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Ich habe Djamila vor Weihnachten versprochen, mich um die Probleme mit ihren Mitschülern zu kümmern. Die fünf Quälgeister haben zwar nach Zakias Intervention eine Verwarnung vom Schuldirektor bekommen, doch sie scheinen Djamila trotzdem nicht in Ruhe zu lassen. Mein Versprechen muss ich natürlich einlösen, und wer nicht hören will, muss fühlen.

Ich hole Djamila am nächsten Tag von der Schule ab, wir stellen uns hinter eine Säule in der Eingangshalle, ihre Mitschüler streben dem Ausgang zu, ganz unauffällig zeigt sie mir jedes der fünf Freundchen, die ihr von Beginn an das Leben schwer gemacht haben. Auch an den folgenden Tagen komme ich zurück und mache mich im Stillen mit dem Gebäude und den aus- und eingehenden Menschen vertraut. Der Schulwart, der gerne dem Reben- und Gerstensaft zuspricht und nach dem Genuss selbiger Substanzen die mediterrane Tradition der Siesta pflegt, legt bei seiner Arbeit nicht gerade die größte Sorgfalt an den Tag. Nicht jede Tür wird nach getaner Arbeit versperrt, und so kenne ich bald fast alle Räume des mehrstöckigen Gebäudes. Im Keller entdecke ich genau den richtigen Raum für unser Vorhaben, einen alten Kohlenkeller, der dem Augenschein nach schon lange nicht mehr verwendet wird. Auch bei uns im Leo laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren, ich habe meine Genossinnen und Genossen in meinen Plan eingeweiht, habe die Rollen verteilt, wir proben fast jeden Tag für den Ernstfall, schließlich kommen alle mit in Djamilas Schule, um den zukünftigen Tatort auch mit eigenen Augen kennenzulernen.

Und dann ist der große Tag da: It’s D-Day, it’s V-Day, it’s Heyday, it’s Mayday, Letzteres natürlich nur für die Fünf Freunde, doch sie werden wohl vergeblich notrufen, they can call 911 as much as they want, hahaha, nobody will come to their rescue! Mit einem Lied auf den Lippen ziehen wir in den Kampf: Wir sind die Schnitter der kommenden Mahd, wir sind die Zukunft und wir sind die Tat, uns’re Stärke, uns’re Tugend ist die Solidarität, wir sind die Flüchtlingsjugend, die zusammensteht. Lautlos und unbemerkt dringen wir in das Gebäude ein, die Eingangshalle liegt still und leer vor uns, der Schulwart sitzt wie jeden Tag um diese Zeit beim Mittagessen. Wir nehmen unsere Plätze am oberen Absatz der Kellertreppe ein, gut verborgen vor den Blicken von Schülern und Lehrern, die bald aus den oberen Stockwerken ins Erdgeschoss herabsteigen und dem Ausgang zustreben werden, nur ich postiere mich ein paar Meter von der Kellertreppe entfernt in der Halle. Und dann läutet die Pausenglocke die Stunde der Wahrheit ein, den Schlägern schlägt die Stunde, und wir stehen bereit. Das Haus füllt sich mit Geräuschen und Stimmen, die ersten Eiligen laufen die Treppe herunter, Djamila ist eine von ihnen. Sie kommen gleich, japst sie atemlos vom Laufen, dann verlässt sie das Gebäude, um nicht mit mir zusammen gesehen zu werden. Und da sind sie schon, die ersten beiden Freundchen, sie schlendern langsam die Treppe herunter und unterhalten sich. Hey, ihr zwei Scheißkerle, kommt mal her, provoziere ich sie. Sie bleiben stehen, Überraschung im Blick, dann setzen beide das gleiche abschätzige Grinsen auf. Was willst du, du Scheißnigger, fragt der Größere der beiden. Der Nigger muss euch etwas zeigen. Ich mache eine einladende Handbewegung, drehe mich halb zur Kellertreppe um und gehe ein paar Schritte darauf zu. Sie zögern. Na, was ist, ihr Hosenscheißer, habt ihr Angst vor mir? Sie wechseln einen Blick, dann setzen sie sich in Bewegung. Und schon sind Yaya und Murad und Kamal und Djaafar zur Stelle, und schon haben Freundchen 1 – Markus – und Freundchen 2 – Thomas – schwarze Säcke über dem jeweiligen Hohlkopf, und gleich werden sie die Kellertreppe hinabgestoßen, und keiner hat’s gesehen, und niemand war dabei.

