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Omatu hat ihre ersten Tage im Haus hinter sich gebracht und wurde von Zakia, ihrer Betreuerin, in den Leo-Alltag eingeführt. Sie hat ihr Bett und ihren Spind im Zimmer von Amal und Djamila zugewiesen bekommen, hat neue Kleidung und von mir den Spitznamen Oma gekriegt, man hat sie im Haus herumgeführt und ihr mithilfe eines Dolmetschers die Hausordnung und andere Spielregeln erklärt. Ob und wie viel und wie viel Wahres sie Zakia und dem Onkel von ihrer Geschichte erzählt hat, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Allgegenwart ist zwar mein Beruf, doch hindern mich Kleingeister immer wieder an der Ausübung dieses Berufes, sodass die Gegenwart manchmal zur Vergangenheit wird, ehe ich zur Stelle bin. Oma scheint jedenfalls Schlimmes erlitten zu haben, sie zuckt schon beim kleinsten Geräusch zusammen wie ein verschrecktes Reh, selbst ein forscher Blick kann sie manchmal unvermittelt zum Weinen bringen. Nicht forsch, sondern forschend blicke ich ihr von Zeit zu Zeit ins rundliche Antlitz, um darin zu lesen, doch sie scheint in die gleiche Kategorie wie Yaya zu fallen und sich der schnellen Lektüre zu verweigern.

Mir bleibt aber ohnehin nicht allzu viel Zeit, mich um Omas Geschichte zu kümmern, denn es kommt bald zu einem Ereignis, das mich viel direkter betrifft. Eines Tages nämlich, als ich nach dem Deutschkurs in mein Zimmer zurückkomme, das Hauptthema der heutigen Unterrichtseinheit war die Komparation, Yaya ist größer als Djaafar, Nino ist jünger als Amal, Keiner ist dümmer als Kamal, eines schönen Dienstags also muss ich feststellen, dass das vierte Bett in unserem Zimmer, das einige Wochen unbelegt war, mit frischer Bettwäsche bezogen ist. Ist ein Neuer da, schreibt Djaafar auf seinen Notizblock. Ich mache gleich wieder kehrt und stürme Richtung Büro.

