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Beim Frühstück am nächsten Tag verbreitet sich die frohe Kunde, dass Lius Geld wieder aufgetaucht sei. Des Oheims Moralpredigt, Tuet Buße, meine Schäfchen, zeigt euch als reuige Sünder, um nicht der ewigen Verdammnis anheimzufallen, scheint also ihre Wirkung gezeigt zu haben. Tatsächlich hat Liu jedoch nur vierhundert Euro zurückbekommen. Heute früh hab’ ich sie auf meinem Bett gefunden, erzählt er, als ich ihm am Vormittag über den Weg laufe. Ganz so schlecht scheint das Gewissen des reuigen Sünders also doch nicht gewesen zu sein, der Dieb oder die Diebin hat den Finderlohn zur Sicherheit gleich einbehalten … Liu ist trotzdem froh, und ich freue mich mit ihm. Doch das Schicksal fährt mit ihm in diesen Tagen Achterbahn, vorgestern riss es ihn in die Tiefe, heute früh katapultierte es ihn gen Himmel, zu Mittag geht es wieder pfeilschnell hinab Richtung Orkus: Als Dessert bekommt er einen negativen Asylbescheid zweiter Instanz serviert, das Bundesasylverhinderungsamt wünscht Gesegneten Appetit.
Wir alle sitzen heute in der Achterbahn, denn während für Liu die Alarmglocken läuten, gibt es anderswo Entwarnung: Nicoleta ist wieder da. Während Hans und Mira und der Onkel über Lius Zukunft grübeln, wird sie freudig begrüßt: Endlich du bist wieder da, freut sich Djamila. Hallo, Nicoleta, grüßt Tomo. Gibt keine Sonne, sagt er und deutet auf ihre dunkle Brille. Alles okay, sagt sie, ohne auf seine Bemerkung einzugehen, ist alles okay. Tatsächlich aber ist Nicoleta in der einen Woche ihrer Abwesenheit noch dünner und durchsichtiger geworden, und unter der billigen Brille blüht ein vielfarbiges Veilchen.
Sie habe ihren Bruder getroffen, erzählt sie, er sei für eine Woche in Österreich gewesen, sie habe ihn schon Jahre nicht mehr gesehen, er sei der beste Bruder der Welt. Sie erzählt und erzählt, hastig, fahrig, nervös, sonst ist es die Mutter, von der sie so gerne berichtet, diesmal steht der Bruder im Mittelpunkt. Mein Bruder ist Businessmann, erzählt sie Djamila, ist sehr erfolgreich, verkauft Uhren. Er arbeitet für Bank, erzählt sie Afrim wenig später. Er verkauft Elektronik, erzählt sie Tomo beim Abendessen. Ich dachte, er arbeitet für eine Bank, werfe ich ein. Neinnein, von Bank kommt Geld, korrigiert sie mich rasch. Auch über das blaue Auge verstrickt sich Nicoleta bald in Widersprüche. Sie sei gestürzt, heißt es zuerst, ihr Bruder und sie wären überfallen worden, erzählt sie am nächsten Tag, sie sei gegen einen Pfosten gelaufen, lautet Version Nummer drei. Losst’s die Nicoleta in Ruah, sagt Hans, als Djamila sie auf die Widersprüche hinweist, doch es ist Nicoleta, die uns nicht in Ruhe lässt, denn sie erzählt wieder und wieder vom besten Bruder der Welt und von der Mutter, die dem Bruder einen Brief für sie mitgegeben habe. Da, sagt sie, während wir beim Abendessen sitzen, und hält triumphierend ein gelbes Kuvert in die Höhe, meine Mutter schreibt, dass sie vermisst mir. Die anderen essen schweigend weiter, Nicoleta lässt langsam den Arm heruntersinken und beginnt zu schluchzen.
Ich will auch ein Brief von meine Mutter, sagt Djamila plötzlich. Und dann bricht auch bei ihr der Damm, der Tränenfluss lässt sich nicht mehr aufhalten und bahnt sich unerbittlich seinen Weg ins Wangental. Amal, die zwischen Djamila und Nicoleta sitzt, erwacht aus ihrer Lethargie und versucht, die kleine Schwester zu trösten, rund um mich müssen einige schlucken, ich sehe, wie sie hart kämpfen, um nicht auch in Tränen auszubrechen. Die starre Maske, hinter der sich manche zu ihrem eigenen Schutz verbergen, sie ist plötzlich verrutscht, und darunter kommen die verletzlichen Menschen zum Vorschein, die sie tatsächlich sind, halbe Kinder noch, Kinder fern von Heimat und Familie. Und ich, ich merke wieder einmal, dass ich so ganz anders als die anderen bin, und bekomme plötzlich rasende Kopfschmerzen.