Dieses war der erste Streich, und der zweite folgt sogleich. Freundinchen 3 und 4, Jessica und Gabi mit Namen, kommen plaudernd die Treppe herunter, blond die eine, braun die andere. Nicht Provokation, sondern Charme ist diesmal gefragt, die Sache ist also ein Heimspiel für mich. Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n, singe ich für die beiden, noch dazu, wenn sie so hübsch sind wie ihr, füge ich mit Honigstimme hinzu. Sie schmelzen natürlich dahin, wie könnte es anders sein. Markus und Kevin haben gebeten, dass ihr kurz auf sie wartet, belüge ich sie, sie kommen gleich wieder und haben eine Überraschung für euch. Während ich spreche, mache ich ein paar Schritte zur Kellertreppe hin, um aus der Sichtweite anderer Schüler zu gelangen, die beiden Mädchen folgen zögernd, und schon werden auch sie von starken Armen gepackt, auch ihnen stehen die schwarzen Säcke ganz ausgezeichnet, und auch mit ihnen geht es bergab.

Freundchen 5 lässt sich Zeit, ich fürchte schon, er ist uns entwischt oder gar nicht zur Schule gekommen, doch dann geht auch er uns in die Falle. Nino, Oma und ich eskortieren ihn hinunter ins Kellerverlies, wo die anderen uns schon erwarten. Die Entführungsopfer sind gefesselt, geknebelt und vorschriftsmäßig an die Heizungsrohre gebunden. Gute Arbeit, lobe ich meine Mitkämpferinnen und -kämpfer, während auch Nummer 5 mit dem schönen Namen Kevin angebunden wird. Sie lächeln stolz und halten sich brav an das vereinbarte Schweigegebot, um sich nicht durch stark akzentbeladenes Deutsch zu verraten. Ich bin der Einzige, der spricht, ich bin der Einzige, der keine Strumpfmaske und keine Handschuhe trägt, meinen schönen samtbraunen Teint sollen die Fünf Freunde ruhig sehen, meine Tarnung besteht nur aus einer Schirmkappe, einer Sonnenbrille und einem hübschen Clark-Gable-Bärtchen, das muss genügen, mir kann man ja ohnehin nichts anhaben.

Ihr fragt euch wahrscheinlich, was wir von euch wollen, trete ich auf die fünf Gefesselten zu. Allgemeines Kopfnicken. Und ihr würdet wohl gerne wissen, wer wir sind. Wieder zustimmendes Genicke. Nun, wir sind die ETA, das steht für Extra-Terrestrische Aktionsgemeinschaft, jetzt wisst ihr es. Wir sind die RAF, soll heißen Ruchlose Ausländische Fieslinge, jetzt ist es draußen. Wir sind die al-Qaida, meine Süßen, und ich bin Osama bin Laden, ihr habt mich sicher schon im Fernsehen gesehen, aber dort trage ich immer lange Bärte und viel Make-up; doch so wie ich jetzt vor euch stehe, so sehe ich wirklich aus. Solltet ihr hier lebend rauskommen, könnt ihr euren Vätern und Müttern und später einmal euren Enkelkindern erzählen: Ich habe Osama bin Laden von Angesicht zu Angesicht gesehen, ich wurde von Osama bin Laden persönlich entführt. Das, meine Lieben, kann nicht jeder von sich behaupten.

Die Augen unserer Freunde werden größer und größer. Okay, okay, jetzt sage ich euch die Wahrheit. In Wahrheit sind wir nämlich die UMF, die Union des Misanthropes Fervents; da ihr aber wahrscheinlich des Französischen nicht mächtig seid, übersetze ich das für euch ins Deutsche: Wir sind die Unzufriedenen Missgelaunten Fremdenlegionäre, manchmal nennen wir uns aber auch Übelriechende Menschenfressende Fehlgeburten oder Unpässliche Menstruierende Fräuleins, je nach Anlass, Mondphase und Lust und Laune. Aber merkt euch einfach UMF, das schafft selbst ihr, denn solltet ihr den heutigen Tag überleben, dann werdet ihr in Zukunft vielleicht noch öfter von uns hören.

