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Am nächsten Tag, es ist Samstag, Sabbat, Tag des Saturn, überstürzen sich die Ereignisse, und jeder braucht mich, denn alles will berichtet und bezeugt sein: Gjergi stirbt, Mira macht Schluss mit Lukas, und Murads Mutter und Schwester kommen in Österreich an.

Beim Mittagessen kommt Haluk in die Küche. Murad, Telefon für dich, sagt er. Murad folgt ihm und seiner Rasierwasserwolke ins Büro, ein paar Minuten später kehrt er freudestrahlend zurück: Seiner Mutter und seiner Schwester, den einzigen Familienmitgliedern, die der unselige Krieg verschont hat, ist es tatsächlich gelungen, Tschetschenien zu verlassen, sie sind heil am Schwechater Flughafen angekommen. Man gratuliert ihm, man freut sich mit ihm, und doch fühle ich bei einigen wieder den Neid: Die Lippen, sie öffnen sich zwar zu einem Lächeln, doch die Augen tragen Halbtrauer, weil es fremdes und nicht eigenes Glück ist, das sie schauen.

Mira betritt die Küche, holt sich eine Portion Rindfleisch mit Spinat und setzt sich zu uns. Sie sieht müde aus, sie sieht blass aus, mir scheint, sie hat auch ein wenig abgenommen in letzter Zeit. Haluk kommt kurz danach und setzt sich neben Mira. Hast du schon gehört, fragt er leise, Gjergi ist gestorben, Gjergi Halimi. Mira lässt Gabel und Messer sinken, hört zu kauen auf, plötzlich rinnen Tränen über ihre Wangen. Haluk reagiert bestürzt. Ich hab’ nicht gewusst, dass … hast du ihn gut gekannt? Es ist nichts, sagt Mira und wischt sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen, ich hab’ ihn genauso gut oder schlecht gekannt wie die meisten anderen im Haus. Es ist nur … irgendwie ist momentan einfach alles Scheiße. Das sagt man nicht, hast du gesagt, kräht Djamila, die nur das letzte Wort, nicht aber den Rest der Konversation vernommen hat. Mira zwingt sich ein Lächeln ab. Du hast recht. Haluk mustert sie von der Seite, wahrscheinlich ist auch ihm schon aufgefallen, dass sie müde aussieht, wahrscheinlich würde er gerne fragen, was denn alles Scheiße sei, doch nun, da durch Djamila Aufmerksamkeit auf ihre Unterhaltung gelenkt wurde, lässt er die Sache auf sich beruhen. Mira steht bald auf, trägt brav ihren Teller zum Geschirrspüler und verlässt die Küche.

Gjergi ist also tot, Gjergi hat endlich Schlaf gefunden. Zwei Krankenhausaufenthalte haben seinen Zustand nicht verbessert, zwar kann man heutzutage Herzen, Nieren und andere Organe ver- und ersetzen, nicht aber den fehlenden Lebenswillen. Soll man sich für ihn freuen? Ich weiß es nicht. Schon in den letzten Monaten hat er ja sein Bett, geschweige denn das Zimmer, kaum verlassen, und wenn man ihn zu Gesicht bekam, dann wirkte er noch grauer, noch dünner, noch gebrechlicher als sonst. Mein lieber Gjergi, ich hoffe, du findest nun tatsächlich Erlösung im Schlaf und kommst nicht auf die Idee, als Geist zurückzukehren und tagtäglich und nachtnächtlich das Haus zu durchstreifen …

Mira sitzt am Computer, als Lukas am Abend desselbigen Sabbats nach getaner Arbeit im Büro auftaucht. Hallo, schönste aller Miras, grüßt er und haucht einen zärtlichen Kuss auf ihren schlanken Nacken. Ich muss mit dir reden, sagt Frau Obranović ernst, während sie sich halb zu ihm umdreht. Okay, reden wir, sagt der Lehrer, und die Zärtlichkeit ist ihm plötzlich aus dem Gesicht gerutscht. Mira erblickt mich auf dem Gang vor dem Büro. Gehen wir hinüber ins Betreuerzimmer, sagt sie, und Lukas trottelt brav hinterdrein wie ein Hund, der gerade Prügel kassiert hat.