Was soll das, schleudere ich Mira entgegen, die vor einem der beiden Computer sitzt und so tut, als würde sie arbeiten. Was soll was? Da ist ein Neuer in meinem Zimmer, ohne dass man mich um mein Einverständnis gefragt hat. Sie setzt ein maliziöses Lächeln auf. Also erstens ist das nicht dein Zimmer, und zweitens – hab ich die Hausordnung etwa nicht aufmerksam genug gelesen? Da muss ich doch tatsächlich diesen einen Punkt überschaut haben: Vor jeder Neubelegung der Zimmer ist Herr Ali Idaulambo zu konsultieren. Also erstens heißt es übersehen haben, verbessere ich Mira bei einem ihrer ganz seltenen Fehler, muss aber im selben Augenblick erkennen, dass ich mich dadurch selbst aus dem Konzept gebracht habe. Und zweitens, setze ich an … Und zweitens, fragt sie hundsgemein lächelnd und mein Zögern ausnützend. Ich schimpfe noch eine Weile vor mich hin, muss mich aber bald geschlagen geben. Wer wird den Neuen betreuen, frage ich. Ich, gibt Mira zurück. Auch das noch, maule ich. Mira steht auf, sie hat mit einem Mal ihr mütterlichstes Lächeln aufgesetzt. Komm, sagt sie und streckt die Hand nach mir aus. Ich ziere mich zuerst, doch dann lasse ich mich in ihre Umarmung gleiten. Meine Träume, endlich werden sie wahr, Mira, meine Liebste, ihre Haare duften nach frischem Heu, ihre Haut nach vom Morgentau benetzten Pfirsichen, Ich werde mich um dich und deine Probleme genauso kümmern wie bisher, höre ich weit entfernt ihre Engelsstimme, ich schwebe über den Wolken, auch wenn ich nicht weiß, von welchen Problemen sie spricht, ich spüre durch die Kleidung hindurch die sanfte Kurve ihrer Brüste, ich stelle mir vor, ich wäre kleiner als sie und mein Kopf würde sich an ihren Busen schmiegen. Sanft schiebt sie mich weg, nach dreißig Sekunden, nach einer Stunde, oder waren es drei Tage? Jetzt warte doch mal ab, wie du und Djaafar und Yaya mit Murad auskommen, sagt sie, als ich mich schon auf halbem Weg zur Tür befinde. Ich schwebe von dannen – und werde im selben Augenblick beinahe von unserem Deutschlehrer Lukas Neuner über den Haufen gerannt. Entschuldigung, sagt er, ohne mich wirklich wahrzunehmen. Sein Blick geht durch mich hindurch, es ist der gleiche Blick, den er im Deutschkurs auf Nino zu werfen pflegt, nur ist der Haken diesmal nicht für Backfische, sondern für größere Kaliber ausgelegt. Hallo, Mira, grüßt er. Ich halte inne, langsam und noch ein wenig benommen drehe ich mich um. Ich höre, wie Mira den Gruß erwidert, ich sehe, wie sie sich durchs Haar fährt und lächelt, nicht maliziös und nicht mütterlich ist dieses Lächeln, sondern erwartungsvoll und empfängnisbereit. Sie sind so klug, Herr Lehrer, sagt dieses errötende, siebzehnjährige, zwischen den Beinen feuchte Lächeln, Machen Sie mit mir, was Sie wollen, Herr Lehrer, haucht es verzückt und der Ohnmacht nahe. Die Wolke, auf der ich dem Raum entschwebte, löst sich mit einem Mal in nichts auf. Mit lautem Krachen lande ich auf dem harten Boden der Tatsachen, doch weder Mira noch Lukas hören mich, und ein Wort, das Wort Verrat, formt sich in meinem Kopf, füllt ihn aus und droht ihn zu sprengen.

Doch ich habe keine Zeit zu trauern, und Hass und Wut sollen mir nicht den Blick auf Gesichter und Geschichten meiner Mitbewohner verstellen. Nun denn, Murad also, Murad Magomazov: angeblich sechzehn, angeblich aus Tschetschenien, angeblich verfolgt, angeblich durch Folter verletzt. Ganz ohne Zweifel verletzt ist er am Auge: Er hat als Souvenir aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen ein blühendes Veilchen mitgebracht. Wie ist das passiert, frage ich ihn beim Mittagessen auf Tschetschenisch. Er sieht mich an, wie man ein wildes Tier im Zoo ansieht, ein Tier, das einem trotz der schützenden Glaswand nicht ganz geheuer ist. Schon recht so, denke ich mir, das bisschen Glas würde dir auch gar nichts nützen, wenn du mich reizen solltest. Eine Schlägerei, sagt er, die Neger haben eine Schlägerei angefangen. Chrrrrrrrrrrr, fauche ich ihn mit aufgestellten Haaren und ausgefahrenen Krallen an. Er zuckt zurück, ich ziehe meine Pranke wieder ein. Diese bösen Neger, sage ich ganz sanft, und er nickt zur Bestätigung. Ja, die haben sich beim Essen immer vorgedrängt. Nein, so was, schnurre ich. Scheint doch nicht so gefährlich zu sein, dieses schwarze Tier, ist in Murads Augen zu lesen, und im selben Augenblick fauche ich ihn erneut an.

