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Miras, Mladkos und Lukas’ Glück oder Unglück sind natürlich nur für die Wenigsten im Haus von unmittelbarem Interesse. Gesprächsthema Nummer eins, sowohl im Haus als auch außerhalb, ist die anhaltende Kältewelle. Der April geht in die zweite Hälfte, acht Grad Celsius ist das Maximum, das uns dieses Jahr bisher zu bieten hatte, an den meisten Tagen lag die Höchsttemperatur um den Gefrierpunkt oder nur unwesentlich darüber. Auf der Straße, in der U-Bahn, an den Supermarktkassen und bei sonstigen Gelegenheiten für Kleingerede ist die Kältewelle das einzige Gesprächsthema. Die Zeitungen sind voll mit Spekulationen über Ursachen, weitere Auswirkungen und mögliche Gegenmaßnahmen, im Fernsehen wird auf Dutzenden Kanälen Weltuntergangsstimmung verbreitet. Auch hier im Haus ist jeder zum Klimaexperten mutiert und bastelt sich seine eigene Theorie zusammen, und selbst Kamal, der bis vor Kurzem nicht einmal das Wort Klima in seinem Wortschatz hatte, und zwar weder auf Deutsch noch in irgendeiner anderen auf diesem Planeten gebräuchlichen Sprache, schimpft auf den bösen Golfstrom, der sich so mir nichts, dir nichts auszubleiben untersteht. Auch Verschwörungstheoretiker haben natürlich Hochsaison: Wahrscheinlich haben die Amerikaner irgendwelche Versuche gemacht, meinen die einen, arabische Terroristen hätten den Golfstrom umgeleitet, um Europa eine neue Eiszeit zu bescheren, wissen die anderen. Murad sieht in der Eiseskälte die Rache Allahs für das frevelhafte Verhalten der westlichen Welt, Oma die gerechte Strafe ihres lieben Gottes für ein Leben ohne ihn.

Auch Dunja beschwert sich. Ist es hier das ganze Jahr so kalt, fragt sie beim Mittagessen. In Inguschetien ist es viel wärmer, und das Essen schmeckt auch besser. Sie stochert lustlos im von Khady zubereiteten Risotto herum. Wart’ erst mal ab, bis Chin wieder aus dem Urlaub zurück ist, warne ich sie vor, aber vielleicht hilft es, wenn du vor dem Essen den Kaugummi aus dem Mund nimmst. Sie ignoriert meinen Vorschlag und schiebt den Teller von sich weg. Nimmst du ihn eigentlich nachts heraus? Oder beim Küssen? Sie steht auf, schickt mir einen gelangweilten Blick aus ihren Otschi tschornie und verlässt den Raum. Hey, Teller wegräumen, ruft Tomo ihr auf Russisch hinterher. Er hat gemeinsam mit Yaya Küchendienst, doch Dunja hört ihn nicht, denn ihre Ohren sind es gewohnt, dem dahinterliegenden Prinzessinnenhirn mittels Filter allzu gewöhnliche Klänge und Ansinnen zu ersparen.

