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Manu ist auch am nächsten Tag nicht da. Seit vier Tagen hat ihn niemand gesehen, weder Nachbarn noch Betreuer, bei denen sich jeder Bewohner täglich melden sollte. Ich weiß nicht, wo ist er, sagt John, der mit ihm die Wohnung teilt, zur Schönen Helena. Sie steht mit zwei Betreuern im vorderen der beiden Räume, ich habe mich so auf dem Gang postiert, dass ich alles mitverfolgen kann, ohne gesehen zu werden. Der vordere Raum ist ein Durchgangszimmer, in dem sich Johns Bett, die Kochnische und ein Waschbecken befinden. Daneben liegt ein kleinerer Raum, der von Manu bewohnt wird. Die Tür zu diesem Raum ist versperrt. Manu sonst nicht macht Türe zu, sagt John. Versuch noch mal, ihn anzurufen, befiehlt die Generalin einem der beiden Betreuer. Der Befehl wird ausgeführt, und nach ein paar Sekunden hört man eine arabisch anmutende Melodie aus Manus Zimmer. Läutet ganze Tag, sagt John genervt, und auch Nacht. Scheiße, entfährt es der Generalin, Sir, yes, Sir, lautet die korrekte Antwort der beiden Offiziere, und als der Befehl zum Aufbrechen erteilt wird, stürzen sie sich mit Schraubenziehern bewaffnet der Tür entgegen. Wäre das Ganze zwei Wochen früher geschehen, so hätte man vom Baugerüst aus zumindest einen Blick in das Zimmer werfen können, doch das Gerüst wurde vor wenigen Tagen abgebaut. Das Schloss muss also dran glauben, und als es geknackt und geknickt ist und die Schöne Helena, John und die beiden Betreuer in Manus Zimmer treten, schleiche ich mich leise in den vorderen Raum. Ich weiß, die vier denken an einen ehemaligen Bewohner aus Äthiopien, der sich im vergangenen Jahr in seinem Zimmer erhängt hat, weil er das Warten nicht länger ertragen konnte.
Hilf mir mal, höre ich einen der beiden Betreuer zum anderen sagen. Ich schleiche mich näher an die Tür heran, sehe das leere, ungemachte Bett und das Fenster, doch die beiden Betreuer scheinen hinter der Tür zu Gange zu sein. Ich trete noch näher, doch da bin ich schon im Augenwinkel der Schönen Helena angelangt. Was machst du hier, bellt sie mich an. Je cherche Manu, mon Général, melde ich gehorsamst, und bevor sie mich fortschicken kann, bin ich schon in Manus Zimmer getreten. Die beiden Betreuer kommen gerade aus dem toten Gewinkel hinter der Tür hervor. Manu ist verschwunden, stellt einer der beiden mit kriminalistischem Scharfsinn fest und wischt sich die staubig gewordenen Hände an den Hosenbeinen ab, und bevor mir Frau Schlagnitweit-Manastiris in ihrer bekannt charmanten Art ebenfalls das Verschwinden nahelegt, entferne ich mich.
Wieder einmal sitze ich auf meinem Lieblingsplatz in der Astgabel des Affenbrotbaumes hinter dem Haus. Es ist Nachmittag, es ist still im Dorf, und trotzdem höre ich die Soldaten nicht kommen. Erst, als meine Mutter und meine Schwestern aufschreien, weiß ich, dass sie da sind. Eines Tages mussten sie ja auch zu uns kommen, ich wusste es, es war unvermeidlich. Ich springe vom Baum und laufe zum Eingang. Der groß gewachsene Soldat steht davor, das Gewehr in beiden Händen. Drinnen höre ich meine Mutter und meine Schwestern schreien, ich höre das Lachen der Soldaten. Ich verschwinde um die Ecke. Eines der Fenster an der Seite des Hauses gehört zur Küche. Ganz langsam richte ich mich auf, um durch das staubige, an zwei Stellen durchlöcherte Fliegengitter hindurchzuspähen. Nur zwei oder drei Meter von mir entfernt sehe ich zwei Soldaten, die meine ältere Schwester festhalten, ein dritter vergeht sich gerade an ihr, ein vierter versucht meine Mutter zu bändigen und ihre Schreie zu ersticken. Ich stehe wie gelähmt da, ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein Vater und mein Bruder sind in die Stadt gefahren, die meisten Nachbarn sind auf den Feldern, ich kann nirgendwo Hilfe holen, allein kann ich nichts ausrichten gegen mehrere bewaffnete Männer. Plötzlich höre ich schwere Schritte, dann taucht der Soldat, der vorher vor dem Eingang stand, an der Ecke auf, er erblickt mich, ich will weglaufen, kann mich aber nicht bewegen, es fällt ein Schuss – – – und ich wache auf.
