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Die erste Verhandlungswoche war vorüber und die vier wichtigsten Protagonisten verlebten das Wochenende auf höchst unterschiedliche Weise.
Alex Redmayne fuhr nach Somerset, um ein paar Tage mit seinen Eltern in Bath zu verbringen. Sein Vater fragte ihn nach der Verhandlung, noch bevor er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, während seine Mutter mehr daran interessiert schien, alles über seine neueste Freundin herauszufinden.
»Es besteht Hoffnung«, antwortete er beiden Elternteilen auf ihre Fragen.
Als Alex am Sonntagnachmittag zurück nach London fuhr, hatte er die Fragen geprobt, die er Beth Wilson am folgenden Tag stellen wollte. Sein Vater hatte die Rolle des Richters übernommen. Keine schwere Aufgabe für den alten Mann. Schließlich war das genau der Job, dem er unter der Woche nachging. Am Montag würden sie beide wieder in Old Bailey in Erscheinung treten, wenn auch in unterschiedlichen Verhandlungssälen.
»Sackville hat mir erzählt, dass du dich ganz gut schlägst«, berichtete sein Vater. »Er hat allerdings das Gefühl, du würdest unnötige Risiken eingehen.«
»Möglicherweise kann ich nur so herausfinden, ob Cartwright unschuldig ist.«
»Das ist nicht deine Aufgabe«, erwiderte sein Vater. »Das müssen die Geschworenen entscheiden.«
»Jetzt klingst du genau wie Richter Sackville«, lachte Alex.
»Deine Aufgabe besteht darin, mit der bestmöglichen Verteidigung für deinen Mandanten aufzuwarten«, fuhr sein Vater fort und ignorierte seinen Einwurf. »Ob er schuldig ist oder nicht.«
Offenbar hatte sein Vater vergessen, dass er Alex diesen Ratschlag bereits erteilt hatte, als der sieben Jahre alt war, und seither hatte er ihn unzählige Male wiederholt. Als Alex sich zum Studium in Oxford einschrieb, war er auf das Jura-Studium bestens vorbereitet.
»Was glaubst du, wie Beth Wilson als Zeugin abschneiden wird?«, fragte sein Vater.
»Ein distinguierter Kollege hat mir einst gesagt«, Alex zupfte sich gewichtig am Revers seines Jacketts, »dass man erst dann weiß, wie sich ein Zeuge verhalten wird, wenn er in den Zeugenstand tritt.«
Die Mutter von Alex musste laut auflachen. »Touché«, sagte sie, räumte das Geschirr ab und verschwand in der Küche.
»Unterschätze Pearson nicht«, riet sein Vater und ignorierte den Kommentar seiner Frau. »Er läuft zur Hochform auf, wenn er einen Zeugen der Verteidigung ins Kreuzverhör nimmt.«
»Ist es überhaupt möglich, Staatsanwalt Arnold Pearson zu unterschätzen?«, fragte Alex.
»O ja, mir ist das zweimal zu meinen Ungunsten passiert.«
»Dann wurden zwei unschuldige Männer für Verbrechen verurteilt, die sie nicht begangen haben?«, wollte Alex wissen.
»Sicher nicht«, erwiderte sein Vater. »Beide waren schuldig, aber ich hätte sie dennoch freikriegen sollen. Vergiss eines nicht – wenn Pearson in deiner Verteidigung eine Schwachstelle entdeckt, dann wird er so lange darauf herumreiten, bis er sicher sein kann, dass sich die Geschworenen genau daran erinnern.«
»Darf ich den ehrenwerten Richter unterbrechen, um mich zu erkundigen, wie es Susan geht?«, fragte seine Mutter und goss Alex Kaffee ein.
»Susan?« Mit einem Ruck kehrte Alex in die reale Welt zurück.
»Die bezaubernde junge Frau, die du vor ein paar Monaten mit zu uns gebracht hast.«
»Susan Rennick? Keine Ahnung. Ich fürchte, wir haben uns aus den Augen verloren. Ich glaube, das Anwaltsleben lässt sich nicht mit einem Privatleben vereinbaren. Der Himmel allein weiß, wie ihr beide je zueinander gefunden habt.«
»Deine Mutter hat mich während des Carbarshi-Prozesses jeden Abend gefüttert. Wenn ich sie nicht geheiratet hätte, wäre ich elend verhungert.«
»So einfach war das?« Alex grinste seine Mutter an.