Auf diesem Wrack kann man doch nicht spielen, sagt sie ein paar Tage später über das Instrument, das ihr der Geigenlehrer in die Hand drückt. Er heißt Paul, Mira hat ihn über eine befreundete Musikerin aufgetrieben, sie hat ihn begrüßt, hat Dunja und mich vorgestellt, Ali hat sich angeboten, zu übersetzen, erklärte sie, dann überließ sie mir das Feld zur Beackerung. Stradivari ist es natürlich keine, meint Paul nun lächelnd, nachdem ich Dunjas schon nach wenigen Strichen gefälltes Urteil in der Übersetzung ein wenig abgemildert habe. Sie wurde jahrelang nicht gespielt, erklärt er, aber ich hab’ selber darauf gelernt. Ich bin keine Anfängerin, antwortet Dunja indigniert auf meine Übersetzung, die Geige, die ich in Inguschetien hatte, war hundert Mal besser. Klar, alles war besser in Inguschetien, sage ich, aber du bist nicht mehr in Inguschetien, und du hast deine Geige nicht mehr. Sie zuckt mit den Schultern. Du bist undankbar, werfe ich ihr vor. Paul hat sich bereit erklärt, dir gratis Unterricht zu geben und dir seine Geige zu borgen, und du gebärdest dich wie eine Primadonna. Paul blickt mich fragend an. Sie weiß noch nicht, ob sie dein Angebot annehmen kann, erkläre ich, weißt du, das Ehrempfinden spielt eine sehr wichtige Rolle in der tschetschenischen Gesellschaft. Paul nickt wissend. Inguschetien, bessert Dunja mich aus, denn so viel hat sie verstanden. Sie soll sich keine Sorgen machen, ich tue das gerne, sagt der Geigenlehrer. Er soll mir was vorspielen, verlangt Dunja plötzlich. Ich soll was vorspielen, reagiert Paul überrascht, doch dann erfüllt er ihr den Wunsch und spielt einen Satz aus einer Bach-Partita. Ich muss Dunja recht geben, das Instrument klingt wirklich nicht besonders, doch es ist nun mal ein geborgter Gaul. Dunja sitzt neben mir, schaut aus schweren Lidern gelangweilt in den Raum, während ihr Unterkiefer den üblichen Kaugummi bearbeitet. Sie schweigt, als Paul zu Ende gespielt hat. Ich lasse die Geige da, sagt er, während er sie in den Kasten legt und den Bogen abspannt, sie kann sie ausprobieren und sich überlegen, ob sie bei mir Unterricht haben will. Ich übersetze, während er Telefonnummer und E-Mail-Adresse aufschreibt, Dunja zuckt nur mit den Schultern. Sie wird es sich überlegen, sage ich, und ich bin ziemlich sicher, sie wird das Angebot annehmen.

Und natürlich behalte ich recht. Dunja nimmt das Instrument auf ihr Zimmer, stellt es zunächst achtlos in eine Ecke und rührt es den Rest des Tages nicht mehr an, doch schon am nächsten Tag sind Geigenklänge im Haus zu hören. Am Anfang übt sie auf ihrem Zimmer, doch obwohl Oma und Djamila geduldig und bescheiden sind, beschweren sie sich bald bei Zakia über die Zwangsbeglückung. Von da an ist Dunjas Geigenspiel sieben oder acht Stunden pro Tag aus einem der Unterrichtsräume, aus dem Betreuerzimmer oder aus irgendeinem anderen gerade ungenutzten Raum zu hören. Du musst den Geigenlehrer anrufen, sagt sie mir nach einer Woche, und ich lächle und komme ihrem Wunsch noch am selben Tag nach.

Und, hast du ihr schon einen Heiratsantrag gemacht, will Nino ein paar Tage später wissen, als Dunja und ich gerade die erste reguläre Geigenstunde hinter uns haben. Ich schüttle den Kopf. Was ist los mit dir, bist du krank? Ich schenke ihr ein freundliches Lächeln. Warum sollte ich ihr einen Heiratsantrag machen? Sie hat ja keine österreichische Staatsbürgerschaft. Ach so ist das, gibt sich Nino enttäuscht, und ich dachte, es geht um Liebe. Wie bei deinen Beziehungen? Rotkäppchen zeigt mir den schlimmen Finger. Deine neue Flamme geht mir auf die Nerven, sagt sie: In Inguschetien ist es besser, ahmt sie Dunjas Russisch nach, das ist alles, was man von ihr hört. Und dieses ständige Gefiedel! Ich hab’ dir schon gesagt, sie ist nicht meine Flamme. Und warum schwirrst du dann ständig um sie herum? Trägst ihre Geige? Übersetzt für sie? Ich helfe, wo man mich braucht, gebe ich zurück. Sie tippt sich an die Stirn und geht kopfschüttelnd davon. Männer, seufzt sie mit der ganzen Weisheit und Abgeklärtheit ihrer mittlerweile sechzehn Jahre, Männer!

