GEJAGTE

Die sich öffnende Tür seines Gefängnisses riss ihn aus seiner Lethargie. Dunkel lasteten die Schleier des nahenden Todes schon auf ihm, und er musste kämpfen, um überhaupt auf die Beine zu kommen. Endlich stand er schwankend da und knurrte seine Henker bedrohlich an, die furchtsam an der Tür stehen geblieben waren.

Nur nicht im Liegen sterben wie ein waidwundes Rehkitz. Stehend dem Tod entgegensehen, einen von ihnen mitnehmen. Ein letztes Mal zupacken, reißen, Blut schmecken, bevor es das eigene Blut sein würde, das heiß aus seiner zerfetzten Kehle, seinem durchbohrten Leib schießen und den schmutzigen Boden röten würde.

Er blinzelte und sah, dass einer der beiden ein Leopard war. Er wusste, damit war sein Schicksal besiegelt. Wenn er noch gehofft hatte, zwei Menschen zu überwältigen, was auch in seinem geschwächten Zustand durchaus möglich gewesen wäre, dann sah er diese Hoffnung jetzt zunichtegemacht. Gegen einen der Jagdleoparden des Königs würde er im Kampf nicht bestehen können.

Schatten legten sich auf seinen Blick. Er keuchte, zwang sich, bei Bewusstsein zu bleiben. Fachte den Zorn an, der tief in seinem Herzen nur noch in einem schwachen Funken glomm. Töten. Sterben.

Er duckte sich zum Sprung.

Trenner

»Massinissa«, sagte Lilya leise. »Amayyas. Erkennst du mich?« Ihre Stimme drohte zu brechen. Der Panther stemmte sich auf die Füße, sank wieder zurück, kam taumelnd zum Stand. Sein Kopf pendelte hin und her und er ließ ein tiefes, heiseres Knurren hören. Er war zu schwach, sich auf den Beinen zu halten, aber er würde kämpfen.

»Amayyas«, sagte sie noch einmal lauter. »Ich bin es, Lilya.«

Auch das Knurren wurde lauter. Ein wilder, kalter Funke glühte in den Augen des todgeweihten Pantherprinzen auf. Er erkannte sie nicht, genau wie Aspantaman gesagt hatte.

Lilya seufzte und verwandelte sich.

Trenner

Seine Augen spielten ihm einen verhängnisvollen Streich. Der Mensch war verschwunden, zwei Leoparden starrten ihn lauernd an. Woher war der zweite gekommen? Wo war der Mensch ‒ hatte er sich in seinen Rücken geschlichen und hob schon den Speer, um ihn aufzuspießen? Der Panther warf sich keuchend herum, aber hinter ihm war niemand. Seine Beine knickten weg, er kam mühevoll wieder hoch und stürzte sich auf den näheren, kleineren der beiden Leoparden. Ein Weibchen. Unterschätze sie nie ...

Sie wich mit einer geschmeidigen, eleganten Bewegung aus und ließ ihn ins Leere taumeln. Dann spürte er ihr Gewicht auf seinem Rücken. Er brach in die Knie, hörte das Stöhnen, mit dem die Luft aus seiner Lunge entwich. Die Leopardin war klein, aber stark.

Wo blieb der Leopardenmann? Warum hielt er sich zurück? Wenn der fremde Leopard in den Kampf eingriff, wäre alles vorbei. Er musste sie schnell töten, bevor der andere sich ebenfalls in den Kampf stürzte.

Er rollte sich herum, um ihr mit seinen Hinterbeinen einen Tritt zu versetzen, der sie abschütteln würde.

Trenner

Sie wollte ihm nicht wehtun, sie wollte nicht, dass er noch mehr Schaden davontrug. Jede weitere Verletzung konnte seinen Tod bedeuten. Aber es war schwer zu kämpfen, ohne Krallen und Zähne einzusetzen. Sie schnappte nach Luft, weil er sich unter ihr wand wie ein Fisch. Er wollte auf den Rücken kommen, damit er seine starken Hinterbeine einsetzen konnte. Sie entschied, dass eine kleine Verletzung ihn nicht töten würde. Mit einem Knurren packte sie mit den Zähnen fest die Haut in seinem Nacken und hielt ihn daran fest.

