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Der Berufsschnupperkurs ist zu Ende, meine Aufmerksamkeit gilt wieder dem Haus und seinen Bewohnern, und es gibt, die Götter seien gepriesen, eine neue Frau in meinem Leben: Es ist belle, belle Isabel, und sie ist, ihr Göttinnen seid bedankt, ohne jegliches Gezweifel die schönste Frau auf diesem Planeten! Vor ein paar Tagen ist sie zum ersten Mal hier erschienen, ist mir zum ersten Mal erschienen, im Träumen oder im Wachen, ich könnt’ es nicht sagen, schwebenden Schrittes und wehenden Haares ist sie in mein Leben getreten und erfüllt es seither mit stillem Glanz. Offiziell ist sie hier, um Amal zwei Mal pro Woche Nachhilfe in Mathematik zu erteilen, tatsächlich kommt sie natürlich nur wegen mir ins Haus.
Schon beim ersten Mal, als ich sie mit Amal in einem der Kursräume sitzen sehe, stolpere ich beinahe über die Schwelle, geblendet nähere ich mich der strahlenden Göttin, abgeschirmten Auges und voll der Ehrfurcht. Sie spricht in Zahlen, sie singt sich mit Glockenstimme quer durchs Einmaleins, ein Mal eins ist zwei Mal drei, x ist vier und y zwei. Ich brauche auch Nachhilfe, sage ich, nachdem ich drei Minuten oder drei Jahre andächtig gelauscht, sie schenkt mir ein unsicheres und doch so einladendes Lächeln. Gerne, antwortet sie mir, aber wir sollten zuerst mal Tony fragen. Das mach’ ich schon, das mach’ ich schon, Frau Professor, versichere ich, und so schnell wie das himmlische Kind sause ich davon, sause kreuz und quer und auf und ab, bis ich Herrn Azibaola endlich gefunden habe. Hilfe, stoße ich atemlos hervor, und Tony blickt überrascht von seiner Arbeit auf, nicht nur Amal, auch ich brauche Nachhilfe, Abhilfe, Beihilfe, brauche Rettung vor der mathematischen Ignoranz! Da musst du mit Mira sprechen, gibt er mir zur Antwort und mustert mich mit verwundertem Blick. Mira ist nicht da, ich weiß, dass sie erst in zwei Tagen ihren nächsten Dienst hat, so lange kann ich Isabel natürlich nicht warten lassen, ich kehre also zurück und nehme, atemlos und pochenden Herzens, zu meiner Liebsten Linken Platz. Tony ist einverstanden, berichte ich, und sie heißt mich willkommen im Zahlenparadies, nimmt mich auf im Schoße der Arithmetik und führt mich ein in die Geheimnisse der Geometrie.
Amal gibt mir vom ersten Tag an mit säuerlichen Blicken zu verstehen, dass ich ihr nicht willkommen bin, doch in Wahrheit ist natürlich sie der störende Klotz am Bein, sie ist es, die die Vollkommenheit unserer Kreise stört. Wäre Amal nicht, ich weiß es, ich fühle es, würden Isabel und ich natürlich sofort übereinander herfallen, würden ineinander versinken, weil wir füreinander geschaffen sind. Die wunderbare Welt der Zahlen ist ja doch mein heimliches Zuhause, Arithmetik und Geometrie waren mir immer schon die liebsten unter den septem artes liberales, und das umso mehr, wenn man von so schönen doctorae unterwiesen wird.
