22
Das Licht des Himmels, ich fühle es auf meiner Haut, es durchdringt meine Poren, dringt durch meine geschlossenen Augenlider und erfüllt mich.
Ich öffne die Augen. Was tun Sie da, frage ich einen weiß gekleideten Mann, der sich über mich beugt und mich mit einer Lampe zu blenden versucht. Erst dann entdecke ich die Frau an seiner Seite, oder vielmehr ihre Augen, vielleicht waren es auch diese Augen, die mich blendeten; wie zwei Sonnen, so helle stehen sie am Firmament und bohren sich in mein Herz. Zu Hilfe, rufe ich, ich bin zu Tode getroffen! Der weiße Mann ignoriert meinen Hilferuf, er drängt die Augen samt zugehörigem Körper zur Seite, gibt der ebenfalls weiß gekleideten Frau Anweisungen, die sie gewissenhaft befolgt, sie scheint ihm geradezu hörig zu sein. Was machen Sie da, frage ich noch einmal, Sie blenden mich. Wir testen Ihre Reflexe, antwortet der weiße Mann, Sie waren mehrere Stunden bewusstlos. Ich wende mich nach links und nach rechts, um zu sehen, mit wem er spricht, doch da ist niemand außer mir und ihm und der weißen Frau. Ich, bewusstlos? Sie müssen mich verwechseln, ich werde nicht bewusstlos. Er lächelt. Das kann selbst dem stärksten Mann passieren. Vielleicht, aber mir sicher nicht. Wo bin ich hier überhaupt? Wie bin ich hierhergekommen? Mit der Rettung, antwortet der weiße Mann, man hat Sie auf der Straße liegend gefunden, Sie sind offensichtlich zusammengebrochen. Über die Ursachen wissen wir noch nicht genau Bescheid, da braucht es noch ein paar Tests und Befunde, aber zuerst sollten Sie sich einmal ausruhen. Er gibt der Frau noch ein paar Anweisungen, dann wendet er sich zum Gehen, sie folgt ihrem Herrn und Meister mit gebührendem Abstand.
Erst jetzt bemerke ich die Nadel in meinem Arm. Hey, rufe ich, Sie haben da was vergessen! An der Nadel hängt ein Schlauch, der Schlauch ist mit einem an einer Stange hängenden Gefäß verbunden, das Gefäß enthält eine uringelbe Flüssigkeit, sie scheint durch den Schlauch in meinen Arm zu gelangen. Ich brauche keine Katzenpisse in meinem Körper, rufe ich, doch niemand hört mich. Dann schlafe ich ein.
Als ich aufwache, beugt sich die weiße Frau gerade über mich, doch nein, es ist nicht die weiße Frau, es ist Mira, Mira, wir umarmen uns, ich bin zu Hause, endlich! Wieder schlafe ich ein, wache auf, und diesmal ist es Pitra, die über mich wacht, ich bin froh, dass sie zurückgekehrt ist, sie hat mir etwas zu essen mitgebracht, und nachdem ich gesättigt bin, schlafe ich wieder ein. Beim nächsten Erwachen begrüßt mich Sibel, dann ist es Isabel, es ist Dunja, dann Nino, dann wieder Mira und wieder Pitra, und dann kommen auch meine Mutter und meine Schwestern vorbei. Sie alle sprechen mit mir, als wäre ich krank, ich weiß nicht wieso. Es ist schön, dass ihr alle zu Besuch kommt, sage ich zu Mira und Tony, aber ich habe jetzt leider keine Zeit für solche Dinge, wir stehen am Anfang einer Revolution. Ich stehe auf. Du musst liegen bleiben, Ali, mahnen die beiden, doch ich höre nicht auf sie. Ich spüre einen stechenden Schmerz im Arm, ach, da ist noch immer diese Nadel, ich muss mittlerweile bis obenhin voll sein mit dieser gelben Flüssigkeit, wahrscheinlich fühle ich mich deshalb so eigenartig. Bitte, Ali, leg’ dich wieder hin, geben sich Mira und Tony ganz besorgt. Ich höre halb auf sie und bleibe auf der Bettkante sitzen. Und dann erinnere ich mich plötzlich.