Eines Nachts wache ich auf, als Yaya plötzlich das Licht neben seinem Bett einschaltet. Was ist los, frage ich schlaftrunken. Kopf ist schlecht, antwortet er und tippt sich an sein Haupt. Zwar scheint Yaya in letzter Zeit keine Albträume mehr zu haben, dafür wird er oft von starken Kopfschmerzen geplagt. Er steht auf und verlässt den Raum, ich drehe mich um und schlafe weiter. Eine halbe Stunde später wache ich erneut auf, liege eine Zeit lang wach und beschließe dann, ebenfalls aufzustehen. In der Küche ist Licht, Yaya sitzt wohl noch immer dort, doch ich gehe weiter Richtung Treppenhaus, ich muss mich bewegen. Ich gehe ins Erdgeschoss hinunter, als ich unten angekommen bin, mache ich kehrt und steige, zwei Stufen auf einmal nehmend, wieder in die letzte Etage hinauf. Ich steige ein zweites Mal hinunter und wieder hinauf, im Haus ist es ruhig, nur im zweiten Stock hört man irgendwo einen Fernseher. Ich laufe auf jedem Stockwerk die Gänge ab, die beiderseits der Treppe abgehen, und plötzlich sehe ich einen Lichtstreifen unter der Tür zu Pitras Zimmer. Ist die Schwarze Köchin zurückgekehrt? Ich bleibe direkt davor stehen und lege mein Ohr daran. Das Zimmer wurde noch nicht neu vergeben, so viel weiß ich mit Sicherheit. Leise klopfe ich an die Tür. Keine Antwort. Ich klopfe ein zweites Mal. Als ich schließlich eintrete, ist das Zimmer leer. Pitras Sachen sind alle noch da, doch als ich meinen Blick über die vielen Figuren aus Papier und Holz und Glas und Plastik streifen lasse, kommt es mir vor, als ob manche davon anders positioniert wären als bei meinem letzten Besuch. Wahrscheinlich hat sich jemand die Zeit damit vertrieben, Pitras Kuriositätenkabinett neu zu arrangieren.

Ich drehe das Licht ab, schließe die Tür hinter mir und steige wieder zu uns in den vierten Stock hoch. Auf dem Weg zur Küche kommt mir Yaya entgegen. Und, noch immer Kopfschmerzen, frage ich ihn auf Krahn. Ich hab’ eine Tablette genommen, entgegnet er, jetzt geht’s besser. Und du, kannst du auch nicht schlafen? Doch, doch, versichere ich, ich kontrolliere nur, ob im Haus alles in Ordnung ist. Und jetzt gönne ich mir noch ein bisschen Tee. Nino ist auch in der Küche, sagt Yaya, dann verschwindet er Richtung Zimmer.

Nino sitzt an einem der beiden langen Tische in der Küche und nippt gedankenverloren an einer Teetasse. Was machst denn du hier, frage ich überrascht. Nino den Schlaf oder den Appetit zu rauben, ist nämlich so gut wie unmöglich. Weiß nicht, antwortet sie mit heiserer Stimme. Sie räuspert sich. Mein Magen fühlt sich komisch an. Ich betrachte sie kurz durch Dr. Idaulambos randlose Brille, sie sieht tatsächlich bleich aus und hat Ringe unter den Augen, die Pupillen sind geweitet, der Puls wahrscheinlich erhöht. Ich muss irgendetwas Verdorbenes gegessen haben, sagt sie und weicht meinem prüfenden Blick aus. Bist du schwanger, fragt Dr. Idaulambo sie geradeheraus und ganz ohne mein Zutun. Trottel, schimpft sie, doch plötzlich fängt sie zu weinen an. Einen Augenblick lang bin ich rat- und sprachlos. Viele Tränen sind hier im Haus schon geflossen, viele meiner Mitbewohner habe ich schon weinen sehen – aber Nino? Wie ist das passiert, frage ich bestürzt. Ich weiß auch nicht, schluchzt sie, wir haben ein Mal nicht aufgepasst, an einem Tag, wo eigentlich gar nichts passieren konnte. Wer ist wir, will Dr. Idaulambo fragen, doch diesmal schneide ich ihm das Wort ab. Was soll ich jetzt tun, fragt sie. Ich überlege eine Weile. Bist du ganz sicher, dass du schwanger bist? Sie nickt. Weiß schon irgendjemand anderer davon? Sie schüttelt den Lockenkopf. Auch der Vater des Kindes nicht? Vater, stößt sie verächtlich hervor, natürlich nicht! Warum das natürlich sein soll, ist mir nicht ganz klar, doch ich dringe nicht weiter in sie. Was soll ich tun, fragt sie erneut. Du musst dir klar werden, was es wirklich für dich bedeuten würde, plötzlich Mutter zu sein, ob mit oder ohne Vater, beantwortet Dr. Idaulambo ihre Frage, und umgekehrt musst du überlegen, wie es wäre, wenn du dieses Kind, das schon in dir zu wachsen begonnen hat, nicht mehr hättest. Nino beginnt erneut zu schluchzen. Meine Mutter war auch sechzehn, als ich geboren wurde.