Du hast geschreit gestern Nacht, sagt Yaya am nächsten Morgen zu mir. Du musst dich irren, antworte ich ihm, ich schreie nicht im Schlaf, das hast du sicher nur geträumt.
Manu ist wieder da, erzählt mir Namuna zwei Tage später im Lift, als ich gerade auf dem Weg zum EDV-Kurs bin. Warum er fort war, weiß sie nicht, sie hat ihn selbst noch nicht gesehen, sondern nur durch John von seiner Rückkehr erfahren, doch Hauptsache, er ist wieder da und wohlauf. Wohlan, das sollte gefeiert werden, doch ich muss ja zum Kurs, nach dem Kurs vergesse ich Manu, fahre wieder in den letzten Stock, das Mittagessen ist ebenfalls zum Vergessen, und anschließend sorgt Yaya dafür, dass Manu auch für den Rest des Tages in oblivio verbleibt. Als ich nämlich nach dem Essen ins Zimmer trete, ist er gerade dabei, die fünf schönen Aquarelle, die seit dem sommerlichen Malkurs über seinem Bett hingen, von der Wand zu reißen. Eines nach dem anderen gleitet zu Boden, dann hebt er das erste auf, zieht ein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündet eine Ecke des Papiers an. Was machst du mit den schönen Porträts, frage ich ihn bestürzt, während gefräßige Zungen das Papier verzehren. Sie zerstören das Gesicht des Mädchens, lecken gierig an Yayas Hand, doch Yaya scheint keinen Schmerz zu spüren, lässt erst im allerletzten Augenblick den kläglichen Rest des Blattes fallen. Ich hab’ sie getötet, sagt er leise auf Krahn. Er bückt sich, um das nächste Blatt aufzuheben, doch da falle ich ihm sanft in den Arm. Aber hast du sie nicht in den Bildern wieder zum Leben erweckt? Ich hab’ sie getötet, wiederholt er unbeirrt und fasst nach dem nächsten Aquarell. Und jetzt willst du sie ein zweites Mal umbringen? Da hält Yaya inne, die Hand bleibt in der Luft, und ich nutze die Pause, um einzugreifen. Ich nehme Yaya das Feuerzeug aus der einen, das Bild aus der anderen Hand und ziehe ihn neben mir aufs Bett. Er lässt es mit sich geschehen, doch während ich beruhigend auf ihn einspreche, wiederholt er immer nur den einen Satz: Ich hab’ sie getötet, und er streicht dabei abwechselnd mit der einen und dann wieder mit der anderen Hand über sein Amulett. Willst du mehr darüber erzählen, frage ich ihn. Er schüttelt den Kopf. Irgendwann beruhigt er sich, ich schlage vor, die Bilder in meinem Spind aufzubewahren, und bin erstaunt, als er tatsächlich einwilligt. Wann immer du sie zurückhaben oder ansehen möchtest, musst du es nur sagen, versichere ich ihm, und er nickt.
Zwar nehme ich Yayas Bilder in den nächsten Tagen immer wieder zur Hand, breite sie auf dem Bett aus und versuche, im Gesicht des Mädchens zu lesen wie in den Gesichtern meiner Mitbewohner, doch vergebens. Auch lasse ich Yaya selbst nicht aus den Augen, aber natürlich warten noch zahlreiche andere Aufgaben auf mich, die gelöst werden wollen. Zu den besonders dringenden gehört sicherlich der Fall Cubreacu.
Cu-bra-cu, Nicoleta, buchstäbelt der Administrant mühselig. Cubreacu, korrigiert Nicoleta ihn mit dünner Stimme, ja, hier. Baka … Buka … Bakuradze, unterbricht Nino den Mann ungeduldig, jaja. Nikolić, Tomislav, verliest er fehlerfrei und voller Enthusiasmus, sichtlich froh, endlich einen vertraut klingenden Namen auf der Liste zu haben. Ali Idaulambo ist mein Name, und ich bin auch hier, lasse ich ihn wissen, bevor er sich auch an meinen Buchstaben vergreifen kann.