Wo ist Djaafar, frage ich, wo ist Gülertan Dolas, was ist mit den anderen, die wir befreit haben? Befreit, fragt Mira und wirft mir einen verständnislosen Blick zu. Gülertan ist, glaube ich, bei seiner Frau, sie werden ihn sicher bald wieder verhaften, antwortet Tony bedrückt. Von Djaafar wissen wir noch nichts, der wird vielleicht untertauchen. Gut, sehr gut. Haben die Zeitungen schon darüber geschrieben, will ich wissen. Keine Ahnung, sagt Tony. Mira schweigt und blickt nachdenklich vor sich hin. Und was ist mit Nino und Nicoleta und Kamal und den anderen, die dabei waren? Wo dabei, fragt Mira. Na, bei der Befreiungsaktion, antworte ich ungeduldig, verärgert über so viel Begriffsstutzigkeit. Tony und Mira tauschen einen seltsamen Blick miteinander aus. Was soll mit ihnen sein, fragt Tony. Geht es ihnen gut, sind sie zu Hause im Leo? Ja, natürlich, beruhigt mich Mira und mustert mich, als hätte ich ihr von einem Ausflug zum Mars erzählt.
Bevor die beiden aufbrechen, bitten sie mich erneut, mich wieder ins Bett zu legen. Du hattest wahrscheinlich so eine Art epileptischen Anfall, fühlt Mira sich bemüßigt, mir zu erklären, das vermuten jedenfalls die Ärzte. So ein Unsinn, wische ich derart absurde Spekulationen vom Nachttisch. Naja, schränkt Mira ein, sie sind noch nicht sicher. Aber jedenfalls bist du sehr geschwächt und brauchst ein paar Tage Ruhe.
Als die beiden weg sind, kommt endlich wieder meine weiße Schwester, diesmal ohne ihren Herrn und Gebieter. Setzen Sie sich zu mir, meine schöne Schwester. Sie lächelt geschmeichelt, macht aber keine Anstalten, sich auf das Anstaltsbett zu setzen. Ihr Lächeln wird noch breiter, als ich sie in ihrer Muttersprache Bulgarisch anspreche, und da setzt sie sich dann doch zu mir, o Wonne, o Macht der Sprache … Als sie schließlich aufbricht, o Trauer, o Schmerz, bitte ich sie um Zeitungen, ein paar Minuten später bringt sie sie mir. Hab’ ich Ihnen eigentlich schon gesagt, dass Sie die schönsten Augen zwischen Sofia und Saratoga Springs haben, Schwester Tanja? Sie zerschmilzt und fließt aus dem Zimmer. Als sie weg ist, ziehe ich endlich die Nadel aus dem Arm und vertiefe mich in die Zeitungslektüre. Zwar wird über einen Ausbruch von ungefähr dreißig Häftlingen aus dem Polizeigefängnis berichtet, es sei jedoch unklar, wie es ihnen gelingen konnte, sich zu befreien. Enttäuscht lasse ich die Zeitungen sinken und gleite langsam in den Schlaf.
Als ich aufwache, liege ich in einem anderen Raum. Mein Bett steht neben dem Fenster, links von mir gibt es zwei weitere Betten, beide sind belegt, einer der beiden jungen Männer hat gerade Besuch. Und dann kommt auch für mich Besuch, Djaafar steht plötzlich an meinem Bett. Djaafar, Bruderherz, rufe ich erfreut, will aufstehen, doch plötzlich ist da dieser stechende Schmerz am Arm, da hat man mich doch tatsächlich im Schlaf wieder angestochen, ich muss mit Schwester Schönauge reden, das kann so nicht weitergehen! Ich ziehe die Nadel aus dem Arm und folge Djaafar auf den Gang. Wir ziehen uns in einen stillen Winkel zurück, Djaafar hat natürlich zur Feier des Tages frisches Kraut mitgenommen, braver Junge, auf ihn ist wirklich Verlass. Wir rauchen also ein bisschen und sprechen von alten Tagen und auch von den neuen, die für Djaafar angebrochen sind. Er hat Unterschlupf bei einem Freund gefunden und plant, bald nach Belgien aufzubrechen, um zu seinem Onkel zu ziehen, diesmal will er alles gut vorbereiten, um nicht wieder zurückgeschickt zu werden. Wir helfen dir, biete ich ihm an, wir haben dich befreit, jetzt können wir auch dafür sorgen, dass du in Freiheit bleibst und es bis zu deinem Onkel schaffst. Auch er schickt mir einen seltsamen Blick, kommt aber nicht mehr dazu, mir zu antworten oder für die Befreiung zu danken, denn plötzlich entdeckt uns Schwester Tanja. Bist du verrückt, Ali, schimpft sie. Ja, antworte ich, nach dir, schönste aller Schwestern. Doch diesmal wirkt sie nicht geschmeichelt, sondern besteht darauf, dass wir die Zigaretten ausmachen. Du musst sofort wieder ins Bett, und Infusion musst du auch machen! Sie schnuppert kurz und wirft mir einen argwöhnischen Blick zu. Schwesterchen, woher kennst denn du diesen Geruch, frage ich tadelnd, doch statt zu antworten, führt sie mich zurück ins Zimmer und steckt mich eigenhändig ins Bett.