Ich stehe auf, um Tee zuzubereiten. Hast du Kontakt zu deiner Mutter, frage ich, als ich mich wieder setze. Nino schüttelt den Kopf. Ich weiß nicht mal, ob sie noch lebt. Und dein Vater? So was hab’ ich nicht, entgegnet sie rotzig. Wunderbar, dann bist du also per unbefleckter Empfängnis in diese schöne Welt gekommen? Sie nickt. Ich bin die heilige Nino, das weißt du doch. Dann wird sie wieder ernst und erklärt mir, dass sie ihren Vater, dessen Nachnamen sie trägt, nie kennengelernt hat. Und du hast nie nach ihm gefragt? Sie schüttelt den Kopf. Wozu denn, die Männer im Leben meiner Mutter waren sowieso lauter Arschlöcher. Nino kippt einen großen Schluck Tee hinunter, als wäre es Wodka. Ich will nicht so werden wie meine Mutter, sagt sie, und plötzlich rinnen wieder Tränen über ihre Wangen, ich will mich nicht von Arschlöchern ausnützen und schlagen lassen, ich will ein ganz normales Leben leben. Das wirst du, das wirst du, versucht Dr. Idaulambo sie zu beruhigen, während ich selbst meine Zweifel hege, dass es ihr, ob mit oder ohne Kind, tatsächlich gelingen wird.

Es bleibt kalt, und die Kälte bleibt das wichtigste Gesprächsthema. Vielleicht geht Welt unter, meint Tomo düster, als in den Abendnachrichten wieder einmal ein besonders erfreulicher Bericht über die Auswirkungen der langen Kälteperiode zu sehen ist. Das ist gut, freut sich Kamal, dann es gibt kein Fremdenpolizei mehr. Das Gelächter ist groß, und es dauert eine Weile, bis ich Kamal klargemacht habe, dass es im Fall eines Weltunterganges mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit auch ihn nicht mehr geben würde.

Doch ein paar Tage später kommt es zu einem Ereignis, das für eine Weile die Kältewelle in den Hintergrund drängt. Die Fremdenpolizei ist nämlich weder einem allgemeinen noch einem – von Kamals Kamelhirn ersonnenen – begrenzten Weltuntergang zum Opfer gefallen, sondern erfreut sich nach wie vor größter Lebendigkeit. Zumindest wirken die beiden Beamten, die zuerst Hans und dann uns aus dem Schlaf reißen, nicht so tot, wie man sie sich wünschen würde. Djaafar, flüstert Hans, nachdem er die Tür zu unserem Zimmer geöffnet hat.

Es wiederholt sich, was wir bei Lius Verhaftung erlebt haben. Djaafar packt seine Sachen zusammen, jeder versucht, ihm Mut zuzusprechen, auch wenn er eher Wut empfindet. Hans, dem man normalerweise vor zehn Uhr vormittags nur mit allergrößter Mühe einen ganzen Satz entlocken kann, spricht pausenlos auf die beiden Beamten ein, auch er kann seine Wut nicht verbergen, doch seine Worte prallen an den ausdruckslosen Gesichtern der Beamten ab: Wir führen ja nur Befehle aus, Gesetz ist Gesetz, Dienst ist Dienst. Fieberhaft suche ich in meinen Gedanken nach einer Möglichkeit, wie ich Djaafar helfen, wie ich die Polizisten daran hindern kann, ihn mitzunehmen, genauso fieberhaft, wie ich in meinem seltsamen Traum, vor dem Küchenfenster hockend, nach einem Weg suche, meiner Mutter und meiner Schwester zu Hilfe zu kommen. Doch wie im Traum kommt mir auch in Wirklichkeit keine rettende Idee, ich bin, ich muss es zu meiner übergroßen Schande gestehen, wie gelähmt und kann nur ohnmächtig mit ansehen, wie Djaafar von den beiden Beamten zum Lift eskortiert wird.

