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Heute, liebe Leute, sollt ihr lernen, wie man sich durch die Stadt bewegt. Ihr kommt aus den Weiten der Wüste, aus den Tiefen des Urwaldes, ihr müsst nun lernen, wie man sich durch den Großstadtdschungel schlägt. Die Macheten könnt ihr zu Hause lassen, Lianen werdet ihr vergeblich suchen, und auf Kamele, lieber Murad, werdet ihr auch verzichten müssen. Kamele gibt es im Zoo, den Zoo erreicht man mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und wie man die benutzt, egal ob auf dem Weg zum Tiergarten, zum Golfplatz oder zum Leichenschauhaus, das sollt ihr heute lernen.
Peer Learning, von Gleichaltrigen lernen, das ist im Haus jetzt plötzlich der letzte Schrei. Anderswo ist die Sache längst ein alter Hut, hier schickt man uns damit zum ersten Mal stolz auf den Laufsteg. Die »Alten« sollen den »Neuen« im Haus unter die Arme greifen, sollen die Grünschnäbel unter ihre Fittiche nehmen und ihnen beim Flüggewerden behilflich sein. Zwar bin ich selber noch nicht lange im Haus, doch wer, frage ich, ist dazu besser geeignet als ich? Murad und Oma sind die zwei jungfräulichen Seelen, noch gänzlich unbefleckt vom Schmutz der Großstadt, Nicoleta und ich wurden ausgewählt, um den beiden beim Akt der Entjungferung beizustehen, und so machen wir uns eines schönen Nachmittags auf den Weg, um Babylon, der großen Hure, oder zumindest Baby, ihrer kleinen Wiener Schwester, auf den Leib zu rücken.
Das, liebe Kinder, ist eine Bahn, die auf der Straße fährt, erkläre ich, als sich das lang gestreckte rote Gefährt in die Station schiebt. Habt ihr eure Monatskarten mit, frage ich, und alle nicken brav. Es ist übrigens ganz normal, wenn man angestarrt oder beschimpft wird, erkläre ich, nachdem wir Platz genommen haben, das gehört einfach dazu, vor allem dann, wenn man wie Oma oder ich kein Bleichgesicht ist. Aber die Menschen hier können ja gar nichts dafür, sie sind einfach noch nicht an die schönen dunklen Gesichter gewöhnt. Das Umvolkungsprogramm läuft zwar schon, und nachdem die weiße Rasse ohnehin im Aussterben begriffen ist, wird sich das Problem bald von selbst gelöst haben, aber bis dahin müsst ihr noch ein wenig Geduld haben. Wir sterben nicht aus, fühlt Murad sich bemüßigt zu widersprechen, was ich jedoch geflissentlich ignoriere.
Als wir aussteigen, werden wir von zwei Polizisten in Empfang genommen, sie verlangen unsere Ausweise und untersuchen mich anschließend bis auf die Unterwäsche nach Drogen. Das ist völlig normal, beruhige ich Oma und Murad, während die beiden Beamten in alle Körperöffnungen kriechen. Auf Wiedersehen, meine Herren, verabschiede ich mich schließlich höflich, und vielen Dank für die Aufmerksamkeit! Wir überqueren die Straße. Auch das ist übrigens ganz normal, erkläre ich, als ich auf dem Zebrastreifen von zwei weißen Jugendlichen auf Englisch nach Drogen gefragt werde. Ihr habt wirklich unglaubliches Pech, antworte ich ihnen auf Deutsch, ihr habt nämlich den einzigen Schwarzen in dieser Stadt getroffen, der kein Drogenhändler ist!
