18
Das alte Jahr endet mit einem weiteren Fest. Wieder wird gemeinsam eingekauft, vorbereitet, gekocht und gegessen, wenn auch mit weniger Aufwand als eine Woche zuvor. Stimmungsmäßig herrscht allerdings von Anfang an Tiefdruckwetter, das unschöne Ende der Weihnachtsfeier wirkt nach, es sitzt manchem in den Knochen wie Rheumatismus an feuchtkalten Tagen. Die letzten Stunden des Jahres schleppen sich dahin, die Minuten lassen sich Zeit, als wollten sie das Unvermeidliche vermeiden, als fürchteten sie sich vor dem Sprung im Kalender. Endlich ist es so weit, der Countdown beginnt, auch die Sekunden haben es nicht eilig, zehn, und auch ich fürchte das neue Jahr, neun, und nichts wird mehr so sein, wie es war, acht, und alles geht den Bach runter, sieben, man wird uns einsperren, sechs, man wird uns fortschicken, fünf, es wird nie wieder eine Frau in meinem Leben geben, vier, ich werde Mönch, drei, warum kann man die Zeit nicht zurückdrehen, zwei, kann es überhaupt noch schlimmer werden, eins, es kann, es kann, es kann!
Das Läuten der Pummerin begrüßt die Österreicherinnen und Österreicher im neuen Jahr des Herrn. Doch ihr Herz schlägt nicht für uns, nein, für uns läuten die Alarmglocken, doch keiner will hören. Feuer fällt vom Himmel, ein weiteres, untrügliches Zeichen, wir sehen es vom Dach unseres Hauses, der Himmel gleißt rot und gelb und grün und blau, der ohrenbetäubende Lärm, der manche gerade erst dem Krieg Entflohenen in Schrecken und Angst versetzt, vertreibt das alte Jahr, wo er doch lieber das neue zum Teufel schicken sollte. Wieso bist du so pessimistisch, fragt Nino. Ich bin noch viel zu optimistisch, antworte ich, und Nino tippt sich wieder einmal an die Stirn, an der schon eine deutliche Delle zu sehen ist. Auch der Donauwalzer erklingt nicht für uns, zwar hängt er wie eine Wolke über der ganzen Stadt und ist für alle zu hören, doch wer nicht hier geboren ist, den drückt er zu Boden mit bleiernem Ton.
Auch am nächsten Vormittag geht es ganz österreichisch weiter, mit philharmonischer Fernsehwalzerseligkeit zunächst, bis Adolphe, des Dreivierteltaktes überdrüssig, auf einen Sportsender umschaltet, anschließend spricht der Bundespräsident zu den lieben Österreicherinnen und Österreichern, wir sind nicht lieb, uns hat er nichts zu sagen, auch die Neujahrswünsche anderer Politiker in den Zeitungen gelten nicht für uns Unerwünschte Minderwärtige Fremdkörper. Doch den Wettlauf um die Erstgeburt im neuen Jahr gewinnen wir, die wir keine lieben Österreicherinnen und Österreicher sind, WIR SIND NEUJAHRSBABY, oder vielmehr Babys, denn es handelt sich natürlich um Drillinge, die jungen Herren, deren Erster zwei Minuten nach Mitternacht Licht am Ende des Tunnels erblickt, hören auf die Namen Deniz, Mehmet und Bülent, weitermachen, meine Herren, weitermachen!
Für Mira beginnt das neue Jahr dort, wo das alte geendet hat: zwischen zwei Männern. Nach dem Weihnachtsfest war Mladko ein paar Tage verschwunden, Tage, in denen Mira zwischen Sorge und Wut schwankte, Sorge, er könnte sich etwas angetan haben, Wut, weil er ihr das antat. Kurz vor dem Jahreswechsel tauchte er wieder hier im Haus auf und machte nicht nur einen verwahrlosten, sondern auch leicht verwirrten Eindruck. Mira saß gerade mit uns beim Mittagessen, er kam auf sie zu, kniete vor ihr nieder und nahm ihre Hand. Steh’ auf, sagte Mira auf Serbokroatisch zu ihm, komm, gehen wir ins Büro. Sie selbst erhob sich, man konnte sehen, dass ihr die Situation peinlich war. Nein, sagte er, so viel Zeit habe ich nicht. Er zog sie wieder auf den Sessel und bat sie um Verzeihung, er würde nie wieder nachfragen, wer nun der Vater ihres Kindes sei, es sei ihm egal, Hauptsache, sie seien wieder zusammen. Mira gab keine Antwort, schließlich gelang es ihr doch, Mladko zum Aufstehen zu bewegen und ins Büro zu schleifen, dort blieben sie auch eine Weile.