Es sind zehn Jugendliche, die sich für den Berufsschnupperkurs angemeldet haben, die Hälfte von ihnen stammt aus unserem Haus, die andere Hälfte aus anderen Etablissements. Es gibt einen einleitenden Vortrag eines gewissen Dr. Wurst, nicht Hans, nein, Franz heißt die Kanaille, klobassenbraunes Sakko, korrekt gebundene rindszungenrosa Krawatte, der versucht, uns über Sinn und Zweck und Aufbau dieses Kurses zu informieren. Es ist für Asylwerber fast unmöglich, Arbeit zu finden, erklärt er, ich bedaure das, der Gesetzgeber sieht es leider so vor, aber hin und wieder schafft man es doch, für den einen oder anderen eine Stelle aufzutreiben. Damit Sie für diesen Fall gerüstet sind, damit Sie schon jetzt ein paar Erfahrungen sammeln können – dafür gibt es diesen Kurs. Außerdem ist davon auszugehen, dass zumindest einige von Ihnen tatsächlich Asyl bekommen werden, und dann steht Ihnen natürlich das Berufsspektrum in seiner ganzen wunderbaren Breite zur Verfügung. Die Berufe, mit denen Sie im Rahmen dieses Kurses konfrontiert werden, sind also zum Teil solche, denen Sie mit etwas Glück bereits jetzt nachgehen können, andere wiederum sind anerkannten Flüchtlingen vorbehalten. Hinzufügen möchte ich aber noch, dass sich die Gesetzeslage ab kommendem Jahr wahrscheinlich ändern wird, dass also die Zugangsbestimmungen für manche Berufsgruppen andere sein könnten. Applaus, Applaus, und Abtritt Dr. Wurst.
Der erste Beruf, den Dr. Wurst oder der Gesetzgeber oder vielleicht auch eine andere, möglicherweise noch höhere Macht für uns ausgewählt hat, ist der des Straßenkehrers, ein weiser Entschluss, gibt es doch überall auf der Welt zu bekehrende Straßen, zudem benötigt man weniger Sprach- und sonstige Vorkenntnisse als in vielen anderen Sparten, obwohl nicht verschwiegen werden soll, dass sich in den letzten Jahren auch immer mehr Akademiker frohen Herzens und freien Stückes für diese zukunftsträchtige Karriere entschieden haben. Die Tage eins bis drei sind den theoretisch-philosophischen Grundlagen des Straßenkehrens gewidmet; am vierten Tag, alles ist schon gespannt und freudig erregt, dürfen wir zum ersten Mal die schneidige orangefarbene Uniform des Straßenkehrers tragen, dürfen zum ersten Mal selbst den Besen zur Hand nehmen. Zwar hat jeder von uns schon in diversen Heimen Kehrerfahrung gesammelt, doch diesmal geht es nicht um den doch so eng begrenzten Raum eines Asylwerberheims, sondern um den unendlich größeren und vor Geschichte strotzenden öffentlichen Raum; diesmal handelt es sich nicht um einen gemeinen Hausbesen, sondern um ein Werkzeug, das ein aktives Eingreifen in die Geschichte erlaubt, ein kostbares Instrument der Selbstermächtigung also, und die paar Stunden, in denen wir eingreifen, vergehen wie im Sturzflug.
Auch am fünften Tag sollen wir die Freiheit der Straße genießen, sollen Seite an Seite mit erfahrenen Veteranen den ganzen Tag draußen verbringen dürfen, doch die Wettergöttinnen und -götter haben anderes mit uns im Sinn oder Unsinn: An diesem Tag, es ist der 14. Oktober, gibt es den ersten Schnee. Für Gloria und Anandu, zwei junge Afrikanerinnen, ist es der erste ihres Lebens, sie lachen wie Kinder, versuchen die Schneeflocken einzufangen und lassen sie auf der Zunge zergehen. Zwar bleiben die dicken Flocken nicht liegen, und das Gestöber geht schon bald in Dauerregen über, doch an ein Weitermachen ist unter solchen Bedingungen nicht zu denken; statt der Straße reinigen wir also unter fachkundiger Anleitung eines Praktikers – Na, net so, du Bleampl, hobt’s es bei eich daham kane Besen – die riesige Halle eines ehemaligen Schlachthofes. Heast Madl, iss was Gscheit’s, du bist ja dünner ois wia da Besen, gibt der erwähnte Praktiker Nicoleta, die ich die ganze Woche nicht aus den Augen ließ, mit auf den Lebensweg. Dann werden wir vor der Zeit entlassen, wenn auch nicht fristlos, denn nach dem Wochenende wartet ja schon das nächste fröhliche Berufsgeschnupper auf uns.