»Ganz so einfach war es dann auch wieder nicht«, erwiderte sie. »Schließlich dauerte dieser Prozess über zwei Jahre – und er hat verloren.«
»Habe ich nicht.« Sein Vater legte den Arm um seine Mutter. »Aber sei gewarnt, mein Junge: Pearson ist nicht verheiratet, darum wird er das Wochenende damit zubringen, sich teuflische Fragen für Beth Wilson auszudenken.«
Eine Kaution war abgelehnt worden.
Danny hatte die letzten sechs Monate im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh im Südosten Londons zugebracht. Er lag 24 Stunden am Tag in einer zwei mal drei Meter großen Zelle. Das Mobiliar bestand aus einem Bett, einem Resopal-Tisch, einem Plastikstuhl sowie einem kleinen Waschbecken und einer Kloschüssel aus Stahl. Ein winziges, vergittertes Fenster hoch über seinem Kopf ermöglichte den einzigen Ausblick auf die Außenwelt. Jeden Nachmittag durfte er seine Zelle 45 Minuten lang verlassen, dann joggte er durch einen Innenhof – ein betonierter Platz umgeben von einer fünf Meter hohen Mauer, die mit Stacheldraht versehen war.
»Ich bin unschuldig«, wiederholte er, wann immer man ihn fragte, worauf das Gefängnispersonal zu antworten pflegte: »Das sagen sie alle.«
Als Danny an diesem Morgen im Innenhof joggte, versuchte er, nicht daran zu denken, wie die erste Verhandlungswoche gelaufen war, aber das erwies sich als sinnlos. Obwohl er jeden einzelnen Geschworenen aufmerksam gemustert hatte, war ihm völlig schleierhaft, was diese Menschen dachten. Womöglich war das keine gute erste Woche gewesen, aber wenigstens würde Beth jetzt ihre Version der Geschichte erzählen können. Würden die Geschworenen ihr glauben? Oder glaubten sie Spencer Craig? Dannys Vater wurde nicht müde, ihn daran zu erinnern, dass das britische Rechtssystem das beste der Welt war – man landete nicht unschuldig im Gefängnis. Wenn das stimmte, würde er in einer Woche wieder frei sein. Danny versuchte, nicht an die Alternative zu denken.
Staatsanwalt Arnold Pearson hatte sein Wochenende ebenfalls auf dem Land verlebt, in seinem Cottage in den Cotswolds mit dem dazugehörigen eineinhalb Hektar großen Garten – sein ganzer Stolz und seine große Freude. Nachdem er sich um die Rosen gekümmert hatte, versuchte er, einen Roman zu lesen, der sehr gut besprochen worden war, den er aber wieder zur Seite legte, um einen Spaziergang zu machen. Während er durch das Dorf schlenderte, versuchte er, sich aus dem Sinn zu schlagen, was in London geschehen war, obwohl er in Wirklichkeit an nichts anderes denken konnte.
Er fand, dass der Prozessauftakt gut gelaufen war, trotz der Tatsache, dass Redmayne sich als weitaus zäherer Gegner als erwartet erwiesen hatte. Einige vertraute Formulierungen, offensichtlich vererbte Eigenarten und die seltene Gabe des richtigen Timings erinnerten ihn an Redmaynes Vater, der in Arnolds Augen der beste Anwalt war, gegen den er jemals hatte antreten müssen.
Doch Gott sei Dank war der Junge noch grün hinter den Ohren. Er hätte aus der Frage des zeitlichen Ablaufs sehr viel mehr herausholen müssen, als Craig im Zeugenstand war. Arnold hätte die Pflastersteine zwischen dem Dunlop Arms und der Haustür von Craig gezählt, mit einer Stoppuhr als Begleiterin. Dann wäre er zu sich nach Hause gegangen, hätte sich ausgezogen, geduscht und frische Kleidung angezogen und dafür ebenfalls die Zeit genommen. Arnold vermutete, dass alles zusammengenommen weniger als zwanzig Minuten dauerte – ganz sicher weniger als dreißig.