Und jetzt, das neue Jahr ist gerade ein paar Tage jung, sitzen sie wieder einmal in Miras Wohnung am Küchentisch, Alenka schläft, ich bin auf meinem üblichen Beobachtungsposten. Du hast mich ja nie … nie für tot erklären lassen, oder, will Mladko wissen. Mira schüttelt den Kopf. Warum eigentlich nicht? Sie zuckt mit den Schultern. Ich hab’ gewartet, sagt sie dann und vermeidet es, Mladko dabei anzusehen, ich habe lange Zeit geglaubt, du kommst zurück. Und dann kam ich nach Österreich und wollte neu anfangen, wollte mit … mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben. Du hättest eine Witwenpension bekommen können. Mira zuckt wieder mit den Schultern. Die paar Groschen hätten mir nicht weitergeholfen. Mladko setzt ein verschrobenes Lächeln auf. Rein rechtlich gesehen sind wir also immer noch verheiratet, meint er. Und, was willst du damit sagen? Mladkos Ausdruck wird wieder ernst. Ich möchte in Österreich bleiben, weißt du, ich möchte hier arbeiten. Ich möchte nicht wieder zurück … ich … ich kann nicht mehr zurück. Mira richtet sich auf, ihr ganzer Körper ist plötzlich auf Abwehr eingestellt, sie schüttelt den Kopf. Nein, Mladko, neinnein. Warum nicht, fragt er ganz bestürzt, als hätte er nicht mit Ablehnung gerechnet. Mladko, du warst mehr als zehn Jahre weg, du hast mich im Glauben gelassen, du wärst tot – und jetzt sollen wir von heute auf morgen wieder ein Ehepaar sein? Es geht mir nur um den Aufenthalt, beteuert Mladko, um die Möglichkeit, in Österreich zu bleiben. Aha, vor ein paar Tagen sagtest du noch: Hauptsache, wir sind zusammen.
Mira steht auf, räumt schweigend den Tisch ab und stellt Teller und Besteck in die Spüle, dann setzt sie sich wieder. Mladko fasst nach ihrer Hand, doch sie zieht sie zurück. Ich … ich werde dir bestimmt nicht auf … dir bestimmt nicht zur Last fallen, sagt er, ich verspreche es. Aber kannst du mir nicht eine Chance geben? Die Chance, mir hier in Österreich ein neues Leben aufzubauen – so, wie du selbst das getan hast? Mira steht wieder auf und geht zum Fenster, sie blickt hinaus auf den kahlen Götterbaum im Hof, dessen Äste im Wind schwanken. Lass mich ein paar Tage drüber nachdenken, sagt sie dann.
Ein paar Tage später spricht sie mit Lukas über das Thema. Glaubst du wirklich, dass es ihm nur um den Aufenthaltsstatus beziehungsweise um die Staatsbürgerschaft geht, fragt er. Mira gibt keine Antwort. Ich kann weder sie noch Lukas sehen, die beiden sind im Betreuerzimmer, die Tür ist geschlossen, doch ich habe das Ohr wie immer an der richtigen Stelle. Vielleicht denkt er, dass du dich wieder an ihn … gewöhnen würdest, wenn ihr erst wieder zusammen seid. Ich hab’ dir doch schon gesagt, dass ich nicht mit ihm zusammenleben will, antwortet Mira gereizt. Aber du wirst vielleicht so tun müssen, als ob, zumindest für gewisse Zeit – du weißt genau, dass die Fremdenpolizei schnüffeln kommt, wenn es um Ehen mit Drittstaatsangehörigen geht. Das weiß ich, aber unsere »Ehe« – die Anführungszeichen sind auch durch die Wände hindurch deutlich zu hören – besteht ja schon seit mehr als fünfzehn Jahren, und für eine Scheinehe wäre das doch ein bisschen lang. Du musst dich erkundigen, sagt Lukas, ich habe keine Ahnung, wie die Behörden mit solchen Fällen umgehen. Die wahrscheinlich auch nicht, gibt Mira zurück, denn so etwas wird wohl nicht alle Tage vorkommen.
