15
Der November wirft den Oktober aus dem Kalender, der Ramadan geht mit dem sehnsüchtigst erwarteten Zuckerfest zu Ende, die vierte Woche unseres Schnupperkurses bricht an. Wieder sollen wir einen der raren Berufe kennenlernen, die Asylwerbern zumindest nach der derzeitigen Gesetzeslage offenstehen, diesmal ist es das älteste Gewerbe der Welt, gerne auch das horizontale genannt – der Staat, der Asylwerbern kaum Arbeitsmöglichkeiten bietet, räumt Asylwerberinnen nämlich großzügigerweise die Freiheit ein, die Freier in diesem Land zu beglücken. Da wir im Zeitalter der politisch korrekten Geschlechtshauptströmungsformung, von manchen Gendermainstreaming genannt, leben, richtet sich das Kursangebot auch an Männer, auch sie sollen von Profis lernen, wie sie ihren Körper möglichst professionell verkaufen können.
Wir absolvieren natürlich zuerst den üblichen Trockenschwimmkurs, bevor wir ins kalte Wasser der Praxis geworfen werden. Anbraten für Anfänger, so lautet der Titel eines von mehreren Einführungsvorträgen. Frau Helga und Herr Toni haben die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuhörerinnen und Zuhörer, doch plötzlich wird es unruhig in den vorderen Reihen. Es ist Gloria, eine junge Frau aus Uganda, sie spricht auf Nicoleta ein, während Frau Helga und Herr Toni gerade von der Wahl der richtigen Arbeitskleidung erzählen. Nicoleta lehnt sich an ihre Nachbarin. Hilfe, sagt Gloria plötzlich, sie ist … sie ist krank. Frau Helga wendet sich den beiden Mädchen zu, irritiert zuerst, dann besorgt. Sie ist …, setzt Gloria wieder an, doch es fehlt ihr das richtige Wort. Die Kleine ist ja ohnmächtig, spricht Frau Helga das fehlende Wort aus. Und dann sind plötzlich alle um Nicoleta versammelt, ihr Gesicht, das auch unter normalen Umständen keine gesunde Farbe hat, ist totenbleich, Gloria und Frau Helga und Herr Toni versuchen, sie zum Leben zu erwecken. Man öffnet ihre Weste und Bluse. Wasser, wir brauchen Wasser, ruft Toni. Macht das Fenster auf, befiehlt Helga, und dann schlägt Nicoleta die Augen wieder auf. Mit panischem Ausdruck mustert sie ein Gesicht nach dem anderen, sie blickt um sich, als wäre sie gerade von einem fremden Stern auf die Erde gefallen und hätte den ersten Kontakt mit der Gattung Homo sapiens aufgenommen. Erst nach und nach kommt sie wieder zu sich und zu uns. Hey, Nicoleta, fragt Nino, geht wieder besser, und Nicoleta nickt langsam und vorsichtig mit dem Kopf.
Die Kleine ist schwanger, sagt Frau Helga mit Kennerinnenblick, hundertprozentig. Nino blickt überrascht auf, ihr Blick geht ein paar Mal zwischen Nicoleta und Frau Helga hin und her, wird nachdenklich und auch ein wenig skeptisch. Nicoleta, gerade erst ins Leben zurückgekehrt, reagiert nicht darauf. Ist das – wenn es denn stimmt – Nicoletas Geheimnis oder jedenfalls ein Teil davon?
Die Farbe kehrt in ihr Gesicht zurück, die anderen nehmen ihre Plätze wieder ein. Wo waren wir stehen geblieben, versucht Frau Helga den Faden wiederaufzunehmen. Nino und ich begleiten Nicoleta hinaus, wir setzen uns auf schäbige Plastikstühle in einer Raucherecke, mit fahrigen Bewegungen fingert Nicoleta eine Zigarette aus ihrer Handtasche und zündet sie an. Wir sprechen nicht über das, was geschehen ist, wir reden über belanglose Dinge, selbst Nino beteiligt sich Nicoleta zuliebe an dem sanft dahinplätschernden Kleingespräch. Nino, die Gespräche mit Personen weiblichen Geschlechts normalerweise als Zeitverschwendung empfindet – wo es doch so viele Männer auf der Welt gibt –, Nino, deren Mitgefühl ansonsten an der eigenen Haustür endet, Nino kann also, wenn sie nur will. Allzu lange will sie dann aber doch nicht, Nahum, der Mann ihrer derzeitigen Träume, wartet ja im Kursraum, Nicoleta geht es ohnehin wieder besser, sie lässt uns beide also allein zurück, endlich, endlich.