In den nächsten Tagen kommen einige meiner Mitbewohner zu Besuch, ich bin gerührt über so viel Aufmerksamkeit. Auch sie sprechen nicht über unsere Befreiungsaktion, es ist, als hätten alle beschlossen, diesen Punkt auszuklammern, vielleicht ist es ja einfach nur Rücksicht einem vermeintlich Kranken gegenüber. Der eingebildete Kranke bleibt jedenfalls noch ein paar Tage im Krankenhaus, er möchte den Abschied von Schwester Tanja noch ein wenig hinauszögern, doch dann wird es Zeit, dem Leben wieder ins Auge zu sehen, auch wenn der Abschied für beide Seiten ein tränenreicher ist. Die Pflicht ruft laut und deutlich, die Welt braucht Ali Idaulambo, vor allem aber braucht sie Djibrail, und sie braucht Faruq.
Ich mache mich gleich an die Arbeit, als ich wieder im Leo bin, ich möchte beim Mittagessen eine neue Versammlung einberufen, stoße aber auf unerwarteten Widerstand. Du darfst nicht, Ali, meint Kamal ganz besorgt, Ist nicht gut für Gesundheit, sagt Nicoleta, Du musst schonen, meint sogar die wilde Nino, Blablabla, meint Djamila, und Blablabla meinen auch die anderen. Was ist denn mit euch los, reagiere ich fassungslos, hat man euch alle gehirngewaschen? Betretenes Schweigen. Es ist nicht gut für dich, fängt Tomo wieder an, sonst du wirst noch einmal krank. Ich war nie krank, entgegne ich ihm, das war doch alles nur gespielt, habt ihr das nicht kapiert? Es ist alles Teil eines Plans, einer Strategie, auch wenn ich euch jetzt nicht mehr darüber erzählen kann. Wieder betretenes Schweigen. Okay, okay, ich bin ja gerührt über eure Fürsorge, und ich darf euch keinen Vorwurf machen, denn da stecken sicher Mira und Tony und vielleicht auch der Onkel dahinter. Aber wenn ihr Djaafar und Gülertan und die anderen, die wir befreit haben, nun im Stich lasst, dann war unser ganzer Kampf in den letzten Monaten umsonst. Ich will fortfahren, meinen Genossinnen und Genossen ins Gewissen zu reden, doch da kommen Zakia und Hans, und ich verschiebe die Sache auf einen späteren Zeitpunkt.
Die Einzige, die mich nicht wie einen Kranken behandelt, ist Dunja. Morgen Nachmittag ist Geigenstunde, sagt sie, als sie vom Mittagstisch aufsteht, um vier Uhr. Und schon ist sie fort, ohne meine Antwort abzuwarten, doch es war ja ohnehin keine Frage, sondern ein Befehl. Punkt vier Uhr klopfe ich also am nächsten Tag brav an Dunjas Zimmertür, warte eine Viertelstunde, bis sie bereit ist, trage ihren Geigenkasten hinüber in den Unterrichtsraum und entschuldige mich bei Paul für die Verspätung. Dunja spielt den ersten Satz aus Tschaikowskys Violinkonzert, und ich muss zugeben, sie hat Talent. Wunderbar, lobt auch Paul, doch dann wagt er es, ein paar Details zu kritisieren, schlägt da einen anderen Strich oder Fingersatz, dort ein crescendo oder diminuendo vor, fordert mehr Zurückhaltung an der einen und sorgfältigere Intonation an der anderen Stelle, und ich übersetze, was ich davon für angebracht halte. Sag’ ihm, er hat von Tschaikowsky keine Ahnung, lautet Dunjas Reaktion. Sie sagt, sie wird deine Anregungen für die nächste Stunde berücksichtigen, übersetze ich, und Paul nickt zufrieden.