Wir treten in die U-Bahn-Station und bleiben am oberen Ende der Rolltreppe stehen. Das, liebe Kinder, ist eine rollende Treppe. Ängstlich starren die beiden Stadtneulinge in die Tiefe. So etwas seht ihr wahrscheinlich zum ersten Mal, nicht wahr? Kommt, fordere ich sie auf, setze leichtfüßig den rechten Fuß auf die Rolltreppe, bringe den linken mit elegantem Schwung hinterher. Ist ganz einfach, sagt Nicoleta und folgt mir. Oma zögert kurz, sie blickt sich nach Murad um, dann fasst sie sich ein Herz und eine Seele gleich dazu, sie macht einen großen Schritt, vielleicht ein wenig zu groß, sie gerät ins Straucheln, jetzt fällt sie, nein, sie findet das Gleichgewicht wieder, indem sie sich an den Handlauf klammert wie ein Nichtschwimmer an den Rettungsring. Doch mit einem Mal erhellt sich ihr Antlitz, ein breites Grinsen wird sichtbar, und es ist das erste Mal, seit Oma bei uns ist, dass ihr Ausdruck nicht Angst, nicht Trauer, nicht Verlorenheit, sondern Freude verrät. Aber Murad, mit Murad hat man schon wieder nichts als Probleme: Der angeblich Erwünschte steht noch immer wie angewurzelt am oberen Treppenabsatz, während wir schon auf halbem Weg zum Erdmittelpunkt sind. Komm schon, ruft Nicoleta ihm zu, ist ganz einfach! Andere U-Bahn-Benutzer drängen sich an ihm vorbei, manche belustigt, manche verärgert, wie ein Klotz steht Murad da, und selbst aus der Entfernung kann man die Angst an seiner Haltung ablesen. Wir müssen ihn helfen, sagt Nicoleta. Du hast recht, gebe ich zurück. Rettet dem Murad, lautet die Devise, und dem Dativ gleich dazu! Ich überlege kurz, ob wir auf der zu Tal fahrenden Treppe hinauflaufen sollen, doch wir haben schon fast das Ende erreicht. Unten angekommen, fahren wir also gleich wieder hinauf. Warte unten, wir kommen gleich wieder, rufe ich Oma zu, doch sie hört nicht auf mich. Ein wenig sicherer schon als zuvor und noch immer glücklich lächelnd hüpft sie auf die himmelwärts fahrende Rolltreppe. Wir helfen dich, sagt Nicoleta zu Murad, allein, weder Dativ oder Akkusativ noch Murad möchten sich solcherart zu einer Rettung überreden lassen. Schließlich und endlich gelingt es uns aber doch, Herrn Magomazov auf die Rolltreppe zu manövrieren, Nicoleta rechts, ich links, Oma, noch immer selig lächelnd, hinter uns. Murad hält die Augen geschlossen, erst nach einer Weile wagt er sie zu öffnen. Noch, ruft Oma, als wir unten angelangt sind, und wir erfüllen ihr den Wunsch.
In der U-Bahn gibt es keine besonderen Vorkommnisse, ein Mann setzt sich weg, als ich mich neben ihn platziere, ein anderer sagt: Es stinkt, das Übliche eben. Die Vorstadtmadonna mit Kind, neben der sich Oma niederlässt, sucht sich zwar keinen anderen Sitzplatz, doch als das Kleinkind mit neugierigen Fingern Omas dunkle Hände berührt und dadurch ein Lächeln auf deren Gesicht zaubert, wischt die Mutter ihm, wenn auch ein wenig verschämt, die Hand mit dem Taschentuch ab. Omas Lächeln erstirbt. Gnädigste, kläre ich die junge Mutter auf, das wird nix nützen, da müssen Sie schon was Stärkeres zum Desinfizieren verwenden. Sie wirft mir einen angsterfüllten Blick zu und holt ein weiteres Taschentuch hervor.
Das, liebe Kinder, ist eine Ampel, erkläre ich, als wir wieder ans Tageslicht zurückkehren und an einer Kreuzung stehen bleiben. Bei Rot ist Halt, grün ist gut, sagt Nicoleta, mit Grün darfst du gehen. Merkt euch, präzisiere ich, zuerst auf Ijaw, dann auf Tschetschenisch: Sei schnell bei Grün, bleib stehen bei Rot, denk immer dran, sonst bist du tot. Das ist jetzt übrigens nicht politisch zu verstehen, meine Lieben, auch wenn sich die Schwarzen gerne über die vielen roten Ampeln beschweren, wichtig ist jedenfalls, dass ihr NIE BEI ROT über die Straße geht, hört ihr, auch dann nicht, wenn drei Tage lang kein Auto vorbeikommt. Die Menschen hier lassen sich lieber bei Grün von einem Auto überfahren, als bei Rot die Straße zu überqueren; lieber tot als rot, könnte man sagen, aber da wären wir schon wieder bei der Politik gelandet. So, und weil ihr so brav wart, meine Lieben, gehen wir jetzt noch zur Belohnung mit euch einkaufen.