Es ist mir zwar nicht recht, dass ich allein die ganze Rederei erledigen soll, es entspricht nicht meinem Naturell, doch ich füge mich in mein Schicksal und spreche weiter. Ach ja, ihr wollt ja auch wissen, warum wir heute hier an diesem schönen Ort zusammengekommen sind. Ich ziehe eine Schere aus meiner Jackentasche, gedämpfte Entsetzensschreie kommen aus gestopften Mäulern, Augen weiten sich. Nun, zunächst einmal wollen wir euren Skalp, meine Lieben. Die Entsetzensschreie werden lauter, die Augen weiter, die Schere, sie kommt näher. Wir haben nämlich alle auch ein bisschen indianisches Blut in unseren Adern, müsst ihr wissen, das lässt sich einfach nicht unterdrücken, auch wenn man’s noch so sehr versucht. Ich packe den Kopf von Gabi, der Blondschopf rüttelt und schüttelt sich, doch schon halte ich die erste Haarsträhne in der Hand. Seht ihr, meine Lieben, wir sind ja bescheiden, wir wollen ja gar nicht euren ganzen Skalp, sondern nur eine Locke von jedem. Ich schnappe mir Locken Nummer 2 und 3. Wir sind zwar vielleicht Misanthropen, aber wir haben doch ein weiches Herz, beruhige ich unsere werten Gefangenen, auch Locke Nummer 4 ist schon des daran fixierten Kopfes beraubt, nur Nummer 5 macht Schwierigkeiten, Kevin, natürlich, wer sonst, Kevin hat nämlich gar keine Locken, sondern ein blondes Stoppelfeld auf dem strohgefüllten Kopf. Mit kunstfertigen Scherenhänden schlage ich also zwei Schneisen in Form eines Hakenkreuzes in das Feld.

Ich rede noch eine Weile auf die Fünf Freunde ein, dann nehmen wir ihnen die Mobiltelefone ab, stellen jedem eine Wasserflasche mit Strohhalm hin, sodass sie auch ohne Zuhilfenahme der Hände trinken können, schließlich gebe ich das Signal zum Aufbruch. Seht ihr, wir sind ja keine Unmenschen, wir lassen euch Wasser hier. Ach ja, wenn ihr selber Wasser lassen wollt, dann lasst es einfach raus, ihr werdet sehen, das Gefühl ist ein ungemein Befreiendes. So, und nun wollen wir euch nicht länger stören, meine Lieben, ihr habt ja vielleicht heute noch Besseres vor, als euch mein Gerede anzuhören. Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Schwestern, zum Lichte empor, hell aus dem dunklen Vergang’nen leuchtet die Zukunft hervor, so singen wir, während wir die Kellertreppe nach oben fliegen.

Wir vertreiben uns die Zeit in einem Park in der Nähe der Schule. Es dauert nicht lange, bis die erste besorgte Mutter anruft, es ist natürlich Kevins Mutter. Wo bleibst du, will sie wissen. Hallo, hier spricht Karl-Heinz, melde ich mich, Kevin ist gerade auf dem Klo, deshalb kann er nicht ans Telefon. Er sollte schon längst zu Hause sein, das Essen wartet auf ihn, informiert mich die Mutter in ärgerlichem Ton. Aber wir lernen doch heute gemeinsam den ganzen Nachmittag, und dann gehen wir ins Kino, hat Kevin Ihnen das nicht gesagt? Was? Davon war überhaupt nicht die Rede. Kevin soll mich gleich zurückrufen. Ich werd’s ihm ausrichten, natürlich, gerne, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, gnädige Frau.

Ganz ähnlich verlaufen die Gespräche mit anderen Müttern oder – im Fall von Jessica – Großmüttern. Kurz danach tippe ich in die Tasten der einzelnen Telefone: Komme erst nach dem Kino nach Hause; die neuerlichen Anrufe verärgerter Angehöriger werden schlicht und einfach ignoriert. Dafür werden die Mobiltelefone anderweitig verwendet: Sie werden von meinen kindischen Genossen bestaunt, die die verschiedenen Funktionen und Spiele ausprobieren, bis Nino schließlich auf die glorreiche Idee kommt, Nachrichten zu verschicken. Du bist ein großes Arschloch, wird also zum Beispiel an alle Kontakte in Markus’ Adressbuch verschickt, nachdem ich Orthografie und Grammatik Korrektur gelesen habe. Ich will mit dir schlafen, ergeht als Einladung an Jessicas Bekannte, und ich muss gestehen, Rotkäppchens Idee ist gar nicht mal so schlecht, unsere lieben Gefangenen werden wohl auch in den nächsten Tagen viel Freude mit Freunden und Verwandten haben …