Hat’s dir gefallen, frage ich nachher. Sie zuckt mit den Schultern. Mein Lehrer in Inguschetien war hundert Mal besser. Selbstverständlich, aber gibt es eigentlich irgendetwas, das dir hier gefällt? Sie überlegt nicht lange. Eigentlich nicht. Wieso gehst du dann nicht nach Tschetschenien zurück, frage ich und weiß schon, wie sie reagieren wird. Ich komme aus Inguschetien, protestiert Dunja auch prompt, ohne meine Frage zu beantworten.
Versteh’ uns nicht falsch, sagt Mira gerade, als ich meinen Beobachtungsposten einnehme, wir möchten dich sicher nicht zu einer Abtreibung überreden. Eine Abtreibung ist etwas sehr … Mira sucht nach dem richtigen Wort im Russischen … etwas sehr, sehr Trauriges, aber in manchen Fällen ist sie vielleicht trotzdem die bessere Lösung. Nino sitzt mit hängenden Schultern und gesenktem Blick in ihrem Sessel und schweigt. Es ist schon unter normalen Umständen sehr schwierig, in deinem Alter ein Kind großzuziehen, noch dazu ohne Vater, schaltet sich Hans ebenfalls auf Russisch ein, als Asylwerberin hast du’s aber doppelt schwer. Du kannst jeden Moment abgeschoben werden, was dann? Und wenn du Asyl bekommst, dann musst du arbeiten gehen, um dich und dein Kind durchzubringen. Wer kümmert sich dann um das Kind? Nino schweigt. Ich will keine Abtreibung, sagt sie dann. Hans ringt nach Worten und flüchtet sich ins Kärntnerische. Du kunntast jo dos Kind zur Wölt bringen und donn zur Adoption freigeben. Nino schüttelt langsam den Kopf. Wenn du willst, kann ich für dich einen Termin mit unserer Psychologin vereinbaren, bietet Mira an. So was brauch’ ich nicht, ich bin ja nicht krank im Kopf, lehnt Nino schroff ab. Hans und Mira müssen beide grinsen. Vielleicht kann sie dir trotzdem besser als wir beide helfen, eine Entscheidung zu treffen, meint Mira. Du host nur noch a Woch’n Zeit für die Entscheidung, glaubt Hans sie erinnern zu müssen, und prompt beginnt Nino zu heulen. Mira steht auf und streicht ihr sanft über die zerzausten Haare. Hans, sagt sie auf Deutsch, kann ich einen Augenblick alleine mit Nino sprechen?
Ich weiß nicht, ob es dir bei deiner Entscheidung helfen wird, aber ich möchte dir etwas erzählen, beginnt Mira, nachdem Hans das Zimmer verlassen hat, aber erzähl’ es bitte nicht weiter. Nino nickt. Ich hab’ auch eine ungeplante … eine ungewollte Schwangerschaft erlebt. Nino blickt auf, plötzlich aus ihrer Agonie gerissen. Wie alt warst du da, fragt sie. Ich war dreiundzwanzig, keine sechzehn, das macht natürlich einen Unterschied. Und? Wie hast du …? Mira lächelt. Du kennst meine Tochter. Alenka? Mira nickt. Ich hab’ nur eine, und dabei wird’s wohl auch bleiben. Was war mit dem Mann … dem Vater? Mira zögert, ihr Blick fällt zu Boden. Du musst es nicht erzählen, sagt Nino rasch. Mira schüttelt den Kopf. Es ist schon okay, sagt sie, es ist nur … ich hab’ ihn … ich hab’ ihn kaum gekannt.
Hört, hört! Bei der Einvernahme verwickelt sich die Antragstellerin Obranović, Mirela, laufend in Widersprüche. Zuerst erzählt sie ihrer Tochter, Obranović, Alena, jahrelang vom Vater, Obranović, Mladko, als Letzterer wider Erwarten plötzlich auftaucht, ist die Rede von zwei möglichen Vätern, nun spricht die Ast. definitiv von einer ungewollten Schwangerschaft und einem Vater, den sie kaum kannte. Aufgrund dieser widersprüchlichen Aussagen erscheint die Ast. der erkennenden Behörde nicht glaubwürdig. Okay, okay, ich weiß, Mira hat es schwer, Mira hat es sehr schwer, ich beneide sie nicht, ich bedaure sie, ich fühle mit ihr. Aber ich, Faruq, der, der zwischen Wahrem und Falschem unterscheidet, ich weiß, dass sie nicht die Wahrheit oder zumindest nicht die ganze Wahrheit sagt.