Musik empfängt uns im Einkaufszentrum, eine Band spielt zu unserer Begrüßung und begleitet uns auf unserem Weg durch das Gebäude. Auf unserer ausgedehnten Wanderung zeige ich Murad und Oma, wo sie Abendkleider, Plasmafernseher, Snowboards, Lackschuhe, Gartenmöbel, Kaffeemaschinen und andere Artikel für den täglichen Bedarf kaufen können. Omas Augen werden größer und größer, das Lächeln ist verschwunden, Murads Blick wird grimmiger und grimmiger, und als wir schließlich an einem Dessous-Geschäft vorbeikommen, die Band spielt gerade Diamonds Are a Girl’s Best Friends, spuckt er angewidert auf das Schaufenster. Das ist widerlich, schimpft er auf Tschetschenisch, während ich ihn rasch davonziehe. Das, lieber Freund, wird hier nicht so gerne gesehen.
Oma braucht Kleidung, konstatierte Mira, bevor wir zu unserer Expedition aufbrachen, vor allem Unterwäsche, lautete der an Nicoleta gerichtete Zusatz, worauf sich Murads Gesichtsfarbe dem Rot von Omas T-Shirt näherte. Während die beiden Damen also mit dem von Mira ausgehändigten Geld in einem billigen Bekleidungsgeschäft verschwinden, setzen Murad und ich unseren Schaufensterbummel mit musikalischer Begleitung fort. Keine drei Stunden später, und die Damen sind fertig, und so steuern wir schließlich gemeinsam den Supermarkt an, der am Ende des weitläufigen Einkaufszentrums liegt. Wir nehmen einen Einkaufswagen, obwohl wir nichts kaufen wollen, doch ich möchte den beiden Neulingen zeigen, was wo zu finden ist. Wir spazieren unter den misstrauischen Blicken von Angestellten und Überwachungskameras durch die langen Reihen, Solche wie euch brauchen wir hier nicht, lassen sie uns wortlos wissen, Wir sehen alles, warnen sie. Doch mit Nicoleta ist kein Weiterkommen, sie bleibt alle paar Meter stehen und blickt mit unverhohlener Lust zu den himmelhoch getürmten Nahrungsmitteln auf. Meine Mutter müsste das sehen, die vielen Lebensmittel, murmelt sie mit verträumtem Gesichtsausdruck. Auch Oma scheint mit ihren Gedanken irgendwo im Delta des Niger, jedenfalls aber weit, weit weg zu sein, auch sie bleibt stehen, lässt den Blick über fünfzig Sorten Öl und ebenso viele Essigarten schweifen und beginnt plötzlich zu weinen. Was ist denn los, mein Kind, frage ich bestürzt. Was macht ihr da, will plötzlich eine Stimme hinter uns wissen. Ich drehe mich um, ein kleines, gelb bemänteltes Wesen männlichen, vielleicht aber auch sächlichen Geschlechts steht da und beäugt misstrauisch unsere Gruppe. Oma geht es nicht gut, antworte ich, sieht man das nicht? Welcher Oma, fragt es mit hoher Stimme und blickt ratlos von einem zum anderen. Was macht ihr da, fragt es noch einmal. Wir kaufen ein, guter Mann. Aber ihr habt nichts im Einkaufswagen. Aber natürlich, entgegne ich und nehme vor seinen Augen zwei Flaschen Olivenöl aus dem Regal und lege sie in den Wagen. Wieder ein ratloser Blick, ein Blick, der sich am Kopf zu kratzen scheint. Und was habt ihr da drin, fragt es dann und deutet auf Omas in plastische Säcke verpackte textilische Neuerwerbungen. Gestohlene Ware, antworte ich verschwörerisch leise, aber bitte nicht weitersagen! Na, das hab’ ich mir ja gleich gedacht! Security, ruft das gelbe Wesen plötzlich laut und beginnt mit seinen kurzen Armen zu fuchteln, Security! Dann läuft es Richtung Kasse davon.