Ermittlungsmäßig war diese Woche, ich muss es gestehen, ein mäßiger Erfolg, es gibt kaum etwas Neues über den Fall Cubreacu zu berichten. Die einzige, wenig erfreuliche Neuigkeit: Als Nicoleta bei der Arbeit die Ärmel aufkrempelt, entdecke ich mehrere Schnittwunden an ihrem linken Unterarm, und mein Gefühl sagt mir, dass sie sich selbige vorsätzlich zugefügt hat.
Und eines Tages, Yaya hat sich gerade auf den Weg in Dr. Davidovychs Gummizelle gemacht, ich kann also in Ruhe seine Aquarelle studieren, eines Tages spricht das Mädchen auf den Bildern zu mir. Ich heiße Adjoua, beginnt sie endlich zu erzählen, die montags Geborene. Sie kommt aus Goualé, einem kleinen Dorf im Landesinneren von Côte d’Ivoire. Adjoua ist vierzehn, als der Krieg ausbricht. Worum es in diesem Krieg eigentlich geht, das weiß niemand so genau. Es gibt Rebellen, die gegen die Regierung kämpfen, es gibt Rebellen, die auf der Seite der Regierung gegen andere Rebellen kämpfen, und dann gibt es noch Soldaten mit blauen Helmen, die die anderen am Kämpfen hindern sollen. Goualé liegt genau mittendrin zwischen allen Fronten. Männer in verschiedenen Uniformen kommen von Zeit zu Zeit ins Dorf und rauben, was sie brauchen, Geld, Lebensmittel, Hühner, Ziegen, Kühe, manchmal nehmen sie auch junge Männer, Mädchen oder Frauen mit.
Yaya – als er jetzt ins Zimmer zurückkommt, ist auch sein Gesicht mit einem Mal ein offenes Buch für mich – gehört zu einer Rebellengruppe, die aufseiten der Regierung kämpft. Er ist zwölf oder dreizehn, so genau weiß er es selbst nicht, die Soldaten haben ihn ein paar Wochen zuvor in seinem Dorf rekrutiert. Sie haben dem Chief mit Waffengewalt gedroht, der ließ alle Burschen ab zehn Jahren auf dem Dorfplatz antreten. Sie boten Geld, es war nicht wenig Geld, zusätzlich zum Sold versprachen sie freie Verpflegung, ein verlockendes Angebot, auf das einige im Dorf eingingen. Aber selbst jene, die wie Yaya das Angebot ablehnten, wurden schließlich gegen ihren Willen im Morgengrauen aus den Betten gejagt, ein Vater, der gar zu eifrig seinen Sohn zu verteidigen versuchte, wurde erschossen.
Yaya wird mitgenommen in ein Lager bei einer ehemaligen Plantage. Die Uniform, die er bekommt, ist ein wenig zu groß, sie hat ein Loch in der rechten Brusttasche, dort, wo ein Vorgänger tödlich getroffen wurde. Sie drücken ihm eine Waffe in die Hand, sie lehren ihn, wie man sie auch im Dunkeln auseinandernimmt und wieder zusammensetzt, sie beschimpfen und schinden und schlagen ihn, sie bringen ihm bei, Befehle auszuführen und zu gehorchen und mit seiner Waffe auf Menschen zu schießen. Wenn ihr das tragt, dann kann euch nichts passieren, hört ihr, sagt der Kommandant in der dritten oder vierten Woche und überreicht jedem der Neulinge einen dunkelgrünen Stein, der an einem Lederband befestigt ist. Vor jedem Kampf gibt es außerdem für alle, ob jung oder alt, einen Schluck aus der blauen Zauberflasche: Trinkt das, das macht euch unverwundbar. Das Zeug brennt in der Kehle, die Augen tränen, doch es wirkt, und Yaya hat schon mehrere schwere Kämpfe ohne den kleinsten Kratzer überstanden. Trotzdem, er gehört noch nicht richtig dazu, er ist noch kein Soldat, denn dafür muss er genauso wie jeder Neue erst eine Reihe von Mutproben bestehen.