Meine Strategie scheint zu wirken. Hier bleibe ich nicht, sagt Murad wenig später, als ihm bewusst wird, dass er mit mir und einem weiteren schwarzen Menschentier den Stall teilen soll. Ich möchte ein anderes Zimmer, sagt er kurz darauf auf Russisch zu Mira. Wir haben leider kein anderes Bett frei, antwortet die Verräterin, wo liegt das Problem? Mir, der ich hinter Murad stehe, wirft sie einen misstrauischen Blick zu, Was hast du ihm getan, scheint sie zu fragen, als hätte ich ihm das blaue Auge geschlagen! Murad zögert, dreht sich halb zu mir um, er murmelt etwas, das weder Mira noch ich verstehen. Wie bitte, fragt sie nach. Die Neger, sagt er dann trotzig, warum muss ich mit zwei Negern im Zimmer sein? Miras Blick verhärtet sich. Bei uns gibt es keine … sie scheint nach dem russischen Wort zu suchen … keine Rassentrennung, sagt sie, wir haben keine Zimmer »Nur für Tschetschenen«, »Nur für Schwarzafrikaner« oder »Nur für Afghanen«. Wir haben Zimmer für Menschen, ganz egal, welche Hautfarbe sie haben und welche Sprache sie sprechen. Amen, füge ich hinzu. Aber …, beginnt Murad, Nein, unterbricht ihn Mira, in dieser Sache gibt’s bei uns kein Aber. Murad lässt den Kopf hängen. Also ich hätte an seiner Stelle auch Angst, springe ich in die Bresche, kann nicht irgendjemand tauschen, sodass Murad in ein anderes Zimmer kommt? Mira ignoriert meinen Einwurf. Komm, sagt sie lächelnd zu Murad und schüttelt ihn leicht am Arm, Ali und Yaya werden dich schon nicht fressen. Da wäre ich mir nicht so sicher, murmle ich, doch ich muss wieder einmal an den Spruch des Klügeren denken und gebe nach, gebe für diesmal auf und trete auf den Gang hinaus. Du bist eine Frau, höre ich Murad hinter mir plötzlich aufstampfen, du kannst mir gar nichts sagen. Aha, denke ich, kleine Strategieänderung. Miras Antwort ist nicht mehr zu hören, doch ich bin überzeugt, dass sie dem Neuen nichts schuldig bleibt, diesbezüglich kann man sich auf sie hundertprozentig verlassen.

Murad, so heißt es, ist aus Tschetschenien geflüchtet, weil sein Vater und sein Bruder entführt wurden und seine Mutter Angst hatte, er würde der Nächste sein. Ich glaube ihm nicht, es sind natürlich die typischen Argumente von Scheinasylanten. Auch sein Alter nehme ich ihm nicht ab: Wenn man genau hinsieht, kann man ganz deutlich den langen, wallenden Bart der Taliban erkennen. Ich weiß, dass er Böses im Schilde führt, ich fühle und rieche und spüre es, er ist ein Terrorist, der auf den Tag der Abrechnung mit der westlichen Zivilisation wartet, er tarnt sich als UMF, als Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtling, doch in Wahrheit ist er ein Urgefährlicher Muslimischer Fundamentalist. Doch Mira und der Onkel, denen ich meine Beobachtungen mitteile, schlagen meine Warnungen in den Westwind, der Onkel will mir in seiner Fantasielosigkeit wieder einmal einen Termin beim Psychiater verschreiben, aber sie werden es noch bereuen, so viel ist klar. Murad bedeutet übrigens Der Erwünschte, welch’ Hohn, kann ich da nur sagen, denn wer wünscht sich schon einen Terroristen als Zimmergenossen!

Unser Zimmer wird nun von einem Tag auf den anderen zur Moschee umfunktioniert: Noch vor Sonnenaufgang beginnt es täglich zu rumoren, Murad steht auf, verlässt den Raum, um sich zu waschen, kommt zurück, breitet ein zerschlissenes Stoffstück vor dem Fenster aus und beginnt mit seinem Gebet. Kannst du nicht im Wohnzimmer beten, frage ich ihn beim dritten oder vierten Mal schlaftrunken; die Nacht war kurz, in Djaafars Sägewerk wurde ein ganzer Wald verarbeitet, Mr. und Mrs. Chechnya waren in Höchstform, und nun das. Murad ignoriert mich, ich ziehe mir die Decke über den Kopf und versuche weiterzuschlafen.