Wie schon erwähnt, sind wir ja keine Unmenschen, wir wollen unsere Freunde nicht zu lange warten lassen. Drei Stunden im finsteren Verlies sind genug, und so schleichen wir uns am Nachmittag erneut in den Keller des Schulhauses. Markus ist der Erste, dem wir Mobiltelefon und Freiheit wiederschenken. Es ist zugegebenermaßen eine etwas begrenzte Freiheit – doch unser aller Freiheit stößt nun einmal auf Grenzen –, er ist nämlich immer noch an den Händen gefesselt, als wir ihn aus der Schule werfen, um den Hals trägt er ein großes Schild mit der Aufschrift Kann ich Ihnen helfen? Wir warten ein paar Minuten, als Nächste ist Jessica an der Reihe, auf ihrem Schild heißt es Die Gedanken sind frei. Ich muss aufs Klo, geben wir Kevin mit auf den Weg, Gabi fragt Wer will mich, bei Thomas, dem fünften im Bunde, heißt es Ich liebe euch alle.

Ihr wart großartig, lobe ich meine Genossinnen und Genossen bei einer Nachbesprechung im Fußballzimmer. Was haben wir heute gelernt, frage ich dann in die Runde und warte die Antwort nicht ab. Wir haben gelernt, dass man sich nicht alles gefallen lassen muss. Dass man sich wehren kann. Dass man solchen Leuten Grenzen setzen muss. Und dass man Leuten, bei denen das rein verbale Grenzen-Setzen nichts nützt, eben auf die Finger klopfen muss. Außerdem haben wir erste Erfahrungen im revolutionären Kampf gesammelt, und diese Erfahrungen, das ist die wichtigste Lektion, werden uns in Zukunft nützen.

Ich hocke vor dem Küchenfenster, ich höre die erstickten Schreie meiner Mutter und meiner Schwestern, wenn ich mich vorsichtig aufrichte und durch das staubige Fliegengitter spähe, kann ich die Soldaten sehen, die ihnen Gewalt antun. Die ganze Küche ist verdreckt von ihren Fußabdrücken, ich denke daran, wie meine Mutter mit uns Kindern schimpfte, wenn wir das Haus mit schmutzigen Schuhen betraten. Jetzt schimpft sie nicht, jetzt schreit sie und versucht, sich der Soldaten zu erwehren, doch vergebens. Ich hocke vor dem Fenster, ich möchte den Frauen zu Hilfe kommen, doch ich kann mich nicht bewegen.

Plötzlich bin auch ich im Haus, es sind viele Leute da, ich erkenne Nino und Nicoleta, meinen Onkel, meine Tante, andere Verwandte und Nachbarn, aber auch die Soldaten. Meine Mutter bewirtet sie alle, sie lächelt den Soldaten freundlich zu, die lächeln zurück. Ich verstehe nicht, was hier vorgeht. Ich werfe einen Blick in die Küche, da sehe ich die Fußspuren auf dem Boden. Ich will meine Mutter zur Rede stellen, doch aus meinem Mund kommt kein Wort heraus. Ihr habt Schande über die Familie gebracht, sagt mein Onkel plötzlich laut. Schande über euch, stimmen die anderen mit ein, ihr könnt hier nicht bleiben. Aber das ist unser Haus, antwortet die Mutter weinend. Schick’ mich nicht fort, wendet sie sich an mich. Ich sehe die Verzweiflung in ihren Augen, meine ältere Schwester klammert sich an mich. Du kannst uns nicht fortschicken, bettelt sie. Ich deute auf die Fußabdrücke in der Küche. Da ist der Beweis, sage ich. Wofür, fragt meine Mutter traurig, doch ich schüttle nur den Kopf. Dann ist ein Schuss zu hören, meine jüngere Schwester schreit auf – – – und ich wache auf.

Djaafars Nachttischlampe ist an. Alles in Ordnung, schreibt er auf seinen Notizblock und hält ihn mir hin. Jaja, natürlich, ich hab’ mich noch nie besser gefühlt, wieso? Du hast geschrien, schreibt er. Ich? Neinnein, du verwechselst mich mit Yaya, Yaya schreit im Traum, nicht ich. Du hast in einer fremden Sprache gesprochen und um dich geschlagen, schreibt er. Ach, ich habe nur etwas ausprobiert für unsere nächste Aktion. Dann schlage ich die Decke zurück, stehe auf und gehe in die Küche.