Ich folge den beiden, und so, wie ich unfreiwillig die Anfänge ihrer Beziehung beobachten musste, bin ich nun, nach einem knappen Jahr, Zeuge von deren Ende. Ich kann nicht mehr, bricht es nach ein paar Sekunden angespannten Schweigens aus Mira hervor, und sie beginnt laut zu schluchzen. Was kannst du nicht mehr, fragt der Lehrer leise, er schöpft wohl kurz Hoffnung, dass vielleicht doch nicht ihre Beziehung, sondern irgendein ganz anderes Problem der Grund für Miras Kummer sein könnte. Unsere Beziehung … ich … ich kann nicht mehr, stammelt Mira und zerstört des Lehrers letzte Hoffnung. Ich bin momentan einfach nicht fähig zu einer Beziehung. Die Geschichte mit Mladko hat mich ziemlich eingenommen, weißt du, viel mehr, als ich dachte. Mitgenommen, korrigiert der unverbesserliche Besserwisser. Siehst du, sagt die Schülerin, ich kann nicht einmal mehr Deutsch. Immer noch besser als ich Serbokroatisch, meint der Lehrer, und Mira und ich geben ihm recht. Es sind so viele Probleme aus der Vergangenheit wieder aufgetaucht, fährt sie fort, so viele ungelöste Konflikte, ich brauche Zeit, um mit diesen Dingen zurechtzukommen, um … Sie bricht ab. Vielleicht kann ich dich irgendwie unterstützen, vielleicht kann ich dir dabei helfen, Klarheit zu erlangen, bietet Lukas an. Ich weiß nicht, sagt Mira und schnäuzt sich geräuschvoll. Alenka braucht mich auch, ihr geht es momentan gar nicht gut, und mir geht es nicht gut mit ihr. Und was ist mit Mladko? Was soll mit ihm sein? Gehst du zu ihm zurück? Mira lässt ein verächtliches Schnauben hören. Du weißt, dass ich das nicht tue. Ich weiß gar nichts von dir, sagt Lukas resignierend, und auch in diesem Punkt muss ich ihm recht geben. Mladko ist irgendwo in Bosnien, er hat letzte Woche angerufen, das weißt du, und ich bin hier und habe nicht vor wegzugehen.

Die beiden fahren noch eine Weile fort, miteinander zu reden, auch wenn sie einander nichts mehr zu sagen haben. Ich gebe zu, ich bin nicht ganz frei von Schadenfreude, doch ich empfinde auch Mitleid mit Lukas dem Geknickten, als er schließlich davonschleicht aus dem Betreuerzimmer und aus Miras Leben, in dem es keinen Platz mehr für ihn gibt.

Bei Gjergis Begräbnis lerne ich Egzon Bokshi kennen. Egzon war mit Gjergi befreundet, auch er stammt aus dem Kosovo, er musste das Land verlassen, weil er als Journalist zu viele Wahrheiten verbreitet hatte, die keiner hören wollte. Als wir nach der kurzen Zeremonie über den kalten Friedhof zur Straßenbahn spazieren, zeigt er mir eine Liste mit den Namen von ungefähr dreißig Menschen, deren Leichen man in einem Massengrab gefunden und vor Kurzem identifiziert hat. Da, sagt er und deutet auf zwei Namen, Fatmire und Afërdita Halimi, das sind Gjergis Frau und Tochter. Gestern habe ich die Liste bekommen, gestern, vier Tage zu spät für Gjergi!

Zuerst stimme ich in seinen Klagegesang mit ein, aber je mehr ich in den folgenden Tagen darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass es keinen Grund zur Klage gibt: Gjergi hat davon gewusst, finde ich schließlich Trost für Egzon und mich selbst, er hat irgendwie gespürt, dass man die sterblichen Überreste seiner Frau und seiner Tochter endlich gefunden und identifiziert hat, dass man sie nun in Würde beisetzen wird, und deshalb hat auch er selbst Ruhe und Frieden gefunden. Vielleicht hast du recht, sagt Egzon und wirkt nicht mehr ganz so traurig.

Was Gjergi aber wahrscheinlich nicht wusste: dass am Tag nach seinem Begräbnis ein positiver Asylbescheid an ihn ergehen würde. Jetzt, da er in österreichischer Erde zur Ruhe gekommen ist, hat er die Erlaubnis, auf österreichischem Boden zu bleiben. Ein Happy End! Fast könnte man meinen, es stecke Absicht dahinter, vielleicht gibt es ja auch tatsächlich eine neue ministerielle Weisung: Ab sofort ist nur noch Toten Asylstatus zu gewähren, gezeichnet die Abschiebeministerin. Auf österreichischem Boden, so höre ich die Ministerin mit staatstragender Stimme sprechen, da ist das Boot leider schon voll, aber unter der Erde ist noch viel Platz, da machen wir den Asylwerbern ein großzügiges Angebot, und ich höre sie grölen, die Burschenschaftsschlägertruppen auf ihren Buden, Der Zentralfriedhof ist lustig, der Zentralfriedhof ist schön, denn da kann man Asylanten nun in Massengräbern seh’n, und die Schmisse, sie fliegen kreuz und quer und glatt und verkehrt.