Doch mit mir nicht, mein Freund, nicht mit mir! Das geht so nicht, beschwere ich mich im Büro. Hans, der gerade Dienst hat, verspricht mir, mit Murad zu reden. Anscheinend hält er sein Versprechen auch, denn am nächsten Morgen verlässt Murad für sein Gebet das Zimmer. Warum betet ihr nicht mit mir, fragt er wenig später Djaafar und mich, ihr seid auch Moslems. Djaafar kratzt sich am Kopf und weicht mit eleganter Rechtsdrehung Murads bohrendem Blick aus, ich selbst hülle mich in nobles Schweigen.

Doch trotz Terrorgefahr muss das Leben weitergehen, und die Ankunft eines unerwünschten Neulings soll nicht von den Geschichten der bereits Anwesenden ablenken. Terrorismus stellt, ich gebe es zu, ja auch bei Weitem nicht die einzige Bedrohung in dieser so gefährlichen Welt dar. Fragt man unsere Betreuer nach der größten Gefahr für uns Jugendliche, dann nennen sie mit Sicherheit die bösen, bösen Drogen. Seit meiner Ankunft in diesem Haus verging denn auch kein Tag, an dem man uns nicht mit dem Holzhammer eingebläut hätte, nur ja die langen Finger von den bewusstseinserweiternden Substanzen zu lassen, keine Gelegenheit, bei der nicht mit den schlimmsten Höllenqualen für den Fall der Missachtung dieses Verbots gedroht worden wäre. Lukas hat mir erzählt, dass ihr gute Fortschritte macht, sagt der Onkel, der uns am nächsten Tag im Deutschkurs mit seiner Anwesenheit beehrt und damit die Angelegenheit zur Chefsache macht, und das freut mich sehr. Wir wollen heute mit euch über ein enorm wichtiges Thema sprechen.

Droge, die, schreibt Lukas Neuner auf die Tafel.

Also, definieren wir mal: Was sind Drogen denn eigentlich? Haschisch, sagt Kamal, Heroin, sagt Amal, Kokain, sagt Tomo. Das ist richtig, unterbricht der Onkel, aber ich meine: Was bewirken Drogen? Drogen sind schlecht, sagt Kamal. Das ist auch richtig, sagt der Onkel mit väterlichem Lächeln. Aber … Drogen machen süchtig, unterbricht Amal. Genau, freut sich der Onkel, aber man spricht heutzutage eher von Abhängigkeit als von Sucht.

Sucht, die, schreibt Lukas auf die Tafel. Legalize it, summe ich leise vor mich hin.

Das heißt also …, fährt der Onkel fort, doch ich unterbreche ihn: Der Begriff Abhängigkeit, beginne ich zu dozieren, steht in der Medizin für das unabweisbare Verlangen nach bestimmten Stoffen oder Verhaltensformen, durch die ein kurzfristig befriedigender Erlebniszustand erreicht wird. Alles wendet sich mir voller Bewunderung zu: Woher du das nur alles weißt, Ali? Unter Drogenabhängigkeit, setze ich, Dr. Ali Idaulambo, fort, versteht man eine psychische oder körperliche Abhängigkeit von bestimmten Substanzen wie zum Beispiel Halluzinogenen, Stimulantia oder Sedativa. Es gibt … Danke, Ali, unterbricht mich der Onkel. Okay, okay, sage ich, ich möchte mich ja um nichts in der Welt aufdrängen.

Abhängigkeit, die, schreibt Lukas Neuner auf die Tafel. Some call it tampee, some call it da weed, some call it marijuana, some of them call it ganja, singt Peter der Große.