Sie wechseln das Thema, sprechen über die Probleme einzelner Schützlinge, über andere Hausinterna, dann kehrt die Unterhaltung wieder zum Ausgangspunkt zurück. Wie willst du das Wohnproblem lösen, fragt Lukas. Ich hab’ Mladko schon gesagt, dass er nicht bei mir wohnen kann, schon allein wegen Alenka nicht. Vielleicht gibt’s als Übergangslösung hier im Haus irgendein Zimmer für ihn, meint Lukas, unten bei den Erwachsenen, nicht hier im Leo. Ja, ich hab’ schon mit Heli gesprochen, das wird zumindest für ein paar Wochen möglich sein.
Der Lehrer scheint wieder einmal nicht an sich halten zu können und seine Schülerin überfallen zu wollen. Bitte, hör’ auf, du weißt, wohin das führt, wehrt sie ihn ab, hab’ noch ein bisschen Geduld. Mladko wird bald übersiedeln, dann ist meine Wohnung wieder frei. Und dann? Dann bist du verheiratet, und wir begehen Ehebruch, meint der Lehrer. Den haben wir in den vergangenen Monaten auch begangen, gibt Mira zurück. Ja, aber ohne es zu wissen. Wir werden sehen, sagt sie dann. Kurz darauf verlässt Lukas das Büro und geht mit sichtlich enttäuschter Miene Richtung Treppenhaus davon.
Seit dem Neujahrstag fegt ein eisiger Wind über die Stadt, kein Mantel und keine Kopfbedeckung schützen davor, er dringt durch Kleidung und Haut bis auf die Knochen. Er weht von den griechischen Säulen des Parlaments herüber, man hat dort ein ganzes Paket an Gesetzen für uns geschnürt und es allen Fremden in diesem Land als verspätetes Weihnachtsgeschenk überreicht. Ich warne meine Genossinnen und Genossen davor, das Paket zu quittieren: Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes, rufe ich ihnen entgegen, doch mein Ruf verhallt ungehört, die Tore werden geöffnet, das Geschenk in die Stadt gebracht. Wir schauen dem Gaul zwar nicht ins Maul, doch der Geruch, der Letzterem entströmt, verrät schon genug, und das neue Jahr ist noch keine drei Wochen alt, als die listenreichen Krieger dem danaum fatale munus entsteigen und in die schlafende Stadt eindringen.
Ich träume. Es ist sechs Uhr morgens, stille Nacht also, alles schläft, einsam wacht nur Hans-Jörg, der traute zivile Diener in der Portierloge, der die beiden Fremdenpolizisten in den vierten Stock schickt. Zwar versucht er sofort, unser Betreuerteam per Telefon zu warnen, doch vergebens, das Büro ist um diese Zeit noch nicht besetzt, der sonst so penible Haluk hat vergessen, das Mobiltelefon ins Betreuerzimmer mitzunehmen. Als er schließlich das Läuten des Telefons aus dem Büro hört und schlaftrunken auf den Gang hinaustritt, ist es schon zu spät. Wo finden wir Herrn … Liu … Xingjian, buchstabiert der ältere der beiden Polizisten mühsam. Der Schlaf entweicht mit einem Mal aus Haluks Körper. Wieso, was wollen Sie … was hat er …? Wir haben einen Schubhaftbefehl, unterbricht ihn der Beamte. Das kann nicht sein, das Verfahren läuft noch, protestiert Haluk, es gibt eine Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof, wir … Wir haben einen Schubhaftbefehl, wird er wieder unterbrochen, das ist alles, was für uns zählt. Das gibt’s nicht, empört sich Haluk, man kann nicht Jugendliche einsperren zusammen mit Verbrechern …
Er schließt die Tür zum Büro auf, geht zum Schreibtisch und greift zum Telefon. Bitte warten Sie einen Moment, sagt er zu den Beamten, die ihm folgen, ich muss mit meinem Chef sprechen. Das wird auch nix ändern, meint der jüngere der beiden Männer mit süffisantem Lächeln. Das gibt’s doch gar nicht, murmelt Haluk mehrmals vor sich hin, während er auf His Master’s Voice am anderen Ende der Leitung wartet.