Nicoleta zündet sich die nächste Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen, jetzt gibt es kein Entkommen mehr, Frau Cubreacu. Ich muss sie überfallen, sie mit der richtigen Frage überraschen, jetzt, da sie noch ein wenig benommen ist von ihrem Ohnmachtsanfall. Bist du wirklich schwanger, das ist die erste Frage, die mir in den Sinn kommt, doch mein Instinkt rät mir davon ab. Und dann hab’ ich sie, die richtige Frage, die Frage, die Licht ins Dunkel bringen und der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen wird: Wie lange hast du eigentlich in Serbien gelebt? Nicoleta überlegt nicht lange. Ungefähr acht Monate, antwortet sie in ihrer Muttersprache, und dann greift sie sich erschrocken an die Lippen. Doch zu spät, Frau Cubreacu, zu spät, die Falle ist zugeschnappt. Woher weißt du das, fragt sie, und dann bricht plötzlich der Damm unter der Last viel zu langen Schweigens und Versteckens. Tränen stürzen aus ihren Augen, Worte strömen aus ihrem Mund, chaotische, ungeordnete Worte, die hierhin und dorthin springen, und es dauert eine ganze Weile, bis es mir gelingt, durch beruhigende Einwürfe und geschickte Fragen die Wortkaskade zu verlangsamen, in geordnete Bahnen zu lenken und umzuwandeln in einen breit dahinströmenden Erzählfluss. Dort, wo Nicoleta etwas auslässt, ergänze ich, denn jetzt, da sie zu erzählen begonnen hat, ist ihr die ganze Geschichte – und sie widerspricht natürlich in vielen Punkten der offiziellen, in den Akten verzeichneten – ohnehin deutlich am blässlichen Gesicht abzulesen.
Es stimmt, dass Nicoleta in Chisinau geboren wurde, dass sie in Tiraspol einen Großteil ihres Lebens verbrachte, dass ihre Mutter den Beruf der Krankenschwester ausübte. Was Nicoleta jedoch bisher verschwiegen hat: dass die Mutter durch eigene Schuld den Job, die Dienstwohnung und schließlich sich selbst im Alkohol verlor. Nicoleta ist zu diesem Zeitpunkt ungefähr fünf Jahre alt, der Vater ist längst nur noch eine blasse Erinnerung, die Mutter vernachlässigt sich selbst und ihre beiden Kinder mehr und mehr. Die Fürsorge tritt auf den Plan, schließlich werden Nicoleta und ihr Bruder in zwei verschiedene Heime gesteckt. Anfangs sehen sie sich einmal im Monat, dann wird der Bruder in ein anderes Heim verlegt, der Kontakt bricht ab. Die Mutter kommt zuerst noch in unregelmäßigen Abständen zu Besuch, dann hört Nicoleta auch von ihr nichts mehr. Die Versuche der Heimleitung und verschiedener staatlicher Stellen, sie aufzuspüren, schlagen fehl, irgendwann wird sie für tot erklärt.
Als reale Person verschwindet die Mutter aus Nicoletas Leben, als Geist, als Chimäre, als Wunschbild kehrt sie zurück. Meine Mutter macht dies, meine Mutter macht jenes, erzählt sie Kindern und Erziehern, und nach und nach erfindet sie sich die Mutter, die sie nie hatte, lebenslustig, liebevoll, fürsorglich, eine Mutter, die aus beruflichen Gründen vorübergehend nicht imstande ist, sich um ihre Kinder zu kümmern, die sie aber eines nicht allzu fernen Tages selbstverständlich wieder zu sich nehmen wird. Am Anfang glauben einige noch an Nicoletas Erzählungen, doch bald wird allen klar, dass die Mutter und auch der Bruder nur mehr in ihrer Fantasie existieren. Je skeptischer die anderen werden, desto mehr klammert sich Nicoleta an ihre Fantasiewelt. Irgendwann beginnt sie, sich selbst Briefe zu schicken und sie den anderen triumphierend als Lebenszeichen der Mutter zu präsentieren. Trotzdem wird sie bald als Spinnerin abgestempelt, als eine, die nicht ganz richtig im Kopf ist, sie wird gehänselt und gequält und gedemütigt und erniedrigt, meist aber einfach nur gemieden. Die Betreuer sind machtlos oder machen mit, und mehr als ein Mal denkt Nicoleta darüber nach, aus dem Heim zu flüchten.