Und … du wolltest das Kind nicht, will Nino wissen. Ja und nein. Mira weicht Ninos Blick aus. Ich wollte ein Kind, aber nicht … nicht von diesem Mann, nicht in dieser Situation. Und warum hast du dann doch …? Mira zuckt mit den Schultern. Man weiß nicht immer, warum man bestimmte Entscheidungen trifft. Ich hatte erst sehr spät die Möglichkeit … ich bin erst sehr spät zum Arzt gegangen, aber ich glaube, als ich beim Ultraschall zum ersten Mal dieses winzige Etwas gesehen hab’, da gab es für mich … da gab es keine andere Möglichkeit mehr. Und, hast du es bereut, fragt Nino nach einer Weile. Mira antwortet nicht gleich. In den ersten paar Jahren gab es manchmal Zeiten, sagt sie dann, da habe ich es bereut, ja. Aber heute bin ich trotz aller Schwierigkeiten, die es gab und gibt, sehr, sehr, sehr froh darüber. Mira steht auf, und Nino blickt lächelnd zu ihr hoch, während ihr gleichzeitig ein paar Tränen über die Wangen laufen.
Die nächsten Tage gehen rasch vorbei, sie scheinen es darauf angelegt zu haben, Nino die Zeit für ihre Entscheidung zu verkürzen. Und dann ist es so weit, die Frist ist abgelaufen, Nino trägt immer noch die Frucht eines kurzen, lustvollen Augenblicks im Leibe und hat sich entschlossen, die Konsequenzen dieses Augenblicks ein Leben lang zu tragen. Nino, ausgerechnet Nino, die nichts ernst und alles auf die leichte Schulter zu nehmen schien, die selbst von ihren jugendlichen Mitbewohnern des Öfteren als leichtsinnig kritisiert wurde, ausgerechnet sie hat sich dazu entschlossen, Verantwortung zu übernehmen! Die Überraschung ist groß, die Reaktionen sind unterschiedlich und reichen von kindlicher Freude bei Djamila über Gleichgültigkeit bei Dunja zu Furcht um Ninos Seelenheil bei Oma oder schroffer Verurteilung bei Murad. Sie ist ein Hure, schimpft Letzterer beim Abendessen, nachdem Nino den Raum verlassen hat. Leider bekommt er diesmal keine Ohrfeige von Kamal, wobei ich auch gegen Wangendatteln nichts einzuwenden hätte, ich selbst fühle mich allerdings für derlei Grobheiten in diesem Fall nicht zuständig.
Es ist kurz nach ein Uhr nachts, als ich aufwache. Ich versuche, wieder einzuschlafen, doch das Schnarchen von Kamal und Yaya hält mich wach. Schließlich stehe ich auf und verlasse das Zimmer. Ich gehe zum Treppenhaus, am Treppenabsatz bleibe ich stehen. Ich ziehe ein paar Mal hintereinander die Luft ein, dann wird mir plötzlich klar, dass es eindeutig nach Pitras Lammeintopf riecht.
Ich steige hinunter in den zweiten Stock, und wieder ist da Licht im Zimmer der Schwarzen Köchin. Es sollte schon längst wieder vergeben sein, doch in letzter Zeit werden die leer stehenden Zimmer und Wohnungen nicht so schnell aufgefüllt wie früher. Ich bleibe vor der Tür stehen, lege mein Ohr daran, schnuppere am Türspalt, der Geruch ist viel stärker als oben im letzten Stock, ich klopfe, dann trete ich ein. Natürlich ist das Zimmer leer, natürlich ist Pitra nicht da, kein Topf steht auf dem Herd, doch der Geruch ist unverkennbar. Pitras Hab und Gut ist immer noch da, und wieder scheint es mir, als wären einige Figuren anders arrangiert als beim letzten Mal. Ich drehe das Licht ab, schließe die Tür hinter mir und kehre in den letzten Stock zurück.