Die ersten drei Mutproben haben Yaya und die anderen Neulinge bald hinter sich gebracht. Nun ist es Zeit für die vierte und letzte. Die Kompanie braucht neue Vorräte, es ist wieder einmal Zeit für einen Besuch in Goualé. Yaya war schon bei einem Überfall auf das Dorf dabei, dabei begegneten er und Adjoua einander das erste Mal: Yaya, der Kommandant und zwei weitere Soldaten stürmten damals Adjouas Elternhaus. Man nahm der Familie Geld ab, raubte ihnen Getreide und ein paar Ziegen, der Kommandant schoss dem Vater ins Bein, einfach so, zum Spaß, die anderen Familienmitglieder, die Mutter, Adjoua und ihre drei jüngeren Brüder, mussten tatenlos dabei zusehen. Gefällt sie dir, fragte der Kommandant und deutete mit dem Kopf auf das junge Mädchen. Yaya nickte. Dann nimm sie doch mit. Yaya blickte abwechselnd auf den Kommandanten und auf Adjoua, er wusste nicht, ob das Angebot ernst gemeint war oder nicht. Der Kommandant begann zu lachen. Wenn du noch lange zögerst, dann nehm’ ich sie, drohte er. Er griff nach Adjouas Rock, zog ihn hoch, sodass ihre Scham sichtbar wurde. Da, sagte er und lachte noch lauter, damit du weißt, was dir entgeht. Dann ließ er den Rock los und befahl den Soldaten, mit dem geraubten Gut abzuziehen. Seither war kein Tag vergangen, an dem Yaya nicht an Adjoua gedacht hätte, an ihr Gesicht, noch mehr aber an das behaarte Dreieck zwischen ihren Beinen.
Jetzt ist es drei Uhr morgens, die Kompanie ist zum Aufbruch bereit. Heute ist Zeit für die letzte Mutprobe, sagt der Kommandant zu den Frischlingen, wenn ihr die besteht, gehört ihr zu uns, wenn nicht, dann darf jeder Soldat mit euch machen, was er will. Die Soldaten grölen. Keiner der Neuen traut sich zu fragen, woraus die letzte Mutprobe bestehen würde. Die Truppe bricht auf, eine halbe Stunde später ist Goualé erreicht, jedem Neuling werden fünf oder sechs Soldaten zugeteilt.
Während ringsum die ersten Schüsse fallen, befiehlt der Kommandant Yaya und vier erwachsenen Soldaten, ihm zu folgen. Yayas Herz klopft laut, er hat Angst. Wir haben was Schönes für dich ausgesucht, sagt der Kommandant, dann stehen sie vor dem Haus, in dem Adjoua wohnt. Kein Licht ist zu sehen, kein Laut zu hören. Einer der Soldaten tritt die Tür ein, mit Taschenlampen und entsicherten Waffen stürmen die vier das Haus. Nach Ihnen, sagt der Kommandant mit gespielter Höflichkeit und lässt Yaya den Vortritt.
Die Männer haben schon alle Familienmitglieder in der Küche zusammengetrieben. Wir haben nichts mehr, was ihr uns wegnehmen könntet, sagt der Vater mit zitternder Stimme. Doch, doch, antwortet der Kommandant. Er packt Adjoua am Arm und zieht sie mit einer schnellen Bewegung zu sich. Wie heißt du, mein schönes Kind, fragt er, und sie nennt kaum hörbar ihren Namen. Er reißt ihr den Rock herunter, dann das T-Shirt, jetzt stößt er sie brutal zu Boden. Der Vater versucht, sich auf ihn zu stürzen, doch die Maschinengewehre hindern ihn daran. So, sagt der Kommandant nicht unfreundlich zu Yaya, jetzt nimm sie dir endlich, du kleiner Scheißer. Das ist der erste Teil der Mutprobe, das wirst du ja wohl noch schaffen, oder? Oder bist du eine Schwuchtel? Yaya weiß zwar nicht genau, was das Wort bedeutet, aber er schüttelt den Kopf. Denk dran, wenn du zu feig’ bist, dann gehörst du der Kompanie, erinnert ihn der Kommandant. Obwohl Yaya ein schlechtes Gewissen hat, merkt er, wie sich seine Männlichkeit aufrichtet: Es ist Krieg, versucht er seinen Kopf zu beruhigen, ich bin nicht freiwillig hier, und so tut er, wie ihm befohlen wird. Sein Geist sträubt sich, während