Vor dem Heim lungern immer wieder Männer herum, sie sprechen die älteren Mädchen aus dem Haus an, sie bieten Arbeit, Arbeit als Kellnerin, als Reinigungskraft, als Au-pair- oder Zimmermädchen, Arbeit in Deutschland, Italien oder Spanien. Und manche Mädchen nehmen das Angebot an, man sieht sie nicht wieder, sie scheinen tatsächlich im Ausland gelandet zu sein, dürften wirklich Arbeit bekommen haben. Auch Nicoleta wird angesprochen, als sie fünfzehn ist, auch sie nimmt das Angebot an und verlässt eines Tages mit den wenigen Dingen, die sie besitzt, das Haus, das nie ein Zuhause war.
Zwei Wochen dauert es, bis alle Papiere besorgt, alle Formalitäten erledigt sind, zwei Wochen, die sie zusammen mit einem anderen Mädchen bei einer Frau verbringt, die wortreich die Segnungen des Westens und des Euros preist. Dann geht die Fahrt los, von Aufenthalten unterbrochen, dauert sie ungefähr eine Woche. Mit wechselnden Autos und Fahrern geht es über mehrere Grenzen hinweg, manche Fahrer sind schweigsam, manche gesprächig, einige nett, andere brutal, doch schließlich landen Nicoleta und Timea unbeschadet an ihrem Ziel, in Italien, wo sie als Kellnerinnen arbeiten sollen.
In dem Haus, in dem man die beiden unterbringt, gibt es tatsächlich ein Restaurant und eine Bar. Es ist ein zweistöckiges Gebäude an einer Ausfallstraße am Rand einer größeren Stadt. Es gibt ein paar Hotelzimmer, das Restaurant scheint gut zu gehen, die Bar noch besser, auf dem Parkplatz stehen nicht wenige teure Autos. Das kleine Dachzimmer, das man Nicoleta und Timea zuweist, ist schäbig, doch sie sind zufrieden und freuen sich auf ihr neues Leben in einem neuen Land.
Das neue Leben beginnt noch am selben Abend. Sie bekommen ihre Arbeitskleidung, die Stöckelschuhe, der Minirock und das glitzernde Oberteil kommen Nicoleta etwas seltsam vor, dann werden sie ins Büro gebracht, dort gibt es kurze Anweisungen von dem Mann, der hier der Chef zu sein scheint. Eine Frau ist dabei, der Chef nennt sie Bianca, drei Männer lungern herum, keiner davon wirkt vertrauenerweckend. Sie sollen sich unter die Leute mischen und nett zu den männlichen Gästen sein, erklärt der Chef auf Russisch, sie sollen sich auf möglichst teure Getränke einladen lassen und alles tun, was man von ihnen verlangt. Wenn einer der Männer mit ihnen allein sein möchte, dann sollen sie sich von Bianca einen Zimmerschlüssel holen, hundertfünfzig Euro seien im Voraus an Bianca zu bezahlen, der Anteil der Mädchen würde auf ein für sie eingerichtetes Konto gehen. Was die Preise für Extras betraf, sollten sie sich ebenfalls an Bianca wenden, die wüsste über alles Bescheid. Nicoleta versteht nicht wirklich, wovon er spricht, und als Timea mit dünner Stimme einwendet, dass sie doch als Kellnerinnen arbeiten sollten, beginnt der Chef plötzlich zu brüllen. Bianca und die drei Männer hören schweigend zu, doch auf ein Zeichen ihres Chefs stürzen sich die Männer auf die Mädchen, zuerst gibt es Prügel, dann geschieht den beiden das, was ihnen in den kommenden Monaten noch Hunderte Male von Hunderten Männern angetan werden würde.
