse zuspielen sollen, dann hätte der Richter gar keine andere Wahl gehabt, als die Aussage von Mortimer als neuen Beweis zuzulassen.
Alex hatte erwartet, dass Richter Browne die Meinung seines Vaters teilen würde, sobald er und seine Kollegen dem Band gelauscht hätten, und dann wäre die Aufnahme als Teil des Protokolls öffentlich geworden und die Zeitungen hätten am folgenden Morgen jedes einzelne Wort abdrucken dürfen. Aber Richter Browne hatte sich als zu gerissen erwiesen und Alex nicht erlaubt, die Kassette abzuspielen.
Sein Vater hatte ihn darauf hingewiesen, dass der Richter keine andere Wahl haben würde, als sich das ganze Band anzuhören, sobald er auch nur eine Silbe davon gehört hätte. Aber nun hatten sie keinen einzigen Satz gehört, nicht einmal eine Silbe.
Die drei Richter zogen sich um 12 Uhr 37 zur Beratung zurück, und nach kurzer Zeit kehrten sie mit einem einstimmigen Urteil in den Gerichtssaal zurück. Alex senkte den Kopf, als Richter Browne verkündete: »Berufung abgelehnt.«
Alex sah zu Danny, der soeben dazu verdammt worden war, zwanzig Jahre seines Lebens für ein Verbrechen abzusitzen, das er – da war sich Alex sicher – nicht begangen hatte.