sein Körper in das Mädchen eindringt. Er hat sich das erste Mal anders vorgestellt, doch der Körper kennt keine Skrupel, Yaya fühlt das Glückshormon in sich hochsteigen, es lässt sich nicht verhindern. So, und jetzt machst du sie tot, verstanden, befiehlt der Kommandant plötzlich. Die Eltern schreien beide gleichzeitig auf. Sie versuchen, aus der Reichweite ihrer Bewacher zu entkommen, doch vergeblich. Sie bitten und betteln, der Kommandant lacht nur. Bring sie endlich um, du Feigling, brüllt er dann, scheinbar enttäuscht von seinem Schützling, der mit erschlafftem Glied über dem Mädchen kauert. Jetzt dreh der kleinen Hure schon den Hals um! Yaya denkt an die Drohungen des Kommandanten und der Soldaten, er weiß, dass es keine leeren Drohungen sind, jeder weiß von den zehn- oder elf- oder zwölfjährigen Burschen, die vergewaltigt und erschlagen wurden, und langsam legen sich seine Hände um den Hals des Mädchens. Adjoua blickt ihn mit weit aufgerissenen Augen an, Todesangst im Blick, mehr aber noch ein ungläubiges Staunen: Du kannst so etwas doch nicht tun, scheinen diese Augen zu sagen, du bist doch kein schlechter Mensch. Man hört die Schreie der Eltern, auch von draußen sind Schreie und Schüsse zu hören, doch Adjoua gibt keinen Laut von sich. Yayas Hände drücken fester und fester, Adjoua wehrt sich. Schwächling, ruft einer der Soldaten, die anderen fallen ein, Schwächling, Schwächling! Ich glaub’, er braucht eine Pistole, feixt einer, sonst schafft er’s nicht. Kommt nicht infrage, lehnt der Kommandant ab. Er bückt sich, neben der Tür zum angrenzenden Raum liegt ein großer Stein, die Tür fällt zu, als er ihn aufhebt. Da, sagt er und überreicht ihn Yaya. Yaya zögert nur kurz, dann beginnt er mit dem Stein auf Adjouas Kopf einzuschlagen. Blut schießt hervor, der Körper des Mädchens bäumt sich auf, nach einigen Schlägen wird der Blick leer, der Körper bewegungslos, doch Yaya schlägt immer wieder zu. Der Kopf ist nur noch eine blutige Masse. Jetzt reicht’s, sagt der Kommandant. Yaya hört ihn nicht, seine Hand bewegt sich mechanisch und mit großer Kraft auf und ab. Hör auf, du Arschloch, sie ist schon tot, brüllt der Kommandant, doch es braucht zwei kräftige Männer, um Yaya schließlich von dem blutüberströmten Körper loszureißen. Die Soldaten führen ihn hinaus. Jetzt mach’ dir mal die Hose zu, sagt einer, was sollen denn da die Damen denken, wenn sie dich sehen. Die anderen lachen, Yaya gehorcht automatisch. Jetzt bist du einer von uns, sagen sie und klopfen ihm auf die Schulter. Im Lager gibt es später ein Fest, alle bis auf einen haben die letzte Mutprobe bestanden. Der geschundene Körper des einen, eines Dreizehnjährigen aus Yayas Dorf, taucht ein paar Tage später zwischen Goualé und dem Lager auf, Yaya und die anderen Neulinge müssen ihn begraben.
Ich lasse Yayas Aquarelle aufs Bett sinken, ich schiebe sie von mir fort, damit meine Tränen nicht die Farben verwischen. Was ist, fragt Yaya. Nichts, antworte ich, gar nichts. Gar nichts, wiederhole ich auch für Djaafar, der kurz darauf ins Zimmer kommt und mir einen fragenden Blick zuwirft. Er dringt nicht weiter in mich, sondern bedeutet mir mitzukommen. Schweigend fahren wir mit dem Lift ins Erdgeschoss und spazieren zu einem kleinen Park in der Nähe des Hauses, schweigend sitzen wir nebeneinander, während Djaafar einen Ofen für uns beide bastelt. Ich spüre, wie sich das Kraut allmählich in meinem Kopf ausbreitet, und mit dem Rauch, den ich in die Luft blase, steigt Adjouas und Yayas Geschichte langsam auf und verteilt sich im Himmel über Wien.