Ein paar Drogen habt ihr ja schon aufgezählt, setzt der Onkel fort, welche anderen kennt ihr noch? LSD, sagt Afrim, Ecstasy, sagt Tomo, Opium, schreibt Djaafar auf die Tafel, denn als Afghane hat man natürlich gewisse Verpflichtungen. Na, ihr kennt ja schon ’ne ganze Menge, witzelt der Onkel, ich hoffe doch wohl nicht aus eigener Erfahrung? Aber nein, rufen alle wie aus einem Munde, wo denkst du hin, wir sind doch noch Kinder!

Lasst mich das eine noch mal klarstellen, sagt der Onkel, plötzlich wieder ernst geworden, und er sagt es in Großbuchstaben: FÜR DROGEN GIBT ES HIER IM HAUS EINFACH NULL TOLERANZ!

NULL TOLERANZ, schreibt Lukas auf die Tafel. It’s good for the flu, it’s good for asthma, good for tuberculosis, even umara composis, sings Peter the Great, o yeah!

Wir haben das jedem von euch bei seinem Aufnahmegespräch gesagt, setzt Onkel Edo fort, aber man kann es gar nicht oft genug wiederholen: Wer mit Drogen erwischt wird, der hat ’n ernsthaftes Problem mit uns, und wer mit Drogen handelt, der wird bei der Polizei angezeigt.

Alkohol, sagt Tomo, als von weiteren Drogen die Rede ist. Alkohol ist kein Droge, wehrt sich Adolphe vehement. Ich glaube ihm, er ist Experte, denn er gibt die Hälfte seines Taschengeldes für Bier oder höherprozentigen Alkohol aus. Aber mit Alkohol du wirst auch süchtig, gibt Tomo zurück. Das ist richtig, assistiert der Onkel und erfreut uns gleich mit einem halbstündigen, aber keineswegs halbherzigen Lob der Abstinenz. Zigaretten werden ins Spiel gebracht, und die Köpfe beginnen zu rauchen. Ist keine Droge, protestiert Adolphe wieder, und ich glaube ihm auch in diesem Fall, denn er gibt die andere Hälfte seines Taschengeldes für Zigaretten aus.

Zigarette, die, schreibt Lukas Neuner auf die Tafel. Legalize it, don’t criticize it, that’s the best thing you can do, sings Peter the Snow Eater.

Speed, sagt dann die heilige Nino. Speed, schreibt der scheinheilige Lukas auf die Tafel, nicht ohne Nino das übliche Backfischfanglächeln zuzuwerfen, worauf sich ihm ihre Brustwärzlein aus lauter Dankbarkeit entgegenrecken. Speed kills, sage ich laut, und der Onkel nickt zufrieden. I love your nipples, schreibe ich per SMS an Nino, sie wird rot, nachdem sie meine Nachricht gelesen hat, o, die Unschuld vom Lande! Trotel, schreibt sie zurück. Wo bleibt mein zweites T, möchte ich per schriftlicher Eingabe wissen, doch die Antwort bleibt aus. Two T’s to please me, two T’s to tease you, two tits to tease me, one dick to please you – how about it, sugar plum? Wieder keine Antwort. Brustwarzen ist so ein hässliches Wort, sage ich laut, ernte jedoch Unverständnis vonseiten der anderen Kursteilnehmer, nur der Onkel wirft mir einen leicht irritierten Blick zu. Knospen wäre doch viel schöner, überlege ich, oder Venusblüten oder Mamillen. O du schöne Mamelone, du, lüstern flüstern möcht’ ich deinen Milchmädchen, dass stets sie mit mir rechnen können, schreibe ich an Rotkäppchen, o Venus Georgiensis, füge ich hinzu, lass mich mein frenulum an deinen mammillae reiben, doch wieder bleibt sie mir die Antwort schuldig, das gute Kind ist wohl des Lateinischen nicht mächtig. J’aime tes mamelons, versuche ich es auf Französisch, immer noch ohne Erfolg, aber die Franzosen spinnen ja sowieso, was soll man auch von einem Volk erwarten, bei dem die Brust le sein und die Vagina le vagin heißt! Ils sont fous ces Français!