Nachdem er im Dorfladen Lebensmittel und die Tageszeitung gekauft hatte, machte er sich auf den Rückweg. Er blieb einen Moment an der Dorfwiese stehen und lächelte, als er sich an die 57 Punkte erinnerte, die er vor zwanzig Jahren gegen Brocklehurst erzielt hatte – oder war es schon dreißig Jahre her? Alles was er an England liebte, fand er in diesem Dorf verkörpert. Er sah auf seine Uhr und akzeptierte seufzend, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen und sich auf den nächsten Tag vorzubereiten.
Nach dem Tee begab er sich in sein Büro, setzte sich an seinen Schreibtisch und ging die Fragen durch, die er für Beth Wilson vorbereitet hatte. Er genoss den Vorteil, dass zunächst Redmayne sie befragen würde, bevor er selbst seine erste Frage stellte. Wie eine Katze würde er sprungbereit und stumm an seinem Ende der Anwaltsbank sitzen und geduldig darauf warten, dass sie irgendeinen winzigen Fehler machte. Die Schuldigen machten immer Fehler.
Arnold lächelte, als er seine Aufmerksamkeit der Bethnal Green and Bow Gazette zuwandte. Er war sicher, dass Redmayne nicht auf jenen Artikel gestoßen war, der es vor ungefähr 15 Jahren auf das Titelblatt geschafft hatte. Arnold Pearson mochte nicht die Eleganz und den Stil von Richter Redmayne besitzen, aber das machte er durch viele Stunden geduldiger Recherche wett, wodurch er bereits zwei weitere Beweisstücke entdeckt hatte, die die Geschworenen zweifellos von Cartwrights Schuld überzeugen würden. Pearson wollte sich beide für den Angeklagten aufsparen. Er freute sich schon drauf, ihn im Laufe der Woche ins Kreuzverhör nehmen zu können.
Zu der Stunde, an der Alex sich mit seinen Eltern am Mittagstisch in Bath kabbelte, Danny über den Innenhof von Belmarsh joggte und Arnold Pearson den Dorfladen aufsuchte, hatte Beth Wilson einen Termin bei ihrem Hausarzt.
»Nur eine Routineuntersuchung«, versicherte ihr der Arzt lächelnd. Aber aus seinem Lächeln wurde ein Stirnrunzeln. »Hatten Sie viel Stress, seit ich Sie das letzte Mal gesehen habe?«, fragte er.
Beth wollte ihm nicht aufbürden, wie sie die letzte Woche verbracht hatte. Es half auch nicht, dass ihr Vater weiterhin von Dannys Schuld überzeugt war und man Dannys Namen in ihrem Elternhaus nicht mehr erwähnen durfte, obwohl ihre Mutter Beths Version der Ereignisse von Anfang an Glauben geschenkt hatte. Würden sich die Geschworenen auf die Seite ihrer Mutter oder ihres Vaters schlagen?
In den letzten sechs Monaten war Beth jeden Sonntagnachmittag zu Danny nach Belmarsh gefahren, aber nicht an diesem Sonntag. Mr. Redmayne hatte ihr gesagt, dass sie erst nach dem Ende des Prozesses wieder Kontakt zu Danny aufnehmen durfte. Es gab jedoch so viel, was sie ihn fragen wollte, so viel, was sie ihm sagen musste.
Das Baby sollte in sechs Wochen auf die Welt kommen, da würde er schon lange wieder auf freiem Fuß sein. Seine furchtbaren Qualen wären dann endlich vorbei. Sobald die Geschworenen zu ihrem Urteil gekommen waren, würde bestimmt auch ihr Vater akzeptieren, dass Danny unschuldig war.
Am Montagmorgen fuhr Mr. Wilson seine Tochter zu Old Bailey und setzte sie vor dem Haupteingang des Gerichtsgebäudes ab. Er äußerte nur drei Worte, als sie ausstieg: »Sag die Wahrheit.«