Das Leo wurde erneut ignoriert, die Spielregeln zum zweiten Mal gebrochen. Lius Verhaftung und Abschiebung waren ein Schock, nachdem aber zumindest bei uns im Leo Wochen ohne erneute Verhaftung vergingen, konnte man sich einreden, dass es sich um eine Ausnahme gehandelt haben müsse. Nun wird klar, dass sich das Ereignis jederzeit wiederholen kann, denn wenn es ein zweites Mal gibt, dann kann es auch ein drittes und viertes und fünftes Mal geben, und wenn es Liu und Djaafar trifft, dann kann es genauso gut Tomo, Nino, Nicoleta oder Yaya treffen.

Wieder einmal hocke ich vor dem Küchenfenster, ich kenne schon jede Einzelheit in meinem Blickfeld, jeden Fleck an der Hauswand, jedes Loch im staubigen Fliegengitter, jeden Stein unter meinen Schuhen, und auch, was im Haus passiert und passieren wird, weiß ich bis ins kleinste Detail. Ich müsste gar nicht mehr hinschauen, und doch kann ich den Blick nicht abwenden von den Soldaten mit ihren schmutzigen Stiefeln, von meiner Mutter und meinen Schwestern, die sich vergeblich zu wehren versuchen, und ich weiß, dass ich nichts tun werde, außer vor dem Fenster zu hocken.

Ihr habt Schande über die Familie gebracht, heißt es anschließend wieder, als sich das Haus mit Verwandten und Nachbarn und Soldaten füllt, meine Mutter und meine Schwestern, die Essen und Getränke auftragen, halten inne in ihren Bewegungen, ihre Gesichter erstarren, Schande über euch, stimmen die anderen mit ein. Ihr wisst, dass ihr nicht bleiben könnt, sagt mein Onkel, und meine Mutter und meine Schwestern beginnen zu weinen. Ali ist schuld, sagt Pitra plötzlich. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch sie im Raum ist. Ali hat zugeschaut und nichts unternommen, erhebt sie Anklage. Stimmt das, fragt der Onkel meine Mutter. Sie nickt. Stimmt das, fragt er die Soldaten, und auch die bestätigen es. Die Blicke richten sich auf mich. Schande über dich, Schande über Ali, Er kann hier nicht bleiben, Du musst fort, sprechen alle durcheinander. Warum hast du nichts dagegen getan, fragt Pitra. Ich konnte nicht, sage ich, ich hatte Angst vor den Gewehren der Soldaten, sage ich, es ist ja gar nichts passiert, sage ich, die Soldaten sitzen hier mit uns, sie tun niemandem etwas; doch nichts von dem, was ich sage, ist für die anderen hörbar. Ali soll eine zweite Chance bekommen, meint Pitra dann. Du hast recht, sagt der Onkel, gebt ihm eine zweite Chance.

Und dann hocke ich erneut vor dem Küchenfenster, sehe die schon bekannte Szene, zögere wieder, spüre die gleiche Angst wie zuvor, aber mit einem Mal weiß ich, was ich tun muss, und ich weiß, dass ich es tun kann. Ich richte mich auf, die Soldaten blicken zum Fenster, sie reißen ihre Waffen hoch, doch plötzlich beginnen sie zu schreien, wenden die Blicke ab, auch meine Mutter und meine Schwester schließen geblendet die Augen, ich bin plötzlich neben ihnen. Fort mit euch, rufe ich den Soldaten zu, und meine Stimme ist so laut, dass sie die Waffen fallen lassen und sich mit schmerzverzerrten Gesichtern die Ohren zuhalten, und dann sind sie fort, und wieder sind Verwandte und Nachbarn im Haus, meine Mutter und meine Schwestern kümmern sich um die Gäste, Pitra lächelt mir zu, und alle sind fröhlich und in Feierlaune.