Isabel hat als junges Mädchen zwei Jahre in Gambia verbracht, ihr Vater arbeitete dort im deutschen diplomatischen Dienst, sie hat schöne Erinnerungen an jene Zeit und teilt sie gerne mit Amal. Doch Amal, die ja nach eigenen Angaben aus Gambia stammt, schweigt zu Isabels Erzählungen, und wenn sie einer Frage nicht ausweichen kann, sind ihre Antworten kurz und vage. Liegt es daran, dass Isabel in der Hauptstadt Banjul, Amal hingegen in einem kleinen Dorf im Osten des Landes gelebt hat? Daran, dass es zwischen der Welt eines Diplomatenkindes und derjenigen einer Durchschnittsafrikanerin zu wenige Berührungspunkte gibt? Verbindet Amal so schlimme Erinnerungen mit Gambia, dass sie nicht darüber sprechen will oder kann? Oder bestätigt sich, was ich schon zuvor vermutet habe, dass nämlich Amal gar nicht aus Gambia, sondern aus einem anderen afrikanischen Land kommt? Sie spricht Mandinka, und das ist, wie jeder weiß, die am weitesten verbreitete Sprache in Gambia, doch das beweist gar nichts, denn Mandinka wird auch in einigen anderen Ländern Westafrikas gesprochen. Ich denke an Yaya, ich weiß auch von anderen, denen man geraten hat, ihre Dokumente zu vernichten oder zu verstecken und sich eine andere Herkunft zu erfinden, um im Asylpoker, Einsatz: 1 Menschenleben, wenigstens etwas bessere Karten zu haben. Doch genug, genug von Amal, um sie geht es hier ja gar nicht, denn es wäre nicht rechtens, über Amal zu sprechen, wenn es doch gilt, Isabel zu lobpreisen: Sprichst du von Hypothenusen, pocht mir das Herz im Busen, denn Sinus, Tangens, Kosinus sind für mich niemals Überdruss, drum schick’ ich dir per Boten ein Sträußlein Asymptoten und werde dir aus Primzahlen ein Bildnis deiner selbst malen.
Im Minnedienst vergeht der November wie im Flug, und schon beginnt sie, die stillste Zeit im Jahr, die selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Kling Glöckchen, klingelingeling, singen wir gemeinsam mit Tony am ersten Adventsonntag. Tony ist ein begnadeter Sänger, in den zehn Jahren, die er nun in diesem Land lebt, hat er sich ein beträchtliches Repertoire an deutschsprachigen Liedern für jede Gelegenheit angeeignet, sogar solche in den verschiedenen österreichischen Dialekten kommen ihm über die wulstigen Lippen. Wenn Herr Azibaola Es wird scho glei dumpa anstimmt, dann vergessen wir Kinderln unsern Kumma, unser Load, besser geht’s nicht, das ist Integration in höchster Vollendung! Und über Tonys profundem Bass und dem armseligen Gequäke meiner Mitbewohner schwebt Isabels Engelssopran, hört nur, wie lieblich es schallt! Als Nächstes folgt Leise rieselt der Schnee, wir denken dabei natürlich an Afrim, und Djaafar und ich lassen den festlichen Tag zwar nicht mit Schnee, dafür aber mit Gras ausklingen: Denn alles Fleisch, es ist wie Gras, singen wir bei unserer ganz privaten Adventfeier, gefolgt von The Green, Green Grass of Home.
Wer klopfet an, stimmen wir am zweiten Adventsonntag mit verteilten Rollen an, Ein paar gar arme Leut’, antwortet der Chor, Was wollt ihr dann, heißt es weiter, O gebt uns Herberg heut’, lautet der Antrag, der natürlich mit einem ablehnenden Bescheid abgeschmettert wird. Ihr Kinderlein kommet, ist unser nächstes Lied, doch es muss sich dabei um einen gröberen Druckfehler handeln, mache ich Tony aufmerksam, es sollte wohl heißen Ihr Kinderlein gehet, o gehet doch all, so bleibt doch woanders auf diesem Erdball, ob Hunger, ob Krieg, ob ein böser Tyrann, lasst uns doch in Frieden, das geht uns nichts an.