Prävention, die, schreibt Lukas Neuner auf die Tafel. Mir ist kalt, sage ich laut, hat jemand einen Ofen für mich?

Unser Mittagessen wartet schon, als wir nach dem Deutschkurs ins Leo zurückkehren. Es gibt zwei Köchinnen, Khady aus dem Senegal und Chin aus dem chinesischen Sichuan. Wenn Khady kocht, dann ist die Welt in Ordnung. Zwar ist sie keine Götterköchin wie Pitra, doch man übersteht ihre Kochkünste relativ unbeschadet. Wenn Chin Dienst hat, ist hingegen Vorsicht geboten: Angeblich musste sie wegen ihrer miserablen Kochkünste aus China flüchten, und seit sie hier arbeitet, ist die Anzahl der Hunde im Bezirk signifikant zurückgegangen. Heute ist Chin-Tag, diesmal musste ein Dobermann dran glauben, und wenn sie sparsam mit dem Fleisch umgeht, dann kann sie uns damit auf Wochen hinaus in allen nur erdenklichen Varianten erfreuen. Ich habe aber keine Lust auf süßsauren Dobermann oder Dober Man Wan Tan, ich verzichte also auf das Mittagessen und gehe nach Erledigung meiner Hausaufgaben – wir schreiben hundert Mal Ich nehme nie keine Drogen nicht – gleich zu Pitra.

Pitra Götterköchin, Pitra Geschichtenköchin, Pitras Zimmer als Ort des permanenten Pfingstwunders, durch das jeder jeden versteht. Heute ist Nuriddin zu Besuch, Nuriddin aus der Mongolei. Seit ihm Polizisten in seiner Heimatstadt das rechte Bein zertrümmert haben, um ihn zum Singen zu bringen, hinkt er wie ein schlechter Vergleich durchs Leben. Doch er hat sich sein sonniges Gemüt bewahrt und ist außerdem ein guter Geschichtenerzähler, der nicht redet, sondern mit Worten malt, der Bilder in die Köpfe der Zuhörer zaubert, Bilder in den Farben der Wüste, von Bergen so rot wie die Abendsonne und von pfeilschnellen Reitern in nachtschwarzen Gewändern.

Dann bin ich dran. Heute, meine Lieben, erzähle ich euch die Geschichte von Tomo, eine jener Geschichten, die sich dem Sehenden sofort und ohne Schwierigkeiten offenbaren. Tomo wuchs … Aber nicht so traurige Geschichte wie letztes Mal, wirft Anunu, die Vorlaute, ein. Du musst … ICH bestimme, was hier erzählt wird, unterbreche ich sie mit Donnerstimme, worauf sie vor Schreck den Kopf einzieht wie eine Suppenschildkröte. Tomo, so beginne ich erneut, wuchs in einem kleinen Ort in den Bergen Bosniens auf. Als er ungefähr vier Jahre alt war, verbot ihm seine Mutter eines Tages, mit seinem besten Freund zu spielen. Tomo weinte, seine Mutter sagte irgendetwas von Kroaten und Serben, das er nicht verstand. Du bist ein Serbe, schärfte sie ihm ein. Bald danach durfte er auch nicht mehr in den Kindergarten gehen. An seinem fünften Geburtstag standen plötzlich Männer mit Gewehren im Haus, seine Mutter schnitt gerade die Geburtstagstorte an und ließ vor lauter Schreck das Messer fallen. Tomo kannte manche von den Männern, auch der Vater seines besten Freundes war dabei, die Männer schrien und drohten mit den Gewehren, und Tomo fürchtete sich und verstand nicht, was los war. Es passierten andere, ähnlich bedrohliche Dinge im Ort, in dem hauptsächlich Kroaten lebten, wie auch Tomo mittlerweile wusste, und eines Tages sagte sein Vater Wir müssen weg. Dinge wurden zusammengepackt und ins Auto geladen, Tomo dachte an den Sommerurlaub, den sie einmal am Meer verbracht hatten, doch diesmal lag überall Schnee. Sie fuhren lange mit dem Auto, es war kalt, denn die Heizung funktionierte nicht, sie mussten einige Male umdrehen und einen anderen Weg suchen. Seine Mutter weinte die meiste Zeit, sein Vater schaute grimmig, und Tomo dachte, er wäre böse auf ihn. Nach zwei Tagen kamen sie in eine Stadt, die er nicht kannte. Ein Bruder seiner Mutter lebte dort, und sie wohnten einige Zeit bei ihm in der Wohnung. Man konnte nicht auf der Straße spielen, es gab keine Felder, über die man laufen konnte, Tomo hatte kein eigenes Zimmer. Irgendwann wohnten sie wieder in einer eigenen Wohnung, eines Tages ging Tomo in die Schule, und er fand bald neue Freunde.