Des Nachts, ich verlasse gerade das Zimmer auf der Suche nach dem verlorenen Schlaf, zerreißt ein Schrei die nächtliche Stille. Er scheint aus der Küche zu kommen, und ich beschleunige meinen Schritt. Kurz bevor ich die Küchentür erreiche, kommt mir Gjergi entgegen. Was ist los, frage ich ihn. Er scheint etwas erwidern zu wollen, doch dann drängt er sich wortlos an mir vorbei und humpelt rasch zum Treppenhaus.
Ich stoße die halb geöffnete Küchentür auf und werfe einen Blick in den großen Raum. Die beiden Tische sind leer, die Stühle stehen auf beiden Seiten in Reih und Glied, Kamal hatte Küchendienst, er nimmt das Putzen immer sehr ernst und macht seine Sache überaus ordentlich. Es ist niemand zu sehen, erst als ich die Mitte des Raumes erreiche, entdecke ich Nicoleta. Sie sitzt zusammengekauert auf dem Boden und blickt mich mit vor Schreck geweiteten Augen an. Was ist los, frage ich sie auf Rumänisch. Sie antwortet nicht, ich merke, dass sie am ganzen Körper zittert. Hab’ keine Angst, versuche ich sie zu beruhigen, es ist alles okay.
Wos is denn do los, höre ich plötzlich Hans’ Stimme hinter mir. Er tritt neben mich und hat Fabian, unseren Zivildiener, im Schlepptau. Wos host’n du geton, Ali, ruft er vorwurfsvoll aus. Einen Augenblick lang bin ich zu perplex, um zu antworten. Gar nichts, bringe ich schließlich hervor, ich hab’ gar nichts gemacht. Hans hockt sich vor Nicoleta hin, sie schlägt die Hände vors Gesicht. Geh’ weg, ruft sie aus. Hans wendet mir sein unrasiertes Antlitz zu. Wos woar denn los, fragt er mit strengem Gesichtsausdruck, und auch sein Diener meint, mich mit einem wichtigtuerischen Alles-was-Sie-von-jetzt-an-sagen-kann-gegen-Sie-verwendet-werden-Blick bedenken zu müssen. Ich erzähle von Nicoletas Schrei und von Gjergi, doch das Misstrauen in beider Blick weicht nicht. Hans wendet sich erneut Nicoleta zu und redet auf sie ein. Ich hab’ nichts getan, wiederhole ich. Gehst du jetz bitte in dei Zimma, fordert er mich auf, ohne sich zu mir umzudrehen. Ich bin kein ungezogenes Kind, mit dem man so sprechen kann, begehre ich auf, gebe aber schließlich um Nicoletas willen nach.
Ich bleibe natürlich auf dem Gang vor der Küchentür stehen, von hier aus kann ich die drei zwar nicht sehen, aber weiterhin hören. Hot dir der Ali wos geton, fragt Hans. Nein, kommt Nicoletas Antwort nach einigem Zögern, nicht Ali. Und der Gjergi? Nicoleta schweigt. Hans wiederholt die Frage. Nein, antwortet sie, Gjergi nicht. Ihre Stimme zittert noch immer. Wos woar denn donn los? Nichts. Oba wieso host’n donn gschriean? Wieder langes Schweigen. Weiß nicht, antwortet Nicoleta schließlich mit kaum hörbarer Stimme. Komm, sagt Hans. Ich höre Schritte, dann Stühlerücken, ich selbst rücke noch etwas weiter von der Tür weg in die Dunkelheit des Ganges. Hans redet weiterhin beruhigend auf Nicoleta ein, Fabian oder er bringen ihr etwas zu trinken, ich verlasse bald darauf meinen Horchposten, denn Nicoleta sagt schließlich gar nichts mehr.