Help, I need somebody, spielt unsere Band. Schnell, wir müssen weg, sagt Nicoleta mit angsterfülltem Blick. Oma hat zu weinen aufgehört, auch in ihrem Gesicht ist groß das Wort PANIK zu lesen, Murad sagt nichts. Aber nicht doch, entgegne ich Nicoleta, wir wollen doch noch ein bisschen Spaß haben! Im selben Augenblick kommt unser gelber Freund mit einem blau gekleideten Security-Menschen zurück. Steht Ihnen ausgezeichnet, die Uniform, begrüße ich den ein wenig schüchtern wirkenden jungen Mann. Er wird rot. Was ist da drin, will auch er wissen und deutet auf die inkriminierten Kleidungsstücke. Wir haben gekauft bei Schops, antwortet Nicoleta. Seine schlanken, gepflegten Hände gehen Oma an die soeben gekaufte Wäsche, wühlen durch Slips und Büstenhalter und T-Shirts, sein Gesicht wird noch röter, dann verlangt er nach der Rechnung. Nicoleta zeigt sie ihm. Und was ist mit den Jackentaschen, wendet er sich mit kaum wahrnehmbarem Akzent, den ich sogleich der dritten Generation ostanatolischer Einwanderer zuordne, an mich. Ich reiche ihm meine Jeansjacke. Meine Taschen sind auch deine Taschen, sage ich auf Türkisch. Du … du sprichst auch Türkisch? Er lässt meine Jacke sinken. Aber bitte, bitte, insistiere ich, ich habe nichts zu verbergen. Ja, hallo, schaltet sich der Gelbe entrüstet ein, wieso … wieso sprecht ihr denn jetzt Ausländisch? Das … das … das ist doch nur ein Ablenkungsmanöver! Gut erkannt, gebe ich zurück. Ich beginne mein Hemd aufzuknöpfen, ziehe es aus, schwinge es ein paar Mal über meinem Kopf und lasse es in seiner Richtung davonsegeln. Er weicht aus, als versuchte er einem tödlichen Geschoss zu entgehen, sein Gesicht wird knallrot, er fängt zu stammeln an, ich schnalle meinen Gürtel auf, bewege kreisend meine Hüften, unsere Begleitmusiker spielen Ravels Bolero. Aufhören, ruft er, aufhören! Ist schon gut, sagt mein neuer türkischer Freund und reicht mir meine Jacke, ist schon gut. Eine Frechheit ist das, schmeißen Sie diese Menschen hinaus, schnaubt der Gelbe wütend. Die Musik wird lauter und lauter. Ich beuge mich hinunter, um mein Hemd wieder aufzulesen. Beugen wir gemeinsam, mein Freund, ermuntere ich ihn, das Vorurteil, des Vorurteils, dem Vorurteil, das Vorurteil, beugen wir gemeinsam vor, plädiere ich, auf dass es nie wieder zu einer solchen Situation kommen möge. Frechheit, schnaubt Rumpelstilzchen, und die Band, sie spielt derweilen Granada.
Wie war euer Ausflug, will Zakia am nächsten Tag beim Mittagessen wissen. Stockend und nach Worten suchend berichten Oma und Murad von ihren Erlebnissen, ich lasse den beiden den Vortritt und mische mich nicht ein, damit niemand behaupten kann, ich drängte mich immer in den Vordergrund. Zakia legt Oma den Arm um die Schulter, als Murad ihren Tränenausbruch im Supermarkt erwähnt, Oma senkt beschämt den Kopf. Mir ist genauso gegangen beim ersten Einkauf in Österreich, tröstet Zakia, volle Regale, so viele Lebensmittel, das war ganz verrückt! Und Oma nickt. Too much, sagt sie leise, too much.