Amal sitzt mit einem Buch und einer Tasse Tee an einem der beiden Tische und blickt auf, als ich den Raum betrete. Du hast geschreit, sagt sie. Ich schüttle verärgert den Kopf und beschließe, nicht weiter auf den lächerlichen Vorwurf einzugehen. Amal vertieft sich wieder in ihr Buch. Ich bereite Tee zu, dann setze ich mich zu ihr. Und, was bringt dich hierher? Ich wollte lesen und etwas trinken, antwortet sie. Und rauchen, sage ich und deute auf den kleinen, als Aschenbecher zweckentfremdeten Teller, den sie auf dem Stuhl neben sich abgestellt hat. Sie zuckt mit den Schultern und sagt weiter nichts.

Eine Weile sitzen wir einander schweigend gegenüber. Ich schlürfe meinen Tee und wärme mir die Hände an der Tasse, Amal liest. Es ist das erste Mal, dass ich sie mit einem Buch in der Hand sehe, ich kann den Titel nicht entziffern, aber das Umschlagbild, das kurz aufblitzt, lässt auf die Kategorie Liebesschnulze schließen. Als hätte Amal meine Gedanken gelesen, lässt sie plötzlich das Buch auf den Tisch sinken und greift nach der Zigarettenschachtel. Stranger In My Arms, by Rochelle Alers, lese ich auf dem Cover. Nun, die Auswahl an Fremden im Haus könnte größer nicht sein, der Erfüllung von Amals Sehnsüchten steht also nichts im Wege.

Wovon hast du eigentlich geträumt, fragt sie ganz unvermittelt. Ich habe nicht geträumt, will ich ganz automatisch abwehren, doch dann, ich weiß eigentlich nicht warum, entscheide ich mich anders. Ausgerechnet Amal, die sonst so sehr in ihren Kokon aus Problemen eingesponnen ist, fragt mich danach, ausgerechnet ihr, mit der mich wenig verbindet, erzähle ich nun also von dem Traum, der mich seit Wochen verfolgt. Und das wirklich Eigenartige, schließe ich meine Erzählung: Dieser Traum hat nichts mit mir zu tun. Es ist nicht meine Geschichte, von der ich da träume, sondern die Geschichte irgendeiner anderen, mir völlig unbekannten Familie.

Amal sagt nichts. Sie zieht mit den Lippen die nächste Zigarette aus der Schachtel, bietet mir ebenfalls eine an, ich lehne dankend ab. Sie zündet ihre an, nimmt einen tiefen Zug und bläst den Pesthauch durch die Nase wieder heraus. Ich habe auch manchmal Albträume, sagt sie dann. Es ist immer derselbe Traum. Zwei Männer und eine Frau kommen eines Tages in unser Haus und sprechen mit meiner Mutter, sie kommen wieder, und beim dritten Mal geben sie meiner Mutter Geld, und sie schickt mich mit den dreien fort. Amal will weitersprechen, doch dann scheint sie es sich anders zu überlegen. Schweigend sitzen wir einander eine Weile gegenüber, schließlich geht jeder in sein Zimmer und versinkt in einen tiefen Schlaf ganz ohne Träume.

Heute möchte ich euch von einem jungen Mädchen erzählen, das von seiner Mutter verkauft wurde, beginne ich am Tag darauf in Pitras guter Stube meine Geschichte. Schon wieder so eine traurige Geschichte, beschwert sich Halima, doch ich ignoriere ihren Einwurf natürlich. Ich habe drei Portionen von Pitras göttlicher Fischsuppe verspeist, ich muss dafür bezahlen und kann mich dabei nicht nach den Be- und Empfindlichkeiten jedes einzelnen Anwesenden richten. Ich weiß nicht, wie das Mädchen heißt, fahre ich fort, aber nennen wir sie Neneh. Neneh lebt in einem kleinen Dorf irgendwo im Westen Afrikas, sie ist ungefähr vierzehn Jahre alt, als eines Tages zwei fremde Männer und eine Frau im Dorf auftauchen. Sie entsteigen einem großen, glänzenden Auto, sind schön gekleidet, sie kommen aus der Stadt. Sie sprechen mit einigen Frauen im Ort, unter anderem auch mit Nenehs Mutter. Neneh weiß nicht, worum es dabei geht, sie fragt auch nicht nach, als die drei wieder fort sind. Ein oder zwei Wochen später sind sie erneut da, wieder besuchen sie einige Häuser, eine Stunde später fahren sie in Begleitung zweier Kinder davon. Beim dritten Mal kommen sie wieder zu Nenehs Haus.