Was hattest du gestern Nacht bei uns oben zu suchen, stelle ich Gjergi am nächsten Tag zur Rede. Ich weiß nicht, ob Hans oder der Onkel schon mit ihm gesprochen haben, ich treffe ihn jedenfalls bei Pitra, wo er gerade laut schlürfend seine Suppe isst. Was meinst du, gibt er verwundert zurück. Tu nicht so scheinheilig, du weißt genau, was ich meine. Ich weiß nicht, wovon du sprichst, beharrt er und stellt seinen Suppenteller auf dem Boden ab. Willst du mir vielleicht einreden, du hättest ausgerechnet gestern Nacht geschlafen und warst gar nicht im vierten Stock? Neinnein, geschlafen hab’ ich nicht, entgegnet er hastig, als wäre Schlafen eine schwere Verfehlung, die man unter keinen Umständen zugeben durfte. Er weicht meinem bohrenden Blick aus, fasst mit der rechten Hand nach seinem Stock und streicht mit langsamen Bewegungen über das dunkle Holz. Noch einmal: Was hattest du in unserer Küche bei Nicoleta zu suchen? Die Streichelbewegungen hören auf, Gjergi blickt auf und schaut mich mit seltsam entrücktem Ausdruck an. Wer ist Nicoleta?
Pitras Zimmer ist heute voll, zu meiner Rechten fällt gerade das Wort Amulett, Manu, Manu aus Guinea-Bissau, verwendet es im Gespräch mit Pitra, er erzählt von seinem Bruder. Ich lasse von Gjergi ab, hier ist, so scheint es, nichts zu holen, doch ich werde ihn in Zukunft im Auge behalten. Sein Bruder, erzählt Manu, habe das Amulett von der Großmutter bekommen. Du darfst es nie abnehmen, hörst du, dann wird es dich immer vor dem Bösen schützen, schärfte ihm die Großmutter ein. Es habe ihm tatsächlich zumindest ein Mal das Leben gerettet, vier andere seien bei einem Autounfall gestorben, nur sein Bruder habe überlebt. Aber nun wisse er nicht, ob sein Bruder noch am Leben sei oder nicht, er habe schon so lange nichts mehr von ihm gehört, er hoffe und bete, dass das Amulett ihn weiterhin beschützen und irgendwann vielleicht auch nach Österreich bringen werde. Und Pitra streicht ein paar Mal gedankenverloren über Manus Hand.
O Mira, o Göttin, o Madonna im Deckengebirge! Sie reckt, sie streckt, sie räkelt sich im warmen Schein der Nachttischlampe, die Decke, sie wahrt eifersüchtig das darunter verborgene Geheimnis. Doch jetzt, jetzt wird sie zur Seite geschoben, wird abgestreift, um den Blick freizugeben auf göttliches Ebenmaß. Mira liegt auf der Seite, den Kopf auf die rechte Hand gestützt, das rötliche Zausehaar fällt halblang auf Hand und Schultern herab, und in den tiefgrünen Augen verliert sich mein Blick, verliert sich sogar der Zorn über ihren Verrat. Über den schlanken Hals gleitet der Blick weiter, wird magisch angezogen von zwei wohlgeformten Hügeln und der zartesten Andeutung eines Bäuchleins, folgt der Steilkurve der Hüfte, um endlich anzukommen am Ursprung allen Lebens, im himmlischen Dreieckshain, wo Venus auf waldigen Hügeln verehrt wird.
Ein Bildnis, bezaubernd schön und doch nicht ohne Makel: Eine Hand schiebt sich von rechts ins Bild, eine Hand, die über Miras Hüfte streicht und von der Flanke aufwärts strebt zu den Brüsten und weiter zum Hals, um schließlich mit spielerischen Fingern bei ihren Lippen zu verweilen. Und diese Hand, und darin offenbart sich das Hässliche und Gottlose dieses Bildes, ist nicht die meine, es ist keine wohlgeformte, kräftige, sehnige, samtschwarze Mohrenhand, sondern die bleiche, teigige Möchtegernverführerhand von Lukas Liederlich Neuner, seines Zeichens Deutschlehrer an unserer Anstalt.
Der Hand folgt ein bleicher, teigiger Möchtegernverführerkörper, der sich hinter Mira in Stellung bringt, ein bleicher, teigiger Möchtegernminiaturverführerpenis hängt schlapp zu Tal, wo er doch hoch erhobenen Hauptes seiner Göttin Tribut zollen sollte, doch dazu fehlt ihm das Rückgrat. Mira dreht sich zum Herrn Lehrer um, kehrt mir den Rücken zu, sie kichert, wahrscheinlich angesichts des bleichen, teigigen Möchtegernminiaturverführerpenisses, ihre schlanken Engelsfinger beginnen den bleichen, teigigen Möchtegernverführerkörper zu liebkosen, sein bleicher, teigiger Möchtegernminiaturverführerpenis regt sich, reckt sich, streckt sich, und es kommt, wie es kommen muss. Kommen Sie, Herr Lehrer, lädt Mira ihn mit weit geöffneten Beinen ein, und der Herr Lehrer kommt, nachdem er seinen bleichen, teigigen Möchtegernminiaturverführerpenis fünfmal in Miras Mitte versenkt hat.