Doch die Trauer über die Toten darf uns nicht den Blick auf die Lebenden verstellen. Djaafar ist zum Glück noch höchst lebendig, auch hat er sich keineswegs die gute Laune verderben lassen von der Tatsache, dass er nun als Illegaler leben muss. Wäre er nicht stumm, würde er bestimmt ein fröhliches Liedchen anstimmen, Ich bin schwerstens illegal und lebe jetzt in Lichtental, dort hat ihm nämlich ein guter Freund Platz gemacht, sie leben zu viert in einer feuchtfinsteren Ein-Zimmer-Wohnung, wenn auch Djaafar meist nur die Nächte dort verbringt. Tagsüber wohnt er in einem großen, blau gestrichenen Haus am Stadtrand mit vielen, vielen Zimmern, dort treffe ich ihn auch. Wo möchtest du sitzen, fragt er mich per Notizblock, in der Küche, im Wohnzimmer, im Esszimmer, im Arbeitszimmer? Wohnzimmer, sage ich. Dann drückt er mir eine Werbebroschüre in die Hand. Wie hast du’s lieber, ist darauf zu lesen: Ländlich-rustikal? Zeitlos-modern? Oder jugendlich-alternativ? Ich entscheide mich für zeitlos-modern, und Djaafar geleitet mich zielsicher zum passenden Wohnzimmer. Das Sofa, auf das ich mich setze, heißt Björn, Gestatten, Ali, stelle ich mich vor, bevor ich Björn meine Arschbacken ins Gesicht drücke, der Tisch, eine gläserne Schönheit, trägt den Namen Silja, ich deute eine Verbeugung an, und auch die Regale und Schränke ringsum und der Teppich unter unseren Füßen und die Lampe, die uns Erleuchtung spendet, wollen begrüßt sein, bevor ich mich Djaafar zuwenden kann.

Djaafar geht es gut, bis auf die Tatsache, dass er kein Geld, kein Essen und keine Zukunft in Österreich hat. Das macht nichts, schreibt er, das wird sich schon irgendwie lösen. Ich teile seinen Optimismus nicht ganz und versuche ihn zu überreden, die Flucht nach Belgien nicht auf die lange Bettbank zu schieben. Es gefällt mir hier, schreibt er und deutet mit dem Arm in die Wohnlandschaft ringsum. Aber wie lange geht das noch gut? Einen Monat? Zwei Monate? Djaafar zuckt mit den Schultern. Djaafar, versuche ich ihn aufzurütteln, wir haben dich nicht befreit, damit du gleich wieder in Schubhaft landest. Er schickt mir einen eigenartigen Blick wie damals im Krankenhaus, und wieder gibt es kein Wort des Dankes. Ich bin vorsichtig, versucht er mich zu beruhigen. Vorsichtig? Findest du es vorsichtig, dich den ganzen Tag hier aufzuhalten? Keine Angst, schreibt Djaafar, die sind sehr nett, ich bin fast jeden Tag hier. Ich gebe auf.

Wir wechseln ins Esszimmer, diesmal ist der Stil ländlich-rustikal, ich habe natürlich Essen für Djaafar mitgebracht, wir holen Teller und Besteck aus der Küche und lassen es uns schmecken. Ich spreche weiter auf ihn ein, versuche Überzeugungsarbeit zu leisten. In Belgien hast du selbst als Illegaler bessere Chancen, sage ich, dein Onkel lebt dort, die Gesetze sind nicht ganz so streng wie in Österreich, es ist alles immer noch besser als hier, doch Djaafar hört mir nicht wirklich zu. Jetzt brauche ich ein Mittagsschläfchen, unterbricht er schriftlich meine Bemühungen und führt mich ins hinterste Schlafzimmer. Ein wenig widerwillig lasse ich mich auf ein frisch gemachtes Bett sinken, Anja ist der Name der Matratze, die mich seufzend aufnimmt, Mareike heißt die Decke, die mich verführerisch umgarnt, und an Silkes samtigen Seidenpolsterbusen schmiege ich sodann mein nachmittagsschweres Lockenhaupt.