Vom Nachbartisch ist Afrims laute Stimme zu vernehmen, er ist gerade dabei, einer neugierigen Gefolgschaft alle Vorzüge seines neuen Mobiltelefons zu erklären. Yaya betritt den Raum, holt sich eine Portion Spaghetti bolognese und setzt sich neben Mira ans andere Ende unseres Tisches. Seit dem Vorfall mit Murad ist er noch schweigsamer und unzugänglicher als zuvor, er merkt, dass einige Mädchen Angst vor ihm bekommen haben und ihm aus dem Weg gehen. Man hat ihm irgendwelche starken Medikamente verpasst, die ihn beruhigen sollen, er kann sich jedenfalls auf nichts konzentrieren und schläft manchmal im Deutschkurs ein. Mira begrüßt ihn. Du sollst Dr. Davidovych anrufen, er muss den heutigen Termin verschieben. Yaya nickt und isst weiter, ohne aufzublicken. Davidovych ist einer der beiden Seelenklempner, zu deren Besuch mich Mira und der Onkel immer wieder zu überreden versuchen. Ich habe versucht, bei seiner ersten Sitzung mit Yaya zumindest mit einem Ohr dabei zu sein, doch vergebens – das Sitzungszimmer, hausintern die Gummizelle genannt, ist leider selbst für mich abhörsicher. Die Albträume, aus denen Yaya schreiend erwacht, haben durch die Medikamente und die psychologische Betreuung jedenfalls nicht aufgehört, ganz im Gegenteil, sie scheinen an Häufigkeit und Intensität zuzunehmen.
Hallo, Schatz, begrüßt Mira ihre Tochter. Alenka lässt mitten im Raum ihre Schultasche zu Boden fallen – sie ist natürlich genauso bunt wie ihre Kleidung – und geht schnurstracks zur Anrichte, auf der die beiden Töpfe mit Pasta und Ragù stehen. Chin hat gekocht, für mich ist also Ramadan. Na, bekomm’ ich heute keinen Kuss, fragt ihre Mutter, als sich Alenka zu Tisch setzt. Zuerst muss ich essen, antwortet das Töchterchen, ich sterbe vor Hunger! Sag so etwas nicht, rügt die Mutter. Wieso nicht, es stimmt doch. Weil … Mira bleibt die Begründung schuldig. Und wo bleibt mein Kuss, frage ich. Alenka wirft mir einen abschätzigen Blick zu. Eine Nuss kannst du haben, sagt sie. Jaja, seufze ich, ganz die Frau Mama …
Vom Nachbartisch hört man weiterhin Afrims Erklärungen, begleitet von verschiedenen Klingeltönen. Afrim, bitte, wendet Mira sich um, wir wissen schon alle, dass du ein neues, teures und ganz wunderbares Handy hast, aber wir müssen nicht unbedingt jeden Klingelton kennenlernen. Aber diese du musst hören, sagt Afrim begeistert und spielt einen besonders aufdringlichen Ton, super, oder? Danke, Afrim, sehr schön, aber jetzt genügt’s. Okay, okay, murmelt er und klippt sich das Telefon an den Gürtel, damit es, wenn schon nicht gehört, so doch wenigstens von allen gesehen werden kann.
Alenka steht auf, nimmt ihren Teller in die Hand und drückt ihrer Mutter im Vorbeigehen einen Bolognese-Kuss auf die Wange. Hier hast du deinen Kuss, sagt sie. Ach, du Ferkel, schimpft Mira zärtlich, du hättest dir vorher den Mund abwischen können! Erst jetzt fallen mir Alenkas Schuhe auf: Es sind die gleichen orange-grünen Plastikmonster mit Absätzen, die sich Mira erst kürzlich gekauft hat. Sind es die gleichen oder dieselben, frage ich mich, hat Mira ihrer Tochter neue Schuhe gekauft oder ihr die eigenen geschenkt oder geliehen? Ich verwende aus Umweltschutzgründen keine Servietten, gibt Alenka zurück, aber wozu hat man denn Mütter? Sie stakst auf verlängerten Beinen zum Geschirrspüler und stellt ihren Teller hinein, Mira wischt sich mit ihrer Serviette die Wange ab. Kurz darauf dreht sie sich genervt um und möchte losschimpfen, als erneut Afrims Telefon zu hören ist, doch diesmal hat er einen Anruf bekommen, kann also ausnahmsweise nichts dafür. Ja, gleich, sagt er nur und verlässt den Raum.