Nenehs Mutter ist arm. Sie hat acht Kinder zur Welt gebracht, drei sind gestorben, die anderen fünf kann sie kaum ernähren, der Vater ist verschwunden, sie ist müde und krank, mit ihren eingefallenen Wangen sieht sie fast aus wie eine Greisin. Sie packt ein paar Kleidungsstücke in eine schäbige Tasche. Da, sagt sie zu Neneh, du wirst eine Weile bei der Tante in der Stadt wohnen, dort wird es dir viel besser gehen als hier im Dorf. Die Tante zwingt sich zu einem kurzen Lächeln, bevor ihr Mund sich wieder verhärtet. Die Männer überreichen der Mutter einen Briefumschlag. Sei brav und mach’ immer, was die Tante sagt, gibt sie Neneh mit auf den Weg, Neneh nickt automatisch, ohne wirklich zu verstehen. Dann sind sie im Auto, Neneh sitzt steif und unbeweglich neben der Tante auf der Rückbank, sie hat Angst, irgendetwas in dem blank polierten Wagen zu beschmutzen. Wie lange soll ich bei dir bleiben, fragt sie. Wir werden sehen, antwortet die Tante.

Neneh bleibt mehrere Monate bei der Tante. Sie wohnt in einem großen Haus und teilt ein Zimmer mit einem zweiten Mädchen, auch sie kommt aus einem kleinen Dorf, ihre Eltern sind gestorben. Im Haus gibt es einen Fernseher, die beiden sitzen den ganzen Tag davor, die Bilder aus Europa und Amerika gefallen ihnen. Trotzdem ist Neneh traurig und möchte zurück zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern. Das nützt dir auch nichts, sagt die Tante jedes Mal, wenn Neneh weint, deine Mutter ist sehr krank, sie kann sich jetzt nicht um dich kümmern. Eines Tages kommt die Tante ins Zimmer, sie macht ein ernstes Gesicht. Du musst jetzt tapfer sein, sagt sie und legt Neneh den Arm um die Schulter. Neneh möchte wegrücken, traut sich aber nicht, sich zu bewegen. Deine Mutter ist vor ein paar Tagen gestorben, sagt die Tante. Sie erzählt von der Krankheit, an der schon so viele im Land gestorben sind, von den vielen Waisenkindern, die zurückbleiben. Aber du hast großes Glück, meine liebe Neneh, denn du hast die Möglichkeit, nach Europa zu gehen. Neneh weint tagelang, sie will nicht nach Europa, sondern zurück in ihr Dorf, zurück zu ihren Geschwistern. Die bleiben nicht im Dorf, die kommen in verschiedene Heime, sagt die Tante, die sind nicht so glücklich wie du. Neneh weint weiter, und sie sieht weiter fern, um sich abzulenken. Die Fernsehbilder aus Europa erscheinen ihr plötzlich in einem ganz anderen Licht, jetzt, da sie Teil dieser Fantasiewelt werden soll. Vielleicht hat die Tante ja recht, denkt sie irgendwann, vielleicht hat sie wirklich großes Glück. Und eines Tages ist es so weit, die Tante hat Kleider für Neneh eingekauft und Schuhe und einen Koffer, hat ihr einen Pass in die Hand gedrückt. Du heißt ab jetzt Amal, schärft sie ihr ein, hörst du? Und du kommst aus Gambia. Wenn dich jemand fragt, ist es ganz wichtig, dass du deinen neuen und nicht den alten Namen verwendest, sonst bekommst du ganz große Probleme mit der Polizei in Europa. Und Neneh nickt, und dann wird sie zum Flughafen gebracht, sie weint beim Abschied von der Tante, obwohl sie sie nicht mag, und als sie nach mehreren Stunden aus dem Flugzeug steigt, hat sie einen neuen Namen und beginnt ein neues Leben.