Die Illusion ist dahin, und es dauert noch einige Tage, bis den Mädchen klar wird, dass sie auch nicht im ersehnten Italien, sondern in Niš in Serbien gelandet sind. Die Männer, die um die insgesamt fünf Mädchen oder Frauen mit ihrer Brieftasche freien, kommen aus der Stadt und der näheren und weiteren Umgebung, es sind Geschäftsleute und leitende Angestellte, höhere Polizei- und Zollbeamte, Lokalpolitiker und -prominenz, Offiziere und Unteroffiziere aus einer nahe gelegenen Kaserne, manchmal auch Fernfahrer aus den unterschiedlichsten Ländern. Manche von ihnen sind Junggesellen, die meisten jedoch Familienväter, gesprochen wird Russisch, Englisch oder eine Art Balkan-Esperanto.
Das Konto, von dem die Rede war, gibt es nicht. Und wer, glaubst du, hat eure Reise bezahlt, eure Papiere, die Fahrer, die Übernachtungen, wer übernimmt das Risiko, brüllt der Chef, als Nicoleta ihn darauf anspricht, wer zahlt hier für Unterkunft und Essen und Arbeitskleidung? Das muss alles erst einmal beglichen werden, dann reden wir weiter.
Vom ersten Tag an denkt Nicoleta an Flucht, jede der jungen Frauen denkt daran. Tanja und Irina, die schon seit einigen Monaten hier sind, haben es versucht, beide sind nicht weit gekommen, die Leibwächter des Chefs haben sie halb totgeprügelt. Nicoleta weiß, dass der Chef alle Reisepässe im Tresor aufbewahrt; als sie ihn einmal darauf anspricht, wird sie einfach ausgelacht. Trotz der Warnung von Zsuzsa, der Ältesten, wendet sie sich eines Tages an einen Polizeibeamten, der mit ihr aufs Zimmer geht. Sei still, befiehlt er ihr, als sie von ihrem Leid zu erzählen beginnt. Als sie weiterspricht und ihn anfleht, schlägt er sie so heftig ins Gesicht, dass ihre Nase zu bluten beginnt und lange nicht aufhört. Eine halbe Stunde später holt der Chef sie zu sich und verprügelt sie persönlich.
Das Spiel wiederholt sich mit einem Geschäftsmann, der ihr sympathisch erscheint, es wiederholt sich mit dem Vizebürgermeister, der ihr verspricht, etwas für sie zu tun, aber gleich anschließend den Chef informiert. Eines Tages kommt ein junger Fotograf ins Haus, an drei Tagen hintereinander fotografiert er die Mädchen in den verschiedensten Positionen, allein, zu zweit, zu dritt, mit männlichen oder weiblichen Partnern, er ist ruhig, er ist höflich, trotz Angst vor weiterer Prügel fleht Nicoleta ihn in einem unbeobachteten Moment um Hilfe an. Er müsse nachdenken, sagt er, und er tut es vielleicht auch, doch dem Denken folgt kein Handeln, Nicoleta hört nie wieder von ihm.
Und dann taucht eines Tages Kurt auf. Kurt ist Fernfahrer aus Oberösterreich, er ist mit fünfundzwanzig Tonnen Textilien unterwegs von Istanbul nach Wien. Kurt feiert an diesem Tag seinen dreiundvierzigsten Geburtstag, seine Frau und seine Mutter und zwei Freunde haben ihm schon gratuliert, er war bisher schnell unterwegs, zur Belohnung gönnt er sich nun eine Pause. Nach dem Essen und einem kurzen Abstecher an die Bar verschwindet er mit Zsuzsa im ersten Stock, er kennt sie bereits von einem früheren Aufenthalt, sie ist genauso alt wie er. Als er bald darauf mit zufriedenem Gesichtsausdruck wieder an die Bar tritt, ist Nicoletas Augenblick gekommen. Sie hat zuvor ein paar Worte mit ihm gewechselt, Worte in einem Gemisch aus Deutsch, Englisch, Russisch und Rumänisch, gut gelaunte Worte, denn Kurt ist in Feierlaune, nun zieht sie ihn im Flur in eine Ecke und spricht auf ihn ein, bittet, fleht – und Kurt sagt Ja. Ich habe kein Geld, sagt Nicoleta. Na, dann zahlst eben in Naturalien, lautet seine joviale Antwort, und Nicoleta versteht und nickt. Ein paar Minuten später sind sie in Kurts Sattelschlepper, Kurt fährt, Nicoleta liegt in der Schlafkabine hinter ihm. Du bist mei Geburtstagsgeschenk, sagt er ein paar Mal und lacht hell auf, erst nach mehr als einer Stunde erlaubt er ihr, sich auf den Beifahrersitz zu setzen, und seine Blicke in den Rückspiegel werden seltener und entspannter.