In der Tür begegnet ihm Nicoleta. Hallo, grüßt er, doch Nicoleta reagiert nicht. Sie lässt ein paar nervöse Blicke über die Tischrunde schweifen, dann wendet sie sich wieder ab und geht aus der Küche. Ihr Gesicht ist zwar nur einen Moment lang zu sehen, lange genug jedoch, um die verweinten Augen zu erkennen, und nicht nur ich habe sie gesehen, sondern auch Mira. Stirnrunzelnd steht sie auf, streicht im Vorbeigehen ihrer Tochter ein wenig zerstreut über den Kopf und folgt Nicoleta.
Haluk, der bisher am Nachbartisch saß, steht ebenfalls auf. Leute, gibt es irgendjemand, der Taschengeld haben möchte? Wenn nicht, dann gehört es nämlich mir! Immer das Gleiche, wie wär’s mit einem neuen Schmäh, frage ich, doch er ignoriert meinen Einwurf. Gesichter erhellen sich, Ich, Ich, Ich, rufen einige, andere strecken die Hände in die Höhe wie Vorzugsschüler. Kommt, meine Lieben, flötet Haluk der Halunke, und der Rattenfänger zieht nicht nur die übliche Wolke billigen Rasierwassers, sondern auch einen Schweif von Halbwüchsigen hinter sich her; der Haluk’sche Komet, er weist den Weg ins Büro, wo sich der allmonatliche Geldsegen zu ereignen pflegt. Zaster für den Rasta, Moneten für Analphabeten, Tausche Mäuse gegen Läuse, Mariä Empfängnis also. Bei den meisten werden die vierzig Euro für Telefon oder Zigaretten oder beides ausgegeben, bei anderen für Alkohol oder sonstige verbotene Früchte oder Früchtchen, nur wenige sparen, aber wozu denn auch?
Ich bleibe sitzen, auch Amal und Kamal sind dem Ruf des Rattenfängers nicht gefolgt, denn sie haben Küchendienst. Afrim macht so viel Dreck, beschwert sich Amal, während sie einen der beiden Tische säubert. Kamal nickt, doch es scheint ihn nicht weiter zu stören, denn Putzen ist seine heimliche Leidenschaft. Schließlich und endlich begebe auch ich mich ins Büro und hole die mir zustehende Kohle ab, wenn ich auch nicht allzu viel Verwendung dafür habe.
Auf dem Gang läuft mir Mira über den Weg. Was ist mit Nicoleta, frage ich. Sie mustert mich ein wenig irritiert und zögert kurz. Nichts, sagt sie dann, sie hat heute einfach einen schlechten Tag. Mira scheint auch einen schlechten Tag zu haben, diese Ringe unter den Augen, sie gefallen mir nicht, und blass sieht sie aus, aber ich habe ja ohnehin längst das Interesse an ihr verloren. Du bist eine schlechte Lügnerin, sage ich. Und du bist ein Frechdachs!
Sie geht Richtung Treppe davon, ich Richtung Zimmer. Eine innere Stimme bringt mich dazu, mich noch einmal umzudrehen und ihr nachzublicken, und in diesem Moment sehe ich etwas, das ich schon längst vermutet, befürchtet, vorausgeahnt habe: Lukas Neuner, soeben dem Aufzug entstiegen und Miras ansichtig geworden, zieht Letztere an sich und küsst sie sabbernd auf die Lippen. UND SIE LÄSST ES MIT SICH GESCHEHEN! SIE LÄCHELT SOGAR!! UND KÜSST IHN ZURÜCK!!! Dann trennen sich die beiden, Mira geht lächelnd und federnden Schrittes die Treppe hinunter, Lukas geht leider nicht zur Hölle, ich gehe auf mein Zimmer, und die Welt geht unter.