Trenner

Der scharfe Griff ihrer Zähne in seinem Nacken lähmte ihn vollkommen. Er wollte sich wehren, wollte sie abwerfen, wollte ... aber seine Muskeln erschlafften wie auf ein geheimes Kommando. Er sank zu Boden und lag da, reglos, wehrlos. Nun war es also vorbei. Sie würden ihn töten wie ein Opferlamm, das gefesselt und vor Angst blökend auf dem Boden lag. Aber er würde nicht winseln. Er würde ihnen die Genugtuung nicht geben, wie ein Feigling zu sterben. Auge in Auge mit dem Tod würde er aus dem Leben gehen, lachend.

Der unbarmherzige Griff löste sich, aber seine Kraft reichte nicht mehr aus, um sich aufzurichten. Mühevoll, unter Aufbietung all seiner restlichen Energie wandte er den Kopf und sah in die Augen des Weibchens.

Trenner

»Hilf mir, ihn festzuhalten«, keuchte Lilya. Udad war mit einem Sprung an ihrer Seite, aber als Lilya den Panther losließ, war deutlich zu sehen, dass er sich nicht mehr wehren konnte.

Lilya nickte Udad zu und verwandelte sich zurück. Sie kniete vor dem Panther nieder und nahm furchtlos seinen Kopf in die Hände. »Amayyas«, sagte sie langsam und deutlich, »fürchte dich nicht. Wir müssen dich von hier fortbringen. Hörst du mich? Kannst du verstehen, was ich sage?«

Seine Lider senkten sich langsam. Lilya fühlte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Er würde doch nicht jetzt und hier sterben, das konnte er nicht tun!

»Amayyas«, sagte sie scharf.

Der Panther öffnete die Augen, schloss sie, öffnete sie wieder. Lilya schluchzte vor Erleichterung. Sie blickte auf und sah Udad an. »Wie schaffen wir ihn hier raus?«

Der Leopardenmann nickte. Er beugte sich tief hinab und schob seine Schulter mit einem Ruck unter den Panther. Er schüttelte sich, ächzte leise, dann hob er Amayyas auf seinen Rücken. Der Panther war so abgemagert, dass Udad, der zwar nicht groß, aber kräftig war, ihn tragen konnte.

Lilya ging zur Tür und öffnete sie. »Ich muss euch beide verbergen«, sagte sie. »Aber ich kann den Zauber sicherer wirken, wenn ich ihn nicht auch noch auf mich ausdehne. Also wünscht uns Glück, dass wir niemandem begegnen.«

Sie ließ das Zeichen des Verbergens erscheinen und warf es über die beiden Leoparden, den hellen und den schwarzen. Selbst für ihre Augen flimmerten und verschwammen die Umrisse der beiden Tiere, sodass sie zweimal hinsehen musste, um zu erkennen, wo sie sich befanden.

»Los«, sagte sie leise und ging voran.

Den Rückweg durch den labyrinthischen Keller fand sie leicht mithilfe des Findezaubers. Dann konnte sie sich ganz und gar darauf konzentrieren, Udad und den Prinzen verborgen zu halten, denn sie konnte sich erstaunlicherweise noch gut an den Weg zu Amayyas Gemächern erinnern.

Sie ging mit gesenktem Kopf und verhüllte ihr Gesicht mit dem Schleier. Es war ein Glück, dass es hier im Serail so viele Sklavinnen aus dem Wüstenvolk gab. So fiel sie im Wirtschaftstrakt nicht auf. Erst als sie den ersten Hof überquerten und sich den Räumen des Hofstaates und der Beamten näherten, musste sie sich mehrmals fragen lassen, was sie hier trieb. Ihre Antwort, der Obersteunuch Homyar habe nach ihr geschickt, traf auf keinerlei Verwunderung oder Misstrauen. Anscheinend fand der neue Obersteunuch Vergnügen daran, sich Sklavinnen in sein Bett zu bestellen.

Lilya schritt schneller aus. »Geht es noch?«, fragte sie leise. Sie glaubte, das Schnaufen Udads zu hören. Er atmete schwer, aber sein verschwommener Schatten blieb unbeirrt an ihrer Seite. »Es ist nun nicht mehr weit.«

Nach der Überquerung des zweiten Hofes blieb sie einen Moment lang im Schatten des Torbogens stehen und beobachtete den Garten. Um diese Nachtzeit und bei der lauen, duftenden Luft waren viele Höflinge auf den gekiesten Wegen unterwegs. Sie würde es nicht schaffen, ungesehen in das innere Gebäude zu gelangen.