Kurt spricht und versteht sogar ein paar Brocken Rumänisch, seine erste Frau – mittlerweile ist er bei der dritten angelangt – war Rumänin. Sie haben nicht vereinbart, bis wohin Nicoleta mitfahren würde, nur weg aus ihrem Gefängnis, möglichst weit weg, das war alles, was zählte. Als sie sich nun der Grenze zwischen Serbien und Ungarn nähern, fragt Kurt nach ihrem Reisepass, als sie antwortet, sie habe keinen, steigt er plötzlich auf die Bremse und lässt den Lkw am Straßenrand ausrollen. Er fängt zu fluchen an. Nicoleta bettelt und fleht erneut. Ich bezahle, verspricht sie, ich bezahle. Kurt macht eine wegwerfende Handbewegung. I geh’ doch net ins Gfängnis wegen dir, empört er sich, doch dann stößt er plötzlich einen großen Seufzer aus. I waaß net, warum i ma des antua, murmelt er vor sich hin, während er das Handschuhfach aushängt und mit einem Schraubenzieher einen Teil der Verkleidung entfernt. Zwischen Armaturenbrett und Vorderfront wird ein enger, lang gestreckter Hohlraum sichtbar. Kurt hat darin ungefähr dreißig oder vierzig Stangen Zigaretten und ein paar Flaschen Whisky gelagert, die er nun anders verteilt. Da, sagt er und deutet auf die Lüftungsklappe, nachdem er Nicoleta geholfen hat, ihr Versteck einzunehmen, da ist Luft. Nicoleta nickt, und Kurt schließt die Verkleidung.
Sie erreichen die serbische Seite der Grenze, es ist spät, es sind kaum Pkws unterwegs und nur ein Lkw vor Kurt. Er kennt die beiden diensthabenden Zöllner, er begrüßt sie wie alte Bekannte, scherzt und lacht mit ihnen, reicht ihnen ein paar Bierdosen aus dem Kühlschrank, im Reisepass liegt, ich sehe es deutlich vor mir, diskret ein Fünfzig-Euro-Schein, und nach ein paar Alibikontrollen öffnen die Zöllner den Grenzbalken. Doch dann geht es auf die ungarische Seite, und hier helfen weder Scherze noch Bierdosen, das Geld wird schroff zurückgewiesen, die Kontrolle umso genauer durchgeführt. Alle Papiere werden einer peniblen Prüfung unterzogen, Kurt muss den Frachtraum öffnen, und alles, alles wird durcheinandergeworfen und auseinandergenommen. Schließlich ist das Fahrerhaus an der Reihe, die Zöllner durchstöbern Schlafkabine, Kühlschrank und diverse Laden und Fächer. Und dann wird das Handschuhfach inspiziert. Der Zöllner will von jedem Gegenstand, und sei er auch noch so alt, Kaufpreis, -datum und -ort wissen, dann zückt er einen Schraubenzieher und beginnt, die Abdeckung des Armaturenbretts aufzuschrauben. Ein Kollege ruft ihn, er unterbricht seine Tätigkeit, der Kollege bringt Kurts Papiere, Kurt, der trotz Kälte ins Schwitzen geraten ist, darf einsteigen und abfahren. Nach ein paar Hundert Metern stößt er plötzlich einen Tarzanschrei aus, trommelt sich wie wild auf die Brust. Mir ham’s gschafft, mir ham’s den Idioten zeigt! Zehn Minuten no, zehn Minuten, Mäderl, dann kannst raus. Nicoleta reagiert nicht. He, Mäderl, is’ alles okay? Wieder keine Antwort. Bei der nächsten Möglichkeit bleibt Kurt stehen. Alles okay, fragt er immer wieder besorgt, während er mit ungeduldigen Händen den Zugang zu Nicoletas Versteck freilegt. Ja, alles okay, antwortet Nicoleta schließlich und reibt sich verschlafen die Augen.