Ich kann auf dein Kind aufpassen, sagt Nicoleta gerade auf Russisch, als ich mich der Küche nähere, natürlich nur, wenn du das willst, fügt sie hinzu. Ich bleibe neben der Tür stehen und warte auf Ninos Antwort. Sie schweigt, plötzlich höre ich sie schluchzen. Danke, sagt sie dann, nachdem sie sich geräuschvoll die Rotznase geputzt hat, wer weiß, ob ich in sechs Monaten noch in Österreich bin. Besteck quietscht über einen Teller. Au, sagt Nino, das tut weh. Meine Mutter war schwanger, da war ich ungefähr acht Jahre alt, beginnt Nicoleta mit vollem Mund zu erzählen, es sollte ein Bub werden. Ich hab’ mich schon sehr gefreut auf einen kleinen Bruder, aber dann ist meine Mutter krank geworden, und dann war der kleine Bruder plötzlich weg. Ich hab’ tagelang geweint, schließt Nicoleta traurig und holt sich zum Trost einen Nachschlag aus dem Kochtopf. Nino schweigt, doch was soll eine werdende Mutter zu solchen Geschichten auch sagen! Erzähl’ etwas über deine Mutter, fordert Nicoleta sie schließlich auf. Was denn? Irgendetwas, was dir so einfällt. Nino überlegt nicht lange. Meine Mutter hat sich entweder betrunken oder mit Arschlöchern herumgetrieben, manchmal hat sie sich auch betrunken und mit Arschlöchern herumgetrieben, das ist alles, was mir zu ihr einfällt. So darf man nicht über seine Mutter sprechen, wendet Nicoleta bestürzt ein, dieselbe Nicoleta, deren Mutter sich ebenfalls im Alkohol ertränkte, dieselbe Nicoleta, die von ihrer Mutter im Stich gelassen wurde! Doch das weiß Nino nicht. Wenn es wahr ist, darf man das schon, beharrt sie. Aber es muss doch auch irgendetwas Schönes geben, das du mit deiner Mutter erlebt hast. Ich weiß nicht, meint Nino skeptisch. Irgendetwas Lustiges, fordert Nicoleta, und ich muss an ihre Zeit im Kinderheim denken, etwas Fröhliches, sagt sie, ich denke an ihre Erlebnisse in Serbien, etwas, wo du auf deine Mutter stolz warst. Nino scheint lange in ihren Erinnerungen kramen zu müssen, es fehlt ihr ganz offensichtlich Nicoletas Gabe, sich die schönen Erlebnisse einfach zu erfinden. Ich kann mich an Tage am Strand erinnern, in Sochumi, als ich noch klein war, erzählt sie schließlich zögernd, da war meine Mutter fröhlich. Auch bei meinen Großeltern konnte sie manchmal fröhlich sein, obwohl das nicht ihre Eltern waren, sondern die von meinem sogenannten Vater. Die hab’ ich sehr gemocht, sie wohnten in einer alten Villa mit Garten, das heißt, eigentlich lebten sie im Gartenhaus, die Villa gehörte einem reichen Georgier. Aber der Georgier musste dann flüchten, wegen der Russen, und meine Großeltern und die anderen Georgier auch. Und ihr … deine Eltern und du? Meine Mutter und ich sind geblieben, wir mussten nicht flüchten. Sie war Russin, ist Russin, was weiß ich. Und dein Vater? Den hab’ ich nie kennengelernt, der hat sich bald nach meiner Geburt verdrückt. Später sind wir dann auch weggegangen von Sochumi, zuerst nach Batumi, dann nach Tbilisi. Und warum bist du dann aus diesem … Bilisil nach Österreich geflüchtet? Ich hab’ ein paar Mal Flugblätter verteilt und war bei Demonstrationen dabei, gibt sich Rotkäppchen als mutige Revoluzzerin, deshalb war ich auch ein Mal im Gefängnis. Glaub’ ihr nicht, möchte ich Nicoleta laut zurufen, ich, Faruq, weiß, dass sie nicht die Wahrheit sagt! Doch ich schweige, um die beiden nicht auf mich aufmerksam zu machen, und Nicoleta glaubt ihr. Das ist mutig, sagt sie, das hätte ich mich nicht getraut. Und dann hört man das Kratzen von Metall auf Metall, Nicoleta scheint in den Kochtopf zu kriechen, um die allerletzten Reste des Mittagessens herauszuholen, und ich verlasse meinen Horchposten, um mir den Schlaf des Gerechten zu gönnen.