Die stillste Zeit im Jahr, ach ja. Unsere Wärterinnen und Wärter hetzen wie die anderen Eingeborenen von Geschäft zu Geschäft, Jingle Bells am Vormittag, Rudolph the Red-Nosed Reindeer am Nachmittag, Still, still, still, weil’s Kindlein schlafen will, singe ich fürsorglich für Hans, der eine anstrengende Weihnachtsfeier mit seinen Jazzplattenbrüdern hinter sich hat und sich seufzend durch den Tag schiebt. Jaja, die fortschreitende geistige Umweihnachtung, sie fordert ihre Opfer …
Zwar singen wir mit Tony Weihnachtslieder, backen mit Mira Weihnachtskekse und basteln mit Zakia Weihnachtsschmuck, fröhliche Weihnacht überall also, doch abgesehen davon geht es im Haus nicht gerade besinnlich zu. Zwei Wochen vor dem Friedensfest bekommt Gülertan Dolas ein amtliches Schreiben zugestellt, die Beschwerde gegen den negativen Asylbescheid wurde abgewiesen, das dritte und letzte Leben ist verwirkt, er kann also von nun an jederzeit abgeschoben, die Familie dadurch zerrissen werden. Am Tag darauf wird Zakia plötzlich ohnmächtig, der Onkel, Nino und ich sind zufällig Zeugen, als sie auf dem Gang vor dem Büro zu schwanken beginnt und nach zwei, drei Schritten zusammmensackt. Der Onkel und ich helfen ihr auf, als sie Sekunden später wieder zu sich findet. Ich habe plötzlich schwarz vor Augen gehabt, sagt sie, sie setzt sich auf eines der Sofas im Wohnzimmer, Nino bringt ihr ein Glas Wasser. Der Onkel, der nach sechs Semestern Medizinstudium den Arztmantel gegen die Sozialarbeiterzwangsjacke tauschte, fühlt Zakia den Puls. Hast du gefrühstückt, fragt er streng. War keine Zeit, antwortet die bleiche Patientin. Der Onkel-Doktor verschwindet und kommt kurz darauf mit einer Tafel Schokolade wieder. Drei Mal täglich zwei Rippen und außerdem Schongang bei der Arbeit, verschreibt er, und mit einer mündlichen Überweisung zur gründlichen Untersuchung lässt er die Patientin zurück. Am gleichen Tag gibt es noch einen weiteren Schwäche- beziehungsweise Krankheitsfall: Nicoleta übergibt sich in ihrem Zimmer, sie schafft es nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette, am Tag darauf passiert ihr das Gleiche noch einmal. Ich muss wieder an ihren Ohnmachtsanfall beim Kurs denken und auch an Frau Helgas Worte: Die Kleine ist schwanger, hundertprozentig. Hat sie recht? Nicoleta sagt Nein, meint Nino, die ihre Zimmergenossin darauf angesprochen hat, von wem denn auch, setzt sie ein wenig abschätzig hinzu. Nachdem an den nächsten beiden Tagen weitere Übelkeitsanfälle folgen, begleitet Zakia Nicoleta ins Krankenhaus. Ich mache auch gleich eine Untersuchung, sagt sie zum Onkel. Bei Zakia kommt zum Glück außer erhöhten Cholesterin- und Blutdruckwerten nichts Schlimmes ans Tageslicht. Aber du solltest trotzdem leisertreten, tritt ihr der Onkel erneut auf die Zehen. Jaja, antwortet sie wenig überzeugend. Nicoleta muss einige Tage im Krankenhaus bleiben, nicht Schwangerschaft, sondern bulimische Anorexie lautet schließlich die Diagnose, die Dr. Idaulambo natürlich schon längst gestellt hat, sie bekommt bunte Pillen verschrieben und wird zum Stammgast in der hauseigenen Gummizelle.
Und ein weiterer Mitbewohner muss ins Krankenhaus: Gjergi. Die letzten Wochen hat er hauptsächlich im Bett verbracht, ohne jedoch Erlösung im Schlaf zu finden, und mittlerweile ist er so geschwächt, dass er nicht mehr alleine aufstehen kann. Trotzdem wehrt er sich, als er abgeholt werden soll. Ich bin nicht krank, sagt er immer wieder auf Albanisch. Wir können dich hier nicht gesund pflegen, redet Betreuerin Bojana auf Serbisch an ihm vorbei. Im Krankenhaus, wo ich ihn besuche, bekommt er Infusionen, bei den Untersuchungen bestätigt sich jedoch, was er selbst behauptet hat: Herr Halimi ist gesund, meinen die Ärzte, es fehlt ihm nichts. Doch, widerspricht Dr. Idaulambo, was Herrn Halimi fehlt, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, ist der Lebenswille.