Die Menschen auf dem Flughafen sind alle weiß, nur einer ist schwarz. Amal Mbowe, steht auf dem Schild, das er in der Hand hält, und Amal geht auf ihn zu. Er begrüßt sie ohne Lächeln, nimmt ihr den Koffer ab und geht mit ihr zu einem großen schwarzen Wagen. Während der ganzen Fahrt spricht er kein Wort, Amal blickt aus dem Fenster und hat das Gefühl, in ihrer Heimat vor dem Fernseher zu sitzen, so unwirklich kommen ihr die Bilder vor. Der Mann fährt schließlich mit dem Auto direkt in ein Haus hinein, sie steigen eine Treppe nach oben, und dort wird Amal von einer Frau begrüßt. Das ist jetzt dein neues Zuhause, sagt sie lächelnd, auch sie ist schwarz und küsst sie auf beide Wangen. Sie steigen die Treppe wieder hinunter, die Frau geht voran, sie betreten einen kleinen Raum mit einem Bett, einem Tisch und einem Sessel. Hier wirst du wohnen, sagt die Frau, gefällt es dir? Amal blickt nach oben zu dem kleinen Fenster knapp unterhalb der Decke, draußen hört man Vogelgezwitscher. Sie nickt, sie hat immer noch das Gefühl, vor dem Fernseher zu sitzen.

Amals Aufgabe ist es, auf die beiden Kinder, fünf und sieben Jahre alt, aufzupassen. Zu Hause hatte sie drei jüngere Geschwister, um die sie sich kümmern musste, sie wusste, was gut und was schlecht für sie war, wusste, was sie ihnen erlauben konnte und was nicht. Zunächst funktioniert das auch hier, und sie wird von den Jüngeren respektiert. Bald jedoch wird den Kindern klar, dass Amal trotz einiger Jahre Schulbildung vieles nicht weiß und nicht kann und nicht kennt, und sie beginnen, dieses Nichtwissen auszunutzen. Lasst sie in Ruhe, sagt die Mutter, als die beiden Amal wieder einmal auslachen, woher soll sie’s wissen, sie ist ja nur ein dummes Bauernmädchen.

Amal muss auch im Haushalt mitarbeiten. Zwar gibt es ein Dienstmädchen, doch sie ist faul, sie telefoniert die meiste Zeit, manchmal kommt auch ihr Freund ins Haus. Sie zeigt Amal, wie man Wäsche wäscht und bügelt und putzt, doch Amal macht Fehler. Sie verbrennt sich beim Bügeln nicht nur die Hand, sondern auch eine Seidenbluse, lässt beim Abtrocknen eine kostbare Teetasse fallen, färbt beim Waschen die weißen Hemden des Hausherrn rosa. Du dummes Huhn, schimpft die Hausherrin und verpasst Amal jedes Mal Ohrfeigen, das werd’ ich dir vom Gehalt abziehen! Dummes Huhn, so nennen die beiden Kinder Amal von nun an, und die Mutter kommt ihr nicht mehr zu Hilfe.

Am Sonntag hast du frei, sagte die Hausherrin am Anfang, doch meistens gibt es auch sonntags genug zu tun. Als Amal nach fünf oder sechs Wochen tatsächlich einmal nichts zu tun hat, will sie hinaus, sie möchte sich bewegen, die fremde Stadt kennenlernen. Das geht nicht, das ist viel zu gefährlich, verbietet ihr die Hausherrin, du würdest Probleme mit der Polizei bekommen. Amal fügt sich in ihr Schicksal und bleibt im Haus. So oft wie möglich geht sie mit den Kindern in den Garten, sie genießt das viele Grün, denn aus ihrer Heimat kennt sie nur trockene, verbrannte Erde. Als die Kinder merken, dass Amal sich gerne im Garten aufhält, sind sie nicht mehr aus dem Haus zu bekommen.