Ich wache auf. Es ist kurz vor sieben Uhr, draußen ist es noch finster, doch ich bin, ich weiß nicht warum, hellwach. Yaya und Kamal sind nicht im Zimmer, auch das ist für diese Uhrzeit ungewöhnlich, nur Djaafar schläft noch. Es ist still draußen, doch in der Luft liegt Unruhe. Ich stehe auf, öffne die Tür zum Gang, auf dem Weg zum Bad begegnet mir der Onkel, in Straßenkleidung und in sichtlicher Eile. Und im selben Augenblick wird mir klar, dass ich nicht geträumt habe.
Ich kehre um und folge dem Onkel. Vor der Tür zu Lius Zimmer steht der jüngere der beiden Polizisten, Kamal und Djamila versuchen, neugierig und ängstlich zugleich, an ihm vorbei einen Blick auf Liu zu erhaschen. Geht bitte auf eure Zimmer zurück, wendet sich der Onkel an die beiden. Sie machen zwar Platz, um den Onkel durchzulassen, aber keine Anstalten, ihren Logenplatz aufzugeben. Ich geselle mich zu ihnen, um diesen schlechten Traum auch im Wachen weiterverfolgen zu können.
Liu ist gerade dabei, seine sieben oder acht oder neun Sachen einzupacken, Haluk, Tomo und Adolphe, die beiden Letzteren im Pyjama, helfen ihm dabei. Was soll das, wendet sich der Oheim an den älteren Polizisten. Wir haben einen gültigen Schubhaftbefehl, hier, bitte sehr. Der Onkel wirft einen flüchtigen Blick auf das Papier, das ihm der Beamte unter die Nase hält. Das darf doch nicht wahr sein, empört er sich genauso wie vor ihm Haluk, einfach in ein laufendes Verfahren einzugreifen, und das noch dazu bei einem Minderjährigen! Der Beamte zuckt mit den Schultern. Erklären Sie das bitte nicht mir, sondern meinen Vorgesetzten, lässt er den Angriff an seiner Uniform abprallen, ich führe nur Anweisungen und Befehle aus. Der Onkel murmelt irgendetwas, ich verstehe nur das Wort Nazis, er schimpft noch weiter vor sich hin, doch er weiß genauso wie Haluk, dass er die Beamten nicht daran hindern kann, Liu mitzunehmen. Du kommst zurück, sagt Tomo aufmunternd zu ihm, als er schließlich von dem Polizisten aus dem Zimmer eskortiert wird, Adolphe klopft ihm auf die Schulter, ich winke wort- und sprach- und fassungslos, Liu nickt und verzieht die Lippen zu einem tapferen Grinsen. Nach einem kurzen Zwischenstopp im Büro wird er dann zum Lift geführt und verschwindet mit den beiden Beamten in der Tiefe, fährt hinab in das Reich des Todes.
Zwar schleppen sich schwarze, weiße und gelbe Körper wie üblich in diesen oder jenen Kurs und erfüllen ihre Anwesenheitspflicht, doch der Geist ist abwesend. Jeder ist in Gedanken bei Liu, jeder zittert mit ihm und hat Angst davor, selbst als Nächster abgeholt zu werden. Der Onkel und die Schöne Helena rufen für den Nachmittag eine Krisensitzung aller Betreuer ein, man debattiert, man spekuliert, man telefoniert mit der Fremdenpolizei, mit Rechtsanwälten, mit den Asylbehörden, man empört sich über die neuen Gesetze, Liu sitzt einstweilen mit gestreiften Kleidern und Ketten an den Füßen zwischen Raubmördern und Kinderschändern. Am nächsten Tag ist die Polizei erneut im Haus, wenn auch nicht bei uns im Leo, sondern unten bei den Erwachsenen. Diesmal trifft es Gülertan Dolas, der ja schon vor Weihnachten einen negativen Bescheid erhalten hat. Wieder schlagen die Beamten im Morgengrauen zu, reißen einen viereinhalbfachen Vater fort von seinen Kindern, Mutter Dolas ist gar nicht da, sie muss früh aufbrechen an den Tagen, an denen sie zur Arbeit geht.