Manche dieser Freunde und Mitschüler sprachen eine andere Sprache, wenn sie sich untereinander oder mit ihren Eltern unterhielten, Tomo verstand kein Wort. Das ist Albanisch, erklärte seine Mutter. Eines Tages wurde einer seiner albanischen Freunde in der Schule verprügelt, Tomo verteidigte ihn und bekam auch Prügel ab, und von da an nannten ihn die anderen Serben in der Klasse Verräter. Es gab mehr und mehr solche Prügeleien, und es kam auch auf der Straße immer öfter zu Kämpfen. Eines Tages fielen schließlich Bomben vom Himmel.

Als der Bombenregen vorbei war, atmeten alle auf, doch das Leben wurde nicht einfacher. Mehr und mehr Serben verließen das Stadtviertel, in dem Tomo mit seinen Eltern wohnte, es gab eingeschlagene Scheiben in dem Geschäft, das seine Eltern zusammen mit dem Bruder der Mutter führten, die Reifen ihres Autos wurden aufgeschlitzt, bei Straßenkämpfen gab es immer wieder Tote in der Stadt. Tomos Eltern blieben trotzdem. Sie hatten sich hier eine neue Existenz aufgebaut und wollten nicht erneut alles aufgeben. Und dann kam Tomo eines Tages von der Schule, wollte in die Straße einbiegen, in der sich Geschäft und Wohnung befanden, doch sie war abgesperrt. In der Entfernung sah er Polizei und Rettung und Feuerwehr stehen, aus einem Haus, aus seinem Haus, wurde gerade eine Bahre herausgeschoben, darauf lag ein zugedeckter Körper, eine zweite Bahre folgte. Und dann rannte er los. Und rannte und rannte und rannte.

Armer Tomo, sagt Nuriddin, und im selben Augenblick, als Anunu zu ihrer unvermeidlichen Kritik an meiner Geschichte ansetzen will, geht die Tür auf – und herein tritt Murad der Unerwünschte! Murad Magomazov, der du das Zimmer nicht mit zwei Negern teilen möchtest, trete ich ihm entgegen, was zum Teufel tust du hier bei der Schwarzen Köchin? Er weicht meinem Blick aus und drückt sich wortlos an mir vorbei. Pitra heißt ihn willkommen und reicht ihm einen Teller mit Huhn und Süßkartoffeln, Halima rückt zur Seite, um Platz für ihn zu machen, und er lässt sich auf dem Sofa nieder, als wäre er seit Anbeginn der Zeiten an genau diesem Ort zu Hause. Ich warne die Schwarze Köchin und ihre Gäste vor ihm, wie ich schon den Onkel und unsere Betreuer gewarnt habe, doch genau wie bei jenen stoße ich auch hier mit meinen Warnungen auf taube Ohren, und so verlasse ich resigniert den Raum.