Nachts besitzt Mira dann doch tatsächlich die Frechheit, sich in meine Träume zu drängen, ganz so, als hätte sie mich nicht schmählich verraten und betrogen. O Ali, säuselt mir die falsche Schlange ins linke Ohr, besorg’s mir bitte mal so richtig, und weil ich ein weiches Herz habe, erfülle ich ihr den Wunsch gleich drei Mal. Und dann liegt plötzlich Nino auf der anderen Seite. O Ali, sagt sie und knabbert an meinem rechten Ohr, ich möchte deine heiße Schokolatte in mir spüren, und weil ich ein Gentleman bin, kann ich auch ihr diesen nur allzu verständlichen Wunsch nicht abschlagen. Nach dem dritten Durchgang kommt Alenka und setzt sich neben uns auf den Bettrand, sie hat noch immer ihre bunten Plastikschuhe an. Schau mal, Schatz, sagt Mira und deutet auf meine erschlaffte Männlichkeit, hat Ali nicht einen schönen Schwanz? Mir ist es furchtbar peinlich, Alenka ist ja noch ein Kind, doch sie zuckt nur mit den Schultern. Er wird ja sowieso abgeschnitten, sagt sie. Erst jetzt bemerke ich das blitzende Messer in ihrer Hand, ich werde totenbleich, mein bestes Stück schrumpft vor Schreck auf einen Bruchteil seiner Größe zusammen. Keine Angst, sagt Alenka, abgeschnitten wird erst nachher. Wonach, möchte ich fragen, bringe jedoch kein Wort heraus. Sie scheint mich trotzdem verstanden zu haben. Nachdem du alle Frauen im Haus geschwängert hast, natürlich. Sie deutet zur Tür, und da erkenne ich Zakia und Amal und Taisa und Djamila und Oma und dahinter noch andere Betreuerinnen und Flüchtlinginnen, sie warten freundlich lächelnd in Reih’ und Glied. Aber warum, möchte ich schreien, doch wieder dringt kein Laut aus meiner Kehle, und wieder hat Alenka mich verstanden. Wegen der niedrigen Geburtenrate, du Dummkopf, du weißt doch, wie dringend Österreich Kinder braucht! Okay, antworte ich stumm, mir meiner Pflicht gegenüber diesem Land bewusst werdend. Österreich braucht dich, Ali, wispert mir eine Stimme ins Ohr, Don’t ask what your country can do for you, gesellt sich eine zweite hinzu, ask what you can do for your country. Der Tag der Umvolkung naht, Völker, hört die Signale, auch meine Teleskopantenne empfängt selbige und wächst stolz ihrer Aufgabe entgegen, die Hände können sie nicht mehr verdecken. Siehst du, so ist’s brav, lobt Alenka. Aber wieso musst du danach mein … mein bestes Stück abschneiden? Sie zuckt wieder mit den Schultern. Das ist der Deal, den wir mit der Familienministerin gemacht haben, und mit fachkundigen Bewegungen wetzt sie das Messer an einem Schleifstein, den sie aus ihrem jungfräulichen Dekolleté zieht.
Schweißgebadet erwache ich aus meinem Traum, es ist 0.49 Uhr, mein schöner schwarzer Schwängerschwanz, er ist noch da, steil ragt er in die Höhe und bildet den höchsten Gipfel der Deckenlandschaft, es gibt also doch einen schützenden Gott auf dieser Welt! Derselbe Gott oder einer seiner Kollegen hat mir allerdings auch rasende Kopfschmerzen beschert, und so liege ich eine Weile wach im Bett. Djaafar schnarcht heute zum Glück sehr dezent, das Schwein, mit dem er sich sonst im Bett suhlt, scheint Ausgang zu haben. Yayas Atem geht ruhig und gleichmäßig, von Kamal, der ja seit Kurzem unser vierter Zimmergenosse ist, ist gar nichts zu hören, dafür hallen schon wieder die unverkennbaren Paarungsgeräusche von Taisa und Magomaz durch den Innenhof.