Wie ich das alles sehen kann? Man frage mich nicht, ich darf es nicht sagen. Ich bin Mira und ihrem lover boy gefolgt, als sie, Alenka im Schlepptau, gemeinsam ihren Arbeitsplatz verließen, Mutter und Tochter staksten im Partnerlook mit orange-grünen Plastikschuhen durch den Sommerabend, fehlte nur noch, dass auch der Lehrer als Dritter im Bunde dabei mittat. Man bummelte zu einem nahe gelegenen Kino-Center, Madagascar war der Film ihrer Wahl, nach einigem Zögern entschloss ich mich, mehr als ein Fünftel meines monatlichen Taschengeldes für eine Kinokarte auszugeben, um die drei in dem Freitagabendgetümmel nicht aus den Augen zu verlieren. Nach dem Kino steuerten sie zielstrebig ein Lokal an, ich wartete draußen, während sich Alenka und Lukas kalten Fisch auf Reisbällchen und Mira warmen Fisch ohne Reisbällchen servieren ließen, danach gab es noch Eis vom Italiener. Und dann wurde es Zeit, nach Hause zu gehen. Zu dir oder zu mir, diese Frage stellte sich nicht, das Kind musste ja ins Bett gebracht werden, und so landeten die drei in Miras Wohnung mit mir als unsichtbarem vierten Rad am Wagen. Alenka wurde abserviert, Mira und Lukas observiert, doch ich bin nicht zum Vergnügen hier, o nein, ich tue nur meine Pflicht, ich erzähle, ich berichte, ich lege Zeugnis ab.
Der Lehrer rollt sich zur Seite, sein Rohrstäbchen ist eingerollt, er stützt seinen Kopf auf die Hand und betrachtet Mira. Warum bezeichnest du dich eigentlich selber noch immer als Jugoslawin, will er plötzlich wissen. Sie erwidert seinen Blick nicht, sondern starrt zur Decke. Weil in meinem Kopf Jugoslawien noch immer existiert, antwortet sie ernst wie immer, wenn sie über ihre ehemalige Heimat spricht. Mein Vater kam aus Bosnien, meine Mutter war Kroatin mit mazedonischen Vorfahren, mein Ehemann ein Serbe, ich habe in Beograd, Zagreb und Sarajevo gelebt – was bin ich sonst, wenn nicht Jugoslawin? Des Lehrers Finger streichen durch Miras Haar. Es gibt einen schönen Text von Handke, sagt er, er macht darin nichts anderes, als zwei, drei Seiten lang die verschiedenen Kopfbedeckungen zu beschreiben, die an einer belebten Kreuzung irgendwo in Mazedonien zu sehen sind – Kopftücher, Hüte, Mützen, Kappen auf den Köpfen von Muslimen und Katholiken, von Orthodoxen und Juden, von alten Bäuerinnen und jungen Städtern. Das war in Sarajevo genauso, gibt Mira zurück, und ihr Blick geht wieder zur Decke, durchstößt sie und bohrt sich in den nächtlichen Himmel, um dort das Sarajevo vergangener Tage zu schauen. Der Nationalstaat ist wirklich eine der dümmsten Erfindungen der Geschichte, bricht es plötzlich aus ihr hervor, ich meine … ich verstehe einfach nicht, warum so viele Menschen nur mit denen zusammenleben wollen, die die gleiche Sprache sprechen, die gleiche Geschichte und die gleiche Hautfarbe haben wie sie selbst. Die Leute haben einfach Angst vor allem, was sie nicht kennen, meint der Lehrer. Das stimmt schon, kontert Mira, aber in Jugoslawien haben sich die Leute sehr gut gekannt, waren jahrzehntelang Nachbarn, Kollegen, Ehepartner. Natürlich gab es auch damals Konflikte, aber meistens hat das Miteinander oder Nebeneinander funktioniert. Sie streicht sich die Haare aus der Stirn. Versteh’ mich nicht falsch, sagt sie, ich möchte natürlich nicht zur Tito-Zeit zurückkehren – aber man hätte den Staat ja nicht zerschlagen müssen, um ihn zu demokratisieren.