Rein äußerlich betrachtet geht das Leben im Haus seinen gewohnten Gang, the show must go on, doch in Wahrheit ist nichts mehr, wie es war. Auch bisher konnte jederzeit ein negativer Bescheid ins Haus flattern, auch bisher musste man damit rechnen, dass der Aufenthalt in diesem Haus, in diesem Land irgendwann zu Ende gehen würde, doch es ließ sich leben mit diesem Irgendwann, irgendwie gab es das Gefühl, dass unsere Bewacher gleichzeitig unsere Beschützer sein und das Ärgste zu verhindern wissen würden. Der vierte Stock wurde bisher von unangekündigten Besuchen der Fremdenpolizei verschont, er war tatsächlich eine Art Leo, ein Refugium, in dem man zumindest vorübergehend sicher war, in dem man verschnaufen und zu sich kommen konnte, bevor man sich wieder aufs Spielfeld wagte. Die Abholung Lius zeigt nun, dass dieses Leo nicht mehr respektiert wird, Liu weg, Leo weg, dass die Spielregeln missachtet oder vielmehr ohne gegenseitiges Übereinkommen geändert wurden. Und sie zeigt, dass unsere Bewacher ihrer Beschützerrolle nicht gerecht werden können oder – wie Adolphe mutmaßt – wollen. Ist egal für die, ob wir kriegen Asyl oder nicht, meint er beim Mittagessen, und einige pflichten ihm bei. Ich trete zur Verteidigung unserer Betreuer an, natürlich habe ich Djamila und Nicoleta und andere treue Seelen auf meiner Seite, doch das Vertrauen zu Onkel & Co., das bei einigen ohnehin nur sehr schwach ausgeprägt war, ist dahin oder zumindest ernsthaft angekratzt.
Trotzdem, ein Rest dieses Vertrauens ist bei allen da, das Vertrauen darauf, dass unser Betreuerteam, wenn es schon nicht das Schlimmste – die Schubhaft –, dann doch das Allerschlimmste – die Abschiebung – verhindern würde. Doch selbst die treuesten Seelen kommen kurz darauf ins Wanken. Sechs Tage sind seit Lius Abholung vergangen, sechs Tage, in denen vonseiten unserer Onkel und Tanten nichts unversucht blieb, ihn aus der Schubhaft zu befreien. Und an ebendiesem sechsten Tag wird Liu am Nachmittag zum Flughafen gebracht, auf dem Rollfeld steht die Fremdenpolizeikapelle und bläst dem Schübling zum Abschied gehörig den Marsch, er wird ins Flugzeug eskortiert, und obwohl ich nicht dabei bin, sehe ich deutlich die bösen, mitleidigen oder einfach nur gleichgültigen Blicke der anderen Passagiere. Ich sehe einen jungen Mann, der auf die Polizisten einredet, einspricht, Einspruch erhebt bei einer Flugbegleiterin, der vergeblich zum Piloten vorzudringen versucht: Haben Sie denn überhaupt kein Gewissen, fragt er die Beamten und die Flugbegleiterinnen. Die Kapelle unter der Leitung der Abschiebeministerin spielt Freut euch des Lebens, ich sehe Liu einen letzten Fluchtversuch unternehmen, doch ohne Erfolg, Freut euch vergebens. Und als die Türen geschlossen werden, spielt die Musi Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus, das Flugzeug setzt sich in Bewegung, die Ministerin winkt Liu freundlich hinterher, und alles ist guter Laune, cause they do have a wooden heart, o yeah! Doch es ist ja ohnehin alles nur ein Spiel, Mensch ärgere dich nicht darüber, wer Pech hat, der fliegt eben raus aus Österreich. Nur einer kann bei der Reise nach Wien gewinnen, man muss schnell sein und braucht Glück und auch ein bisschen Ellbogen, die anderen bleiben auf der Strecke, es gibt einfach nicht genug Stühle in der Welt der Reichen, das Boot, wir bedauern es sehr, ist leider schon voll. Auch Völkerball ist übrigens ein lustiges Spiel, bei der hier gespielten Variante wird man nicht abgeschossen, sondern abgeschoben, auch da gibt es nur einen Gewinner, das ist ja der Sinn des Spiels, auszusieben, die Spreu vom Weizen zu trennen, die anderen, sie fallen, sie fallen durch den Rost. Das soll man nicht sagen, sagt man mir, das sei politisch nicht korrekt, klopft man mir auf die Finger, doch ich kann mich nicht um alles kümmern.