Zwar kehre ich unverrichteter Dinge ins Leo zurück, doch bleibe ich nicht untätig. Die Schonzeit ist vorbei, es gibt zu viel zu tun, als dass man die Hände in den Schoß legen könnte. Djaafar braucht uns, berichte ich meinen Genossinnen und Genossen, und diesmal hören sie auf mich. Bei einer Zusammenkunft im Fußballzimmer erklären sich alle bereit, einen Teil ihres gerade erhaltenen Taschengeldes abzugeben, jeder verspricht, dies auch in den kommenden Monaten zu tun. Gemeinsam beschließen wir, aus den im Haus vorhandenen Essensvorräten jede Woche einiges für Djaafar abzuzweigen und ihm bei Bedarf Kleidung aus dem hiesigen Fundus zukommen zu lassen. Ich nutze die Gelegenheit unserer Zusammenkunft und den neuen Elan, um zu neuen Aktionen aufzurufen. Wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen weitermachen, nicht nur Djaafar braucht uns. Wer braucht uns noch, fragt Tomo auf Serbokroatisch, Wer braucht uns schon, will Nino zur gleichen Zeit auf Georgisch wissen, und ich habe meine Genossinnen und Genossen genau da, wo ich sie haben will. Ich brauche euch, ihr braucht mich, wir alle brauchen einander, versteht ihr denn nicht? Ich schlage eine neue Aktion vor. Denkt darüber nach, sage ich, schlaft darüber, wer dabei sein will, soll morgen um die gleiche Zeit hier sein.

Hätte ich darauf gewettet, wer sich am nächsten Tag als Erster im Fußballzimmer einfinden würde, ich hätte die Wette mit Sicherheit verloren: Es ist Kamal das Kamel, und er ist nicht nur der Erste, sondern der Einzige! Du hast recht, sagt er, wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen kämpfen. Ich umarme ihn, Kamal, Bruder, du treue Seele du! Fünf Minuten später öffnet sich die Tür, Tomo tritt ein wenig zögernd ein. Kurze Zeit danach erscheint Nino, und nach und nach kommen weitere fünf Kampfgenossen dazu. Wir sind neun an der Zahl und zum Kampf gegen das Böse bereit, the fellowship is complete, und Mordor mit all seinen Handlangern im Ministerium für innermittelirdische Angelegenheiten erzittert, denn wir haben den Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.

Die Aktion führt uns wieder in das große Haus mit den vielen Zimmern am Stadtrand, wo wir das Sortiment um einige schöne neue Produkte bereichern. Provokation ist unser Begehr, Aufmerksamkeit unser Verlangen, wir setzen auf Aktion statt Reaktion, Ermächtigung statt Ohnmacht, unsere Taktik ist die der Guerilleros, ein Nadelstich hie und einer da, und dazwischen sind wir unauffindbar.

Wir haben kleine Plakate gebastelt, Logo und Schriftart sind die des Möbelhauses, wir postieren uns damit in den verschiedenen Abteilungen des Gebäudes. Hallo, ich bin dein neuer Geschirrspüler, ich heiße Sven, steht beispielsweise auf Tomos Plakat, und man findet Sven natürlich in der Küchenabteilung. Ich bin vierundzwanzig Stunden für dich und dein Geschirr da und gehorche dir auf Knopfdruck. Ich mag es gerne schmutzig und liebe es, die Essensreste aus deinen Töpfen und das Fett von deinen Tellern zu lecken. Hallo, ich heiße Myra, ich bin dein neuer Komfortsessel, verkündet Ninos Plakat, setz dich, entspann’ dich und lass’ dich von meinen weichen Armen umfangen. Du kannst mich in die verschiedensten Stellungen bringen, und ich bin sicher, du wirst jede einzelne davon bis in die letzte Faser deines Körpers genießen. Ich heiße Nils, so lautet die Aufschrift auf meinem Plakat, ich bin dein neuer Kleiderständer. Ich bin ganz aus Ebenholz gemacht und stehe sehr auf deine Jacken und Mäntel. Ich komme aus Afrika, deshalb bin ich so billig und so willig. Kamal wiederum gibt es als kostenlose Draufgabe zu einem hübschen Gabbeh-Teppich: Wenn du diesen Teppich kaufst, bekommst du mich gratis dazu, und ich mache alles, aber auch wirklich alles für dich. Meine Schwestern haben diesen Gabbeh geknüpft, sie haben sehr wenig Geld dafür bekommen und wurden geschlagen, wenn sie nicht schnell genug waren. Das ist vielleicht hart, aber dafür ist der Teppich umso weicher – fühl mal, wie flauschig er ist!