Ich hab’ von dir geträumt, flüstere ich Nino am nächsten Tag im Deutschkurs zu. Sie tut, als müsse sie gähnen, und schenkt mir einen gelangweilten Blick. Darf ich raten – du hast im Traum mit mir gevögelt, stimmt’s? Gleich drei Mal, gebe ich zurück. Drei Mal nur? Schwächling, ich hätte wirklich mehr von dir erwartet. Naja, ich hatte Kopfschmerzen, und außerdem standen die Frauen Schlange, weißt du. Sie verdreht die Augen und wendet sich von mir ab.
Reflexive Verben stehen heute auf dem Lehrplan, Ich wende mich mit Grauen ab, du wendest dich mit Grauen ab, er/sie/es wendet sich mit Grauen ab. Was ist mit Nicoleta, frage ich Nino. Nicoleta ist nicht zum Kurs erschienen. Sie ist gestern Abend mit ihrer Reisetasche abgehauen, flüstert Nino, die das Zimmer mit ihr teilt. Ich muss wieder an meinen Traum denken: Nicoleta war die Einzige, die darin nicht vorkam, oder vielmehr sagte Alenka, dass sie fortgegangen sei und demnach von mir leider nicht geschwängert werden könne. Hat sie gesagt, wohin sie geht? Nino schüttelt den Kopf. Wir sprechen sowieso nicht allzu viel miteinander, sagt sie. Nino, Ali, unterbricht uns Lukas Neuner, könnt ihr bitte das Flirten auf später verschieben? Ich überlege, ob ich ihn auf Mira ansprechen soll, Lukas, Mira, könnt ihr bitte das Flirten aufs nächste Leben verschieben, besinne mich aber dann eines Besseren. Ich denke auch kurz darüber nach, seine Backfischfangversuche bezüglich Nino zu erwähnen, doch auch dazu ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Ich bin nicht sicher, dass ich mich so lange zurückhalten kann, gebe ich zurück, du weißt schon, die Hormone bei Jugendlichen … Versuch’s wenigstens, sagt Lukas Neuner seufzend und fährt fort, uns mit Reflexivverben und -pronomen zu bewerfen. Ich schlage mich, du schlägst dich, er/sie/es schlägt sich, wer schlägt hier wen und wann schlägt’s endlich dreizehn, damit der Unterricht zu Ende ist?
Beim Mittagessen ist Nicoletas Verschwinden das Thema Nummer eins. Es ist an sich nichts Außergewöhnliches, dass der eine oder die andere aus unserer Schar eine Nacht lang ausbleibt, ohne sich abzumelden, es gibt dafür Schelte und die Androhung irgendwelcher Konsequenzen, wenn man wieder auftaucht, Leute, wir sind hier kein Hotel, ist einer der Lieblingssätze des Onkels, doch damit hat sich’s meist auch schon. Nicoleta war allerdings noch nie über Nacht weg, in ihrer höflichen und rücksichtsvollen Art würde sie überhaupt nie etwas tun, was unsere Betreuer vor den Kopf stoßen könnte, zumindest nicht absichtlich. Ungewöhnlich ist außerdem, dass sie alles, was sie besitzt, in ihre kleine Reisetasche gepackt hat – und das, nachdem sie gestern sichtlich verstört war.
Afrim ist überzeugt, dass sie entführt wurde, Djamila fürchtet, sie könnte in einen Unfall verwickelt worden sein, die ganz und gar herzlose Nino meint, sie wäre sicher nur deshalb abgehauen, um sich den heutigen Putzdienst zu ersparen. Nicoleta, so viel ist klar, gehört zu jenen komplizierten Fällen, deren Geschichten sich nicht so mir nichts, dir nichts, ihm nichts, ihr nichts erfassen lassen.