Wir haben eine neue Mitbewohnerin, und sie heißt Angst. Sie ist eingezogen in fünf Stockwerken, hat sich breitgemacht in allen Räumen, sie lauert hinter jeder Ecke und ist stets bereit, ihre Mitbewohner aus dem Hinterhalt anzufallen. Oma, die erst vor Kurzem gelernt hat, ihre Angst vor der Dunkelheit zu überwinden, schläft nun wieder bei eingeschalteter Nachttischlampe, sehr zum Ärger von Amal. Amal ist noch reizbarer als sonst und explodiert beim kleinsten Anlass, zwischen den Explosionen ist sie dafür umso apathischer. Yaya, dessen Zustand sich in letzter Zeit deutlich gebessert hat, verfällt wieder in die übliche Starre, die Hände umklammern das Amulett und versuchen damit alles abzuwehren, was von außen kommt, egal, ob gut oder böse. Selbst Nino, die sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lässt, scheint unrund zu laufen, vielleicht liegt das in ihrem Fall aber daran, dass die Beziehung zu Nahum ihre Halbwertszeit längst überschritten hat.
Die Fremdenpolizisten sind zwar mit Liu in der Tiefe verschwunden und seither im Leo nicht wieder aufgetaucht, doch in Wahrheit sind sie immer noch im Haus. Sie haben sich sogar vermehrt, sie sitzen und stehen und lehnen an jeder Ecke, belauschen jedes Gespräch, sind bei allen Mahlzeiten anwesend, selbst in der Dusche und auf der Toilette sind sie dabei, nachts hocken sie wie Hunde oder Katzen auf den Beinen der Schlafenden und schleichen sich in deren Träume.
Die Angst, sie nagt mit kleinen spitzen Zähnen am Vertrauen und nährt gleichzeitig das Misstrauen, Misstrauen gegenüber dem Betreuerteam, aber auch gegenüber den Mitbewohnern, denn die wissen schließlich so manches, was die Asylbehörden lieber nicht wissen sollten. Die Angst, sie lähmt, und so sitzt mehr als ein Dutzend jugendlicher Karnickel herum und wartet auf den Biss der Schlange. Und weil auch unsere Wärter gelähmt scheinen, wenn auch vermutlich nicht aus Angst, sondern aus Ohnmacht, stehe ich eines Tages auf. So kann’s nicht weitergehen, Genossinnen und Genossen, sage ich beim ersten Treffen des von mir einberufenen Revolutionskomitees. Das Treffen findet im Fußballzimmer statt, meine Mitbewohner sitzen auf dem Boden oder lehnen an der Wand, ich stehe, ich gehe auf und ab, ich spreche und gestikuliere und setze alles daran, sie von der Notwendigkeit des Handelns zu überzeugen. Wir dürften uns nicht länger gefallen lassen, dass man uns in Wartesäle sperre, versuche ich sie in mehreren Sprachen wachzurütteln, wir hätten Lius Abschiebung verhindern müssen, die Aktionen, die der Staat setzt, mögen geltendem Recht entsprechen, doch wir hätten das wahre Recht auf unserer Seite. Wir dürften uns nicht einfach zur Schlachtbank führen lassen, wir alle hätten Besseres verdient, als durch den Fleischwolf der Geschichte gedreht zu werden. Und wie sollen wir das tun, Herr Revolutionsführer, unterbricht Nino frech meine Brandrede. Rotkäppchen, natürlich, wie könnte es anders sein. Du solltest dich schämen für deine antirevolutionäre Gesinnung, Genossin Ninotschka, weise ich sie zurecht, sie tippt sich an die Stirn, doch sie schweigt, und ich setze meine Rede fort. Am Ende habe ich alle auf meine Seite gezogen, selbst Murad, und es ist mir sogar gelungen, Amal und Yaya ein wenig aus ihrer Lethargie zu holen. Nino schmollt noch, doch ich weiß, dass auch sie sich nicht ausschließen wird, wenn es darauf ankommt, ich weiß, dass in Ninotschka in Wirklichkeit eine gute Revolutionärin steckt. So, Genossinnen und Genossen, beende ich das Treffen, nun aber an die Arbeit! Noch ist es zu früh für den offenen Kampf – die Revolution, sie will erst im Stillen vorbereitet sein, bevor sie auf die Straße getragen wird. Noch sind wir zu wenige, um uns in die offene Schlacht zu wagen – aber für ein kleines Scharmützel reicht es allemal, und die Pferde für den Probegalopp sind gesattelt und aufgezäumt.