Am Tag von Gjergis Rückkehr aus dem Krankenhaus hat Mira Dienst. Draußen stürmt und schneit es, drinnen scheint die Sonne, doch nicht etwa Miras wegen, denn meine Gefühle für sie sind schon lange, sehr lange schon erkaltet, nein, es ist natürlich Isabel, deren Anwesenheit mir Herz und Seele wärmt. Führ mich ein in die Mysterien der Mathematik, du Neunmaldreimalkluge, meine Begierde nach Wissen kennt keine Grenzen, Tochter der eulenäugigen Göttin, du! Wir durchmessen Kreise, umfangen Ellipsen, wir werfen einander Zahlen zu, hin und her und her und hin, wir jonglieren damit, während wir auf dem Trapez hoch droben im Zirkus der zauberlichen Zahlen schaukeln. Von Zeit zu Zeit stelle ich artige Fragen, heuchle Unwissenheit, um den Schein zu wahren, dass ich der Nachhilfe bedürfe, wo mein Begehr doch einzig und allein und ausschließlich und nichts als die Liebe ist.
Ich habe gelernt, Amals Anwesenheit bei diesen sogenannten Nachhilfestunden völlig zu ignorieren. Von außen betrachtet sind wir zu dritt, in Wahrheit kann jedoch nichts und niemand unsere traute Zweisamkeit stören. Wir sitzen in der Küche, weil die anderen Kursräume besetzt sind, Und wie berechnet man den Umfang des Kreises, fragt Isabel gerade. Ich setze zu einer Antwort an, die Zahl π mit den ersten Hundert Kommastellen liegt auf meiner Zunge bereit, plötzlich kommt ein Mann herein und fragt nach Mira. Unwillig blicke ich auf. Ich habe den Mann noch nie gesehen, wenn er unten wohnt, dann muss er neu im Haus sein. Ich will ihn möglichst rasch wieder loswerden, um mich ungehindert meiner Rechenkönigin widmen zu können. Ist sie nicht im Büro, frage ich kühl, doch er blickt nur fragend zurück. Irgendetwas in seinem harten, zugleich aber verlorenen Blick, etwas in seinem gebrochenen, südslawisch gefärbten Deutsch lässt mich aufschauen, aufhorchen, schließlich aufstehen. Ich gehe mit ihm hinüber zum Büro, klopfe an und öffne die Tür. Mira steht gerade an der Kaffeemaschine, ganz kurz und schwarz und ohne Zucker, so pflegt Frau Obranović ihren Espresso zu trinken, manchmal aber, wenn die Zeit es zulässt, bereitet sie türkischen Kaffee zu und schlürft dann nachdenklich das Sarajevo vergangener Tage in sich hinein, den Zerstücklern und Zerstörern ihrer Heimat zum Trotz. Mira, sage ich, der Mann hier will zu dir. Sie blickt auf, und von da an passiert alles in Zeitlupe. Ihre Augen weiten sich, die Kaffeetasse entgleitet ihren Händen, der Kaffee zeichnet braune Schlieren in die Luft, die Tasse dreht sich, schlägt auf dem Boden auf und zerbricht in mehrere Teile, die Kaffeeschlieren ergießen sich über Miras Hose. Mladko, sagt sie tonlos, Mladko, dann geht sie ganz langsam auf ihn zu, auch er macht zwei oder drei Schritte vorwärts, sie stehen einander gegenüber, Mira legt zuerst die Hand auf seine Schulter, als wollte sie sich vergewissern, dass es sich nicht um eine Erscheinung, eine Halluzination handelt, dann, zögerlich, vorsichtig, mit steifen Bewegungen, umarmen sie einander.
Trotz großer Versuchung lasse ich sie allein in ihrer Umarmung, der Anstand gebietet Abstand, ich schließe die Tür hinter mir. Eine halbe Stunde bleibt sie geschlossen, dann treten die beiden heraus, Mira mit geröteten Augen, Mladko mit verschlossenem Gesichtsausdruck, beim Mittagessen, das sie gemeinsam mit uns einnehmen, wechseln sie kaum ein Wort miteinander. Mladko verabschiedet sich, kommt allerdings ein paar Stunden später mit einer Reisetasche wieder. Miras Mann ist zurück, tönt es bald in verschiedenen Sprachen durchs Haus, Miras Mann ist wieder da, weiß schon nach kürzester Zeit jeder, der es wissen will, Hast du schon von Miras Mann gehört, werden aber auch jene gefragt, die weder Mira noch ihre Geschichte kennen.