Mira hört zu sprechen auf, der Lehrer schweigt, und bald beginnt wieder das gegenseitige Liebkosen. Die Schülerin legt Hand an des Lehrers läppischen Luststengel, Aaaaaah, seufzt er theatralisch und befleckt mit seiner Hand Miras makellose Mitte. Nicht so laut, sagt sie und legt einen Finger auf seine schmalen Lippen, Alenka muss nicht alles hören, was wir hier so treiben. Das Vorspiel zum zweiten Akt klingt aus, der Vorhang hebt sich, gibt den Blick frei auf die Bettbühne, Mira schwingt sich in den Sattel: Bitte, Herr Lehrer, machen Sie mir den Hengst, lautet ihr erster Einsatz. Der Hengst, er bringt sein Ohngemächt in Stellung, wertes Publikum, es darf gewiehert werden, jawoll, Mira setzt sich rittlings auf den Ritter von der traurigen Gestalt, sie bewegt sich vier Zentimeter auf und ab und auf und wieder ab, und diesmal braucht es neun Stöße, bis der Mann zum Höhepunkt kommt, und der Vorhang fällt unter magerem Applaus.
Wie war das eigentlich während des Krieges – warst du in Sarajevo? Miras Blick geht wieder zur Decke. Ihr Körper liegt zwar weiterhin neben dem von Lukas Neuner, doch ihre Gedanken verlassen den Raum, machen sich auf den weiten Weg in ein Land, das nicht mehr existiert. Und warst du … warst du direkt betroffen vom Krieg? O ihr Götter, ist der Mann dämlich, denke ich mir. Jeder war vom Krieg betroffen, gibt Mira zurück. Mein Mann musste zum Militär, noch bevor es richtig losgegangen ist. Er hat versucht, nach Slowenien zu kommen, doch das ist ihm nicht gelungen. Er wurde … wie sagt man, gezogen? Eingezogen. Als dann in Sarajevo die Kämpfe begannen, wurde die Schule zerstört, in der ich unterrichtete. Eine Zeit lang haben wir in anderen Gebäuden unterrichtet, dann gab es gar keine Schule mehr. Unsere Wohnung wurde von einer Granate getroffen, ich war zum Glück nicht zu Hause. Auch mein Bruder wurde eingezogen; er hatte bald nur noch einen Arm und durfte wieder nach Hause. Meine Mutter starb nicht lange danach, weil man sie im Spital nicht richtig behandeln konnte. Und dann … Sie bricht ab, dreht sich zu Lukas Neuner und blickt ihm in die Augen. Ja, meint sie nach einer kurzen Pause, man kann sagen, dass ich betroffen war.
Nun ist es an Lukas Neuner, betroffen zu sein, was jedoch nicht allzu lange währt, der Mann hat nicht nur kein Rückgrat, sondern auch keinerlei Taktgefühl, denn bald folgt ein dritter Durchgang, diesmal braucht es zwölfmaliges Rein und Raus und Raus und Rein, bis der Lehrer sein letztes bisschen Buttermilch aus sich herausquetscht. Und dein Mann, fragt er nach getaner Arbeit. Mira kehrt mir wieder den Rücken zu, der Kopf verdeckt die Lampe, die einen Strahlenkranz um ihre rötlichen Locken zaubert. Vermisst, sagt sie leise und ohne Lukas anzusehen. Und du hast ihn nie … man hat ihn nie gefunden? Mira schüttelt den Kopf.
Moment, Moment, Frau Obranović, hier muss ich mich einschalten, so geht’s nicht! Frau Obranović Mirela, im Folgenden Antragstellerin (Ast.) genannt, verwickelt sich bei der Einvernahme in Widersprüche. Bezüglich Verbleib ihres Ehegatten bekräftigte sie am 26.5. d. J. gegenüber ihrer Tochter: Du hast einen Vater. Heute, den 28.6. d. J., scheint die Ast. über den Tod des Ehegatten keinen Zweifel mehr zu hegen und stellt solcherart die Glaubwürdigkeit ihrer früheren Aussagen in Zweifel. Womit wieder einmal das Vorurteil bestätigt wäre, dass alle Asylwerber Lügner sind, Punkt, aus, Ende.
Die unglaubwürdige Ast. räkelt sich einstweilen in ihrem unglaubwürdigen Ast.-Bett, sie gähnt und täuscht in völlig unglaubwürdiger Weise Müdigkeit vor, der Lehrer glaubt ihr trotzdem, die Nachttischlampe wird ausgemacht, und Dunkelheit und Schweigen breiten sich über die Ast. und ihre unglaubwürdige Geschichte.