Kurt hilft ihr heraus, sie fahren noch ein Stück und bleiben dann bei einer Raststätte stehen. Beide gehen ins Gebäude, als Nicoleta zurückkommt, hat sich Kurt schon in seine Schlafkabine zurückgezogen, auf der Fahrerbank liegt eine Decke. Ich bezahle, sagt Nicoleta. Er steckt den Kopf aus der Kabine. Mäderl, sagt er, du bist so oid wia mei Tochter, i bin ja ka Kinderschänder. Dann legt er sich hin, kurze Zeit später hört Nicoleta regelmäßiges Schnarchen.
Am nächsten Tag durchqueren sie Ungarn, Kurt ist gut gelaunt, er spricht und spricht und spricht, erzählt seine ganze Lebensgeschichte. Nicoleta versteht nicht viel davon, doch sie ist glücklich. Kurz vor der österreichischen Grenze muss sie wieder in ihr Versteck. Beide haben Glück, die Kontrollen sind nicht besonders genau, und so erreicht Nicoleta Österreich.
Kurt wird noch oft von dem besonderen Geschenk sprechen, das er zu seinem dreiundvierzigsten Geburtstag bekommen hat, und er wird immer wieder von dieser Fahrt träumen. Auch Nicoleta träumt von Zeit zu Zeit davon, viel öfter jedoch von den Monaten, die der Flucht vorausgingen. Und nun, da ich Nicoletas Geschichte kenne, nehme ich auch ihre Träume zusammen mit jenen von Gjergi, Yaya, Mira und all den anderen mit in die Nacht, und sie durchdringen meine eigenen.
Ich sitze auf dem Affenbrotbaum hinter dem Haus. Es ist ein heißer, schwüler Nachmittag, über den Bergen im Westen hängen Wolken, sie kommen sicher bald zu uns, man kann den Regen schon riechen. Es ist still im Dorf, seltsam still, denn sogar die Zikaden und die Bienen und alle anderen Insekten sind verstummt, nur das Bellen eines Hundes ist zu hören. Ich weiß, was passieren wird, gleich werden die Soldaten kommen, gleich werden meine Mutter und meine Schwestern aufschreien, und ich weiß auch, dass ich nichts, gar nichts dagegen werde tun können. Es würde nichts helfen, jetzt schon ins Haus zu gehen und die beiden vorzuwarnen, sie zu verstecken, ich weiß, die Soldaten würden sie trotzdem finden. Ich warte daher, ich warte auf die Schreie, zwar kommen sie später, als ich glaube, aber sie kommen. Ich springe vom Baum und laufe zum Haus. Ich höre die Schreie aus der Küche, ich weiß zwar, was ich gleich sehen werde, wenn ich von außen hineinschaue, trotzdem kann ich nicht anders, als mich langsam und vorsichtig vor dem Fenster aufzurichten. Drinnen sehe ich meine Mutter und meine Schwestern, ich sehe die Soldaten, die ihnen Gewalt antun, ich sehe aber auch mich selbst, wie ich durch das Fenster spähe, dann sind plötzlich die Soldaten weg, ich könnte jetzt ins Haus gehen, doch ich hocke immer noch vor dem Fenster. Drinnen sind mein Onkel und meine Tante und einige Nachbarn, ich erkenne auch Yaya, Gjergi und Liu, auch Nicoleta ist da und blickt mich vorwurfsvoll an, die kleine Küche ist voller Menschen, alle reden durcheinander, meine Mutter fragt nach mir, ich will nicht, dass sie mich am Fenster sieht, sie soll nicht wissen, dass ich Zeuge war, sie ruft nach mir, immer wieder ruft sie – – – und ich wache auf und blicke verschlafen in Kamals Kamelaugen. Aufstehen, Ali, ruft er und rüttelt mich am Arm, neun Uhr ist.