Mladko Obranović, hinabgestiegen in das Reich des Todes, im zwölften Jahre auferstanden von den Toten, kehrt er nun zurück, um zu richten die Lebenden und die Toten? Ich folge ihm und Mira, als sie abends gemeinsam das Haus verlassen und Miras Wohnung ansteuern. Mira hat sich, so erwähnte sie einmal Lukas gegenüber, nie dazu überwinden können, Mladko für tot erklären zu lassen, offiziell sind sie also immer noch Mann und Frau. Die Frau sperrt auf, der Mann tritt hinter ihr ins Vorzimmer, stellt die Tasche ab, zieht die Schuhe aus, dann folgt er Mira ins Wohnzimmer, blickt sich verunsichert um. Auch Mira ist unsicher, sie sind einander vertraut und doch fremd, sind Mann und Frau und gleichzeitig irgendein Mann, irgendeine Frau, und auch die Wohnung, seit Jahren gewohnte Umgebung für Mira und ihre Tochter, erscheint ihr, wie ich deutlich bemerke, mit einem Mal in fremdem Licht.
Möchtest du etwas trinken, behilft sich Mira mit unverfänglichen Gastgeberfragen. Mladko verneint. Willst du duschen? Er nickt, sie zeigt ihm das Badezimmer. Es ist winzig, sagt sie entschuldigend und reicht ihm ein Handtuch. Ich mache währenddessen etwas zu essen, ich habe von gestern noch Djuveč, das ist … das war … das ist doch eine deiner Lieblingsspeisen, oder? Mladko nickt. Als hätte ich gewusst, dass du kommst, sagt sie mit verlegenem Lächeln. Später sind beide in der Küche, Mira sucht und findet eine Flasche Plavac, sie öffnet sie mit ungeübten Bewegungen. Ich trinke nicht oft zu Hause, sagt sie. Die beiden setzen sich an den Küchentisch, prosten einander zu, Mladko lobt Essen und Wein, wie es jeder höfliche Gast tun würde. Familie und Freunde sind das Gesprächsthema. Dein Vater lebt noch, sagtest du? Mladko nickt. Aber es geht ihm ziemlich schlecht, er hatte vor zwei Jahren einen Schlaganfall, von dem hat er sich nicht wirklich erholt. Und deine Eltern, will er wissen, und Mira berichtet. Manchen gemeinsamen Bekannten geht es gut, einige sind ums Leben gekommen, andere verschollen, die meisten leben nicht mehr in der Heimat, die Jahrhundertflut des Krieges, sie hat sie entwurzelt, fortgerissen und als Strandgut an fremde Gestade gespült. Als das Thema erschöpft ist, hört man eine Weile nur das Klappern des Bestecks und das Ticken der Uhr über dem Küchentisch, und jeder kaut schweigend an seinen eigenen Gedanken.
Du hast eine Tochter, fragt Mladko dann. Mira nickt. Sie ist übers Wochenende bei einer Freundin. Ist sie das? Er deutet auf ein Foto an der Wand hinter Mira. Sie nickt, ohne sich umzuwenden. Sie heißt Alenka. Alenka … Mladko probiert den Namen, wie man einen Schluck Wein probiert. Und wie alt ist sie? Sie ist vor Kurzem elf geworden. Wann? Im Oktober. Mladko scheint in Gedanken nachzurechnen. Am wievielten, möchte er wissen. In Miras Gesichtsausdruck schleicht sich etwas Abwehrendes. Am vierzehnten, gibt sie kühl zu Protokoll. Was willst du eigentlich von mir, bricht es plötzlich ungewöhnlich heftig aus ihr hervor, du hast dich mehr als elf Jahre um nichts, um gar nichts gekümmert, es war dir egal, ob ich lebe oder nicht, es war dir egal, ob es mir gut geht oder nicht – und jetzt kommst du und fängst plötzlich an, Fragen zu stellen? Mladko wirkt bestürzt über ihren Ausbruch. Ich … ich … wollte dich sehen, stammelt er, ich musste dich sehen. Mira schweigt. Freust du dich nicht, fragt Mladko. Natürlich freu’ ich mich, ich freu’ mich unglaublich, dass du lebst! Aber warum hast du mich so lange im Glauben gelassen, du wärst tot? Ich … ich konnte nicht. Konnte nicht was? Ich konnte nicht zurückkommen, das hab’ ich dir doch heute schon gesagt. Er senkt den Blick. Es war Krieg, ich bin desertiert, ich musste mich verstecken. Mladko, der Krieg, von dem du sprichst, ist seit mehr als zehn Jahren vorbei. Mladko schüttelt den Kopf. Nicht für mich, für mich war der Krieg nicht vorbei. Und jetzt, jetzt ist er vorbei? Mladko blickt zu Boden. Ich weiß es nicht, sagt er leise. Mira stellt das Weinglas ab und richtet sich auf. Mladko, sagt sie, und sie klingt dabei sehr müde, dieser Krieg war schrecklich für uns alle, aber irgendwann muss jeder sich … muss jeder wieder in den Alltag zurückkehren, wieder zu leben beginnen. Auch Mladko stellt sein Glas ab, dann stützt er die Ellbogen auf den Tisch und lässt den Kopf in die Hände sinken. Ich habe Dinge erlebt, murmelt er, Dinge, nach denen es keinen Alltag mehr gibt. Möchtest du darüber reden, über diese … Dinge? Mladko schüttelt den Kopf, ohne aufzublicken.