Den Hausherrn sieht Amal nur selten. Er geht morgens aus dem Haus und kehrt abends zurück, manchmal ist er auch ein paar Tage unterwegs. Er ist Diplomat für irgendein afrikanisches Land, weiß Amal, wenn sie auch nicht genau weiß, was das Wort Diplomat bedeutet. Er ist meistens netter zu Amal als seine Frau, doch manchmal brüllt er sie an, wenn sie etwas falsch gemacht hat, ein paar Mal schlägt er sie auch. Einmal kommt er spätabends nach Hause, Amal begegnet ihm in der Küche, er wirft ihr einen eigenartigen Blick zu, dann greift er ihr plötzlich zwischen die Beine und zieht sie mit hartem Griff zu sich heran. Sie spürt seinen Alkoholatem, er versucht, sie zu küssen, sie presst die Lippen fest zusammen. Lass’ meinen Mann in Ruhe, du kleine Hure, schimpft die Hausherrin, die gerade die Küche betritt. Er lässt Amal los. Ich wollte nichts, beteuert sie, er … Halt den Mund, unterbricht sie die Hausherrin und schlägt ihr ins Gesicht, sodass Amal aus der Nase blutet.

Amal möchte zurück zu ihrer Familie, zurück nach Afrika. Doch die Hausherrin hat ihr gleich am ersten Tag den Pass abgenommen. Für die Anmeldung, lautete die Begründung, wir bewahren ihn für dich im Safe auf, sagte sie dann ein paar Wochen später, als Amal danach fragte. Amal überlegt, einfach wegzulaufen, doch sie weiß nicht wohin, sie kennt niemanden in der Stadt, sie hat kein Geld, sie spricht kein Wort Deutsch.

Bald danach wird dem Dienstmädchen gekündigt, von da an muss Amal noch mehr arbeiten. Wenn Gäste im Haus sind, gibt es besonders viel zu tun, und es kommen oft Gäste. Zwei oder drei Mal versucht sie in gebrochenem Englisch, einen Gast auf ihre missliche Situation aufmerksam zu machen, doch vergeblich.

Es vergehen Monate, es vergehen Jahre. An manchen Tagen ist das Leben ruhig und beinahe schön, an anderen wieder kaum zu ertragen. Amal lernt, die schlimmen Dinge an sich abgleiten zu lassen. Eines Tages werden Dutzende von großen Kartons vom Dachboden geholt, die Hausherrin beginnt, Papiere und Bücher und Kleider und Geschirr einzupacken, Amal muss ihr dabei helfen. Das geht dich nichts an, antwortet die Hausherrin, als Amal nach dem Grund dafür fragt. Wir gehen nach Japan, verrät der Sohn, wir werden im obersten Stockwerk des höchsten Gebäudes von Tokyo wohnen, mit Dachterrasse und Swimmingpool. Die Schränke leeren sich, eines Tages steht ein großer Lastwagen vor dem Haus, um einige Möbelstücke und die meisten Kartons mitzunehmen. Und dann wacht Amal eines Morgens etwas später als sonst auf, es ist still im Haus, sie geht nach oben, niemand ist in der Küche oder im Esszimmer, sie geht hinaus auf die Terrasse, ruft nach den Kindern, sucht sie in ihren Zimmern, ruft nach der Hausherrin, doch niemand antwortet. Auf dem Küchentisch liegt Amals Pass, daneben ein Hundert-Euro-Schein. Was im Kühlschrank ist, kannst du essen, steht auf einem Stück Papier. Amal wendet den Zettel, die Rückseite ist leer. Und dann nimmt sie ihren Pass und den Geldschein, holt aus ihrem Zimmer ein paar Kleidungsstücke und einige andere Dinge, die ihr gehören, und packt sie in eine Tasche. Sie hört, wie die Haustür hinter ihr zufällt, sie dreht sich nicht um, und dann öffnet sie das Gartentor und tritt hinaus auf die Straße.

Was macht dein Traum, fragt mich Pitra, nachdem ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe. Ich werfe ihr einen Stirnrunzelblick zu, ich kann mich nicht erinnern, ihr je von irgendeinem meiner Träume erzählt zu haben. Welcher Traum, frage ich unschuldig. Die Schwarze Köchin antwortet nicht, sondern fährt ohne aufzublicken fort, Figuren aus einer Illustrierten auszuschneiden. Ach so, diesen einen Traum meinst du, den ich immer wieder träume. Sie reagiert nicht. Ja, das ist komisch. Die Geschichte hat nichts mit mir zu tun, ich weiß nicht, warum ich sie immer wieder träume. Ach, Ali, sagt Pitra seufzend und schüttelt den Kopf. Sie legt die Figuren vor sich auf den Teppich, es sind sechs oder sieben, sie legt sie nebeneinander, dann ändert sie nach einiger Überlegung die Reihenfolge. Du musst gut auf dich aufpassen, Ali. Das mach’ ich, Pitra, das mach’ ich.