Die Reaktionen lassen nicht lange auf sich warten. Ratlose, irritierte, erboste Kunden wenden sich an die Info-Tische in den jeweiligen Abteilungen. Wovon sprechen Sie, Wie bitte, Wollen Sie sich über mich lustig machen, so lauten die ebenso ratlosen, irritierten und erbosten Reaktionen der Angestellten. Natürlich haben wir uns jeweils so positioniert, dass uns Letztere nicht sehen können, und wenn sie dann gemeinsam mit den Kunden Ausschau nach uns halten, sind wir längst fort. Natürlich gibt es auch Kunden, die sich für die neuen Produkte interessieren. Die meisten Anfragen gibt es zu Ninos Komfortsessel mit dem großzügigen Stellungsangebot, doch auch Tomo, der lebende Geschirrspüler, findet großen Anklang. Ich selbst wäre fast von einer üppigen, mit reichlich Schminke und Parfüm behafteten Matrone davongeschleppt worden, ich gebe zu, ohne Kamals und Tomos tapferes Einschreiten wäre ich mittlerweile wohl in der Walküre waberndem Wohngehege gefangen und – im besten Fall – mit Kleidungsstücken an allen fünf Gliedmaßen behängt.

Nach diesem gelungenen Auftritt, der natürlich wieder Niederschlag im Zeitungswald findet, ist es Zeit für Größeres. Um die mediale Aufmerksamkeit weiterhin zu behalten beziehungsweise zu steigern, liebe Genossinnen und Genossen, müssen wir unsere Arbeit auf eine neue Ebene bringen, eine neue Qualität ist gefragt. Die Genossinnen und Genossen lauschen andächtig, während ich über die Notwendigkeit neuer Maßnahmen referiere, um schließlich die nächste Aktion anzukündigen: die Entführung der Bundesabschiebeministerin.

Es folgen ein paar Sekunden Schweigen nach dieser Ankündigung. Du bist verrückt, durchbricht Tomo schließlich die Stille, andere stimmen ähnliche Töne an, Nino sagt nichts, sondern tippt sich nur an die eingebeulte Stirn. Ich warte lächelnd ab, bis sich die ersten Abwehrreaktionen gelegt haben, natürlich, damit war zu rechnen, die Welt ist schließlich voller Kleingeister, dann erläutere ich meinen Plan in allen Einzelheiten. Das Lösegeld, schließe ich meinen Vortrag, wird natürlich zur Verbesserung der Asylwerber- und Flüchtlingsbetreuung verwendet. Und wenn sie nicht zahlen, fragt der ungläubige Tomo. Tue deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig, empfehle ich ihm, und glaub’ mir, sie werden zahlen – wenn nicht, dann wird die Frau Ministerin einfach abgeschoben. Es gibt Gelächter und Applaus. Wohin du willst abschieben, will Nino wissen. Wohin würdest du sie denn gerne abschieben, Ninotschka, nach Georgien? Nein danke, wehrt sie ab, sicher nicht. Nigeria, wende ich mich fragend an Oma, sie schüttelt den Kopf. Tschetschenien, probiere ich es bei Murad, auch er lehnt ab. Ich befrage alle anderen Anwesenden, doch deren Boote sind leider, leider alle voll. Tja, meine Lieben, dann bleibt nur noch der Mond. Wieder Gelächter und Zustimmung. Gute Idee, meint Kamal mit ernster Miene, aber wie willst du machen? Sie werden zahlen, beruhige ich ihn. Und wo willst du verstecken, fragt Tomo. Die Ministerin, meinst du? Im Kohlenkeller von Djamilas Schule, der hat sich schon einmal bewährt.

Am Ende unserer Zusammenkunft habe ich zwar nicht alle überzeugt, doch das ist auch gar nicht nötig. Wir sind vier, das ist genug, wir stehen für die vier Elemente, Rotkäppchen für das Feuer, Kamal das Kamel für die Erde, die federgleiche Nicoleta für die Luft, ich, Djibrail, bin der Geist über den Wassern.

Ich habe die nötigen Vorarbeiten längst erledigt, ich kenne der Ministerin Wege, ihre Pläne sind mir bekannt, wir können also schon ein paar Tage später zur Tat schreiten. Sie steigt vor ihrem Haus aus dem Wagen. Wagen wir’s, gebe ich das Signal zum Angriff, und mit elementarer Kraft fallen wir über sie und ihre Mannen her, schon ist sie mitsamt Gefährt in unserer Gewalt, geblendet und starr vor Angst bleiben die Wächter des entführten Leibes zurück, und wir fahren davon, und der Sieg, er ist unser, und das himmlische Licht nimmt uns auf und umfängt und durchdringt uns.