Wo hast du gelebt, fragt Mira dann. Ach, hier und dort, bleibt Mladko vage, ich bin nirgendwo lange geblieben. Und warum hast du nicht wenigstens angerufen? Oder geschrieben? Ich wollte, beteuert er, ich hab’ es mir immer wieder vorgenommen, ich hab’ auch ein paar Briefe begonnen. Aber es … es ging einfach nicht. Was ging nicht?
Statt zu antworten, steht Mladko auf und geht um den Tisch und um Mira herum zu Alenkas Foto. Sie sieht mir nicht ähnlich, stellt er fest, nachdem er das Bild eingehend betrachtet hat. Mira dreht sich halb zu Mladko um und atmet tief durch, bevor sie antwortet. Die Mundpartie schon, sagt sie. Wenn du Alenka siehst, wirst du es bemerken. Gab es einen anderen Mann, fragt Mladko plötzlich. Du … du hast kein Recht, solche Fragen zu stellen, antwortet Mira scharf. Gab es einen anderen Mann, beharrt Mladko auf seiner Frage. Deshalb bist du also nach Österreich gekommen? Um mir nach elf Jahren diese Frage zu stellen? Während Mladko wieder auf die andere Seite des Tisches zurückkehrt, sinkt Mira plötzlich in sich zusammen und beginnt zu schluchzen. Ich weiß es nicht, sagt sie, ich weiß es einfach nicht. Was heißt, du weißt es nicht? Heißt das, es gab einen anderen Mann, und du weißt nicht, ob das Kind von ihm oder von mir ist? Mira nickt langsam, und dieses Ja scheint Mladko mitten ins Herz zu treffen. Wer … wer …, setzt er an, doch dann hält er inne. Mira, meine Mira, beschwört er die Vergangenheit, wir haben uns doch so geliebt! Mira schluchzt auf. Mladko nimmt seinen Stuhl und stellt ihn neben den ihren, fasst sie an der Schulter, nimmt ihre Hand, und sie lässt es mit sich geschehen.
Ich bin immer und überall, wo es nottut, doch nicht einmal ich kann alle Menschen in diesem Haus Tag und Nacht im Auge behalten. Das wäre auch nicht wirklich sinnvoll, viel wichtiger ist es, zu wissen, wann, wo und von wem man gerade gebraucht wird. Es gibt jedoch Zeiten, da hat es die Gegenwart besonders eilig, zur Vergangenheit zu werden, und da kann es selbst mir passieren, dass ich nicht rechtzeitig am Ort des Geschehens eintreffe, dass ich nicht alle wichtigen Vorkommnisse mit eigenen Augen und Ohren erfasse.