Und dann weiß ich, was ich zu tun habe. Es ist Zeit, einzugreifen, es ist Zeit, die Maske abzulegen, Zeit, meine wahre Identität preiszugeben. Während im Betreuerbüro und beim Onkel die Telefonleitungen heiß laufen – sie sprechen mit Rechtsanwälten, Ministerialbeamten und Schubhaftbetreuern und versuchen alles in ihrer Macht stehende, um gegen die eigene Ohnmacht anzukämpfen –, berufe ich eine Versammlung im Fußballzimmer ein. Liu wurde abgeschoben, beginne ich ohne viel Umschweife meine mehrsprachige Rede, Gülertan Dolas und andere Familienväter wurden verhaftet, ein sechs Monate altes Kind erhielt einen Ausweisungsbefehl, und nun wurde Djaafar in Gewahrsam genommen – Genossinnen und Genossen, wir können nicht länger nur zusehen. Morgen kann es dich treffen, sage ich und werfe einen bohrenden Blick auf Djamila, übermorgen kannst du von der Fremdenpolizei geweckt werden, Nicoleta, und wir alle stehen vielleicht schon längst auf der Liste für die nächsten Abschiebungen.

Kamal, dessen Hand bis jetzt nervös mit den roten Plastikstürmern des Fußballtisches gespielt hat, erstarrt und blickt ängstlich zur Tür. Genossinnen und Genossen, wir haben in den vergangenen Monaten ein paar Spiele gespielt. Wir haben Djamilas Mitschülern ein wenig Respekt beigebracht, haben Straßentheater gemacht und dem Abschiebeministerium elektronische Liebesgrüße geschickt. Als wir uns hier vor ein paar Monaten zum ersten Mal versammelten, habe ich vom Ernstfall gesprochen, auf den wir uns vorbereiten müssten. Genossinnen und Genossen, jetzt, jetzt ist der Ernstfall da, die Revolution beginnt! Und dann unterbreite ich meinem geschätzten Publikum den Plan zur Befreiung Djaafars.

Nicht alle sind dabei, als wir schon am nächsten Tag – jede Stunde Zögern könnte Djaafars Abschiebung bedeuten – zum Gefangenenhaus aufbrechen, ich kann es niemandem verübeln, nicht jeder hat das Zeug zum Helden, doch immerhin sind wir zu siebent. Die glorreichen Sieben, sie reiten gegen Theben, sieben Samurai haben ihre Schwerter gezückt, es ist nicht der 14. Juli, nein, da wäre es längst zu spät und Djaafar bereits in Afghanistan, sondern der 10. Mai, und wir stürmen nicht die Bastille, sondern das Polizeigefängnis auf dem Währinger Gürtel. Schon sind wir im Gebäude drin, der Polizist, der sich uns entgegenstellt, hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Ohren zu, als er meine Stimme vernimmt, er versucht, gleichzeitig die Augen abzuschirmen vor dem gleißenden Licht, das von mir ausgeht, und er krümmt sich vor Schmerz und weicht zurück, und schon haben wir die erste Hürde genommen. Auch die nächsten beiden Türen öffnen sich rasch für uns, nur bei der letzten, die uns noch von den Häftlingen trennt, muss ich wieder ein wenig laut werden: Öffnet die Tür, rufe ich dem Mann in Uniform, der uns den Weg versperrt, mit Donnerstimme zu, ich bin Djibrail, ich bin gekommen, um den Frevel zu beenden und Gerechtigkeit zu bringen! Ich bin Djibrail, ich biete Schutz für die, die des Schutzes bedürfen, und bringe den Tod jenen, die ihn verdienen! Ich bin Djibrail, der Gerechte, ich bin Faruq, der zwischen Wahrem und Falschem unterscheidet, ich bin Ruh al-Qudus, der Geist der Heiligkeit, nun öffnet die Tür, oder das Feuer des Himmels wird über euch kommen! Beim Schall meiner Worte fällt der Uniformierte betäubt zu Boden und bleibt mit dem Gesicht nach unten liegen, die Tür öffnet sich von allein.

Auch die Häftlinge halten schützend die Hände vor die Augen, doch ich spreche beruhigend auf sie ein: Fürchtet euch nicht, sage ich, ich bin gekommen, um diejenigen unter euch zu befreien, die frei von Schuld sind, und die Hände strecken sich mir entgegen. Herr, ich bin’s, ruft es von rechts und von links. Bald haben wir Djaafar gefunden, und da ist auch Gülertan Dolas, und da sind andere Menschen, die man in den vergangenen Wochen aus ihrem Leben gerissen und zu Unrecht eingesperrt hat, und alle gemeinsam strömen wir auf die Straße hinaus, hinaus in die Freiheit, hinaus an die Luft, hinaus ins Licht des Tages und des Himmels.