Ich bin am nächsten Nachmittag zur Stelle, als Mladko einen Entschuldigungsversuch unternimmt. Er habe bis heute gebraucht, um alles im Krieg Erlebte zu verarbeiten, sagt er, sie sollten es noch einmal miteinander versuchen, darauf läuft die Entschuldigung hinaus, er mache einen Vaterschaftstest, erbietet sich der Möchtegernvater, aber es sei ihm egal, von wem das Kind ist. Mira schweigt. Vielleicht will sie die Wahrheit gar nicht wissen, vielleicht zweifelt sie daran, dass Mladko die Vergangenheit tatsächlich hinter sich gelassen hat. Wir haben uns doch so geliebt, beschwört Mladko erneut glücklichere Zeiten, doch diesmal ist Mira nicht bereit, mitzutanzen auf dem glatten Parkett der Erinnerungen. Ja, aber es war nicht der Krieg, der uns auseinandergebracht hat, kontert sie. Sondern? War es der andere Mann? Hör’ auf, warnt Mira, doch Mladko hört nicht auf. Nein, du warst es, bricht der Zorn wieder aus ihr hervor, du warst es, der sich schon lange vor dem Krieg aus unserer Beziehung zurückgezogen hat wie in ein Schneckenhaus!
Ich bin zur Stelle, als Lukas, der ein paar Tage aus beruflichen Gründen in Deutschland unterwegs war, vom Auftauchen des Totgeglaubten erfährt. Jahrelang hab’ ich mich selbst belogen und den Zerfall Jugoslawiens und den Krieg für das Ende unserer Beziehung verantwortlich gemacht, gesteht Mira ihm, aber das war eine bequeme Ausrede, es stimmte einfach nicht. Die große Liebe, die gab es in den ersten Jahren, ja, aber die Ernüchterung, die kam schon vor dem Krieg, und wir selbst und nicht die politische Situation waren dran schuld. Immer öfter hatte ich das Gefühl, da liegt ein Fremder in meinem Bett, immer mehr baute er eine Mauer um sich herum, da ging nichts hinein, und nichts kam heraus. Wahrscheinlich waren wir zu jung, als wir geheiratet haben, wahrscheinlich haben wir zu wenig voneinander gewusst. Und vielleicht war es auch … Mira bricht ab. Lukas wartet, ich warte. Wir wollten Kinder, sagt Mira schließlich leise, aber es hat irgendwie nicht geklappt. Einmal, ganz am Anfang unserer Ehe, hatte ich eine … Aborta … wie sagt man das? Eine Fehlgeburt. Genau, eine Fehlgeburt, danach kam gar nichts mehr. Ich weiß nicht, an wem oder woran es lag, wir haben uns nicht untersuchen lassen, wir haben gehofft, dass es eines Tages doch noch klappen würde. Und dann kam der Krieg. Als Mladko zur Armee musste, war das ein Schock. Krieg, das war immer etwas weit Entferntes, völlig Unvorstellbares gewesen, und nun waren wir selber mittendrin. In den ersten Monaten hab’ ich Mladko trotz der Probleme, die wir vorher hatten, fürchterlich vermisst, wir waren ja seit unserem sechzehnten Lebensjahr praktisch Tag und Nacht zusammen gewesen. Bald bin ich aber draufgekommen, dass es mir eigentlich besser ging, dass ich mehr ich selber sein konnte, zum ersten Mal in meinem Leben. Das war ein tolles Gefühl, aber gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen, es war … wie ein Verrat an Mladko. In den paar Tagen Urlaub, die er bekam, war er unnahbar, er wollte nichts erzählen. Du willst es gar nicht wissen, sagte er, so schlimm ist es. Normale, alltägliche Dinge erschienen ihm plötzlich völlig unwichtig, auch über die konnte und wollte er nicht sprechen. Wenn ich irgendetwas erzählte, hörte er mir nicht wirklich zu, und so saßen wir meistens schweigend beisammen. Und wenn er wieder weg war, kehrte die Angst zurück. Als ich dann später die Möglichkeit hatte, nach Österreich zu gehen, hatte ich trotz allem das Gefühl, ihn im Stich zu lassen.
Lukas schweigt eine Weile. Aber du konntest ja nicht wissen, dass er noch am Leben ist, versucht er ihre Schuldgefühle zu vertreiben, er hätte sich ja melden müssen. Mira gibt keine Antwort. Warum hast du eigentlich Mladkos Nachnamen behalten, will Lukas wissen. Mira nimmt sich Zeit für die Antwort. Ich habe … wie sagt man das … den Kopf in den Sand gehalten? Gesteckt, korrigiert der Lehrer. In den Sand gesteckt, ja, ich wollte nichts mit Ämtern, mit Behörden zu tun haben, ich habe so getan, als wäre Mladko noch am Leben. Und das hat funktioniert? Durch das Chaos nach dem Krieg und dem Zerfall Jugoslawiens hat es funktioniert, ja. Und irgendwie … irgendwie war es vielleicht auch kindlicher Aberglaube – solange ich den Namen behalte, solange bleibt Mladko am Leben. Scheint jedenfalls funktioniert zu haben, wirft Lukas nicht ohne Sarkasmus ein. Und wie war das mit …, setzt er zu einer weiteren Frage an, doch dann bricht er ab. Wie war was? Nichts, blockt er ab, und ein wenig Trotz schwingt in seiner Stimme mit.
Leider bin ich nicht dabei, als Mladko Alenka kennenlernt, doch als ich die beiden zusammen sehe, hält sie sich auf große Distanz, antwortet einsilbig auf seine Fragen, weicht instinktiv aus, als er ihr über den Kopf streichen will, auch aus ein paar Metern Entfernung kann ich die Enttäuschung, die Kränkung in seinen Augen erkennen.
Ich bin auch nicht dabei, als Mira und Alenka zum ersten Mal über Mladko sprechen, ich weiß nicht, was Alenka weiß und was nicht. Ist er jetzt mein Vater oder nicht, fragt sie jedenfalls kurz vor Weihnachten. Sie sitzt zu Hause am Küchentisch, Mira steht am Herd und rührt mit konzentrierten Bewegungen in einer Pfanne. Sie sind allein in der Wohnung, Mladko ist unterwegs, um einen Freund zu besuchen. Ich weiß es nicht mit Sicherheit, antwortet Mira auf Serbokroatisch, ohne ihre Tochter anzusehen. Da kann man doch heute Tests machen, oder, schaltet auch die Tochter auf die Muttersprache um. Ach, kann man das? Du hast mich belogen, schreit Alenka plötzlich, du hast immer so getan, als wäre Mladko mein Vater, jetzt, wo er da ist, bist du auf einmal nicht mehr sicher. Ich hab’ dir doch gesagt, es gibt zwei Möglichkeiten, sagt Mira leise. Bist du sicher, dass es nur zwei sind und nicht fünf oder zehn? Ich halte den Atem an. Schon lässt Mira den Kochlöffel sinken, und bevor sie noch denken kann, dreht sie sich um, legt rasch die zwei oder drei Schritte zwischen Herd und Küchentisch zurück und verpasst ihrer Tochter eine Ohrfeige. Es dauert ein paar Sekunden, bevor Alenka erfasst, was geschehen ist, noch nie wurde sie von ihrer Mutter geschlagen, ihre großen Augen füllen sich mit Tränen, sie steht auf, geht aus der Küche, und man hört, wie sich die Badezimmertür öffnet und lautstark wieder schließt. Mira macht ein paar Schritte, um Alenka zu folgen, doch dann lässt sie sich auf einen Stuhl in der Küche sinken, und nun sind es ihre Wangen, die von Tränen benetzt werden. Als sie ein paar Minuten später vor der Tür zum Badezimmer steht und Alenka zum Öffnen auffordert, schreit es ihr nur entgegen: Lass’ mich in Ruhe, ich hasse dich! Mira entschuldigt sich für die Ohrfeige. Das wollte ich nicht, ich wollte dir nicht wehtun. Hast du aber, tönt es hasserfüllt zurück. Wer ist der andere, lässt Alenka nicht locker, und wo ist er, fragt sie, plötzlich wieder ins Deutsche verfallend. Ich möchte ihn sehen, ich hab’ genug von … von Geistervätern! Mira lehnt an der Tür, als brauchte sie eine Stütze. Ich weiß nicht, ob er … wo er heute lebt, sagt sie schwach. Na wunderbar, das ist das Gleiche, was ich schon seit Jahren höre: Ich weiß nicht, wo dein Vater ist, äfft Alenka ihre Mutter nach. Alenka, sagt Mira flehentlich, nun ebenfalls auf Deutsch, kannst du dir nicht vorstellen, dass es für mich … dass das auch für mich furchtbar schwer ist? Doch Alenka will keine Versöhnung, jedenfalls noch nicht. Wenn du damals besser aufgepasst hättest, schreit sie, dann wär’s heute nicht so schwer für dich! Mira gibt weinend auf, geht zurück in die Küche, wo mittlerweile die Sauce angebrannt ist.