Lilya stützte sich kurz gegen den Pfeiler. Sie spürte den langen, anstrengenden Tag in ihren Gliedern. Aber es nützte nichts, wenn sie klagte. Eine letzte Anstrengung, dann waren sie alle in Sicherheit. Vorläufig.

Sie schloss die Augen, sammelte sich und verstärkte den verbergenden Zauber so weit, dass sie ihn auch über sich selbst legen konnte.

Die Welt verschwamm für einen Moment vor ihren Augen, dann sah sie wieder klar. »Es geht weiter«, sagte sie zu Udad, der schwer atmend neben ihr stand. Amayyas auf seinem Rücken regte sich nicht. Lilya erschrak. Sie legte die Hand auf seine Flanke und suchte nach seinem Herzschlag, nach einer Atembewegung. Es dauerte lange, bis sie ein Beben unter ihren Fingern fühlte. Er lebte, aber sein Leben verrann.

Lilya schüttelte sich und glitt in ihre Leopardengestalt. So war es schwerer, den Zauber aufrechtzuerhalten, aber sie musste Udad helfen, der vor Erschöpfung zitterte. Sie schob sich an seine Seite und half ihm, den Prinzen zu tragen.

Vorsichtig, aber so schnell wie möglich, liefen sie weiter, durch die marmorglatten Hallen und Gänge des Palastes, sie rannten achtlos an vergoldeten Türen und ebenholzdunklen Wandverkleidungen vorüber, an geschnitzten Bildnissen und juwelenbesetzten Tischen, an Elfenbeinintarsien und seidenen Wandteppichen, bis sie schließlich an der Tür angelangt waren, die zu des Prinzen Gemächern führte. Lilya keuchte inzwischen beinahe so heftig wie Udad. Sie stieß mit der Schulter gegen die Tür, die verschlossen war, knurrte einen Fluch und ließ das Verbergezeichen verschwinden. »Öffne«, dachte sie mit Wucht und schickte das gelb schimmernde Schlüsselzeichen in das Schloss der Tür. Das Schloss knackte, die Tür sprang auf und Udad rettete sich mit letzten Kräften über die Schwelle. Lilya folgte ihm auf den Fersen und schloss die Tür, indem sie dagegensackte.

»Yani«, rief sie. »Hilf uns.«

Der junge Wüstenmann stand schon neben Udad und half ihm, den Pantherprinzen auf den weichen Teppich zu betten. Aspantaman eilte herbei, Angst in den Augen und ein flaches Becken mit Wasser in den Händen. Udad stöhnte und fiel beinahe mit dem Kopf hinein. Während er trank, verwandelte er sich in einen Menschen, der keuchend und mit nassem Gesicht auf Händen und Füßen kniete. »Das war knapp«, sagte er und stöhnte, weil ihn ein Krampf packte.

Lilya kam an seine Seite und massierte ihm die Schultern. »Du hast Amayyas gerettet«, sagte sie und küsste ihn aufs Ohr. »Leg dich hin, ruh dich aus. Jetzt bin ich an der Reihe.«

Aspantaman kniete neben dem reglosen Amayyas. Er hob den Kopf und sah Lilya verzweifelt an. »Er ist tot«, sagte er.

Lilya legte ihre Hände wie vorhin auf Kopf und Flanke des Panthers. Sie horchte, fühlte, schüttelte den Kopf. »Da ist noch Leben«, sagte sie, »aber es ist nur noch ein schwacher Funke.« Sie legte das Gesicht in die Hände. »Ich bin so müde«, sagte sie. »Aber wir können nicht warten, bis ich mich ausgeruht habe. Es muss jetzt geschehen. Wenn ich nur wüsste, was zu tun ist.«

Sie glitt mit Geistesfingern über ihre Zeichen. Heilung. Das Zeichen, das die Wunden schließen würde. Dann Stärke. Der Panther war vollkommen entkräftet und nahezu verhungert. Schlaf. Das war immer gut, um das Zeichen der Heilung zu unterstützen. Ruhe ‒ für den Geist des Prinzen, der nicht weniger aufgewühlt und verwirrt war als der seines Erziehers.

Sie seufzte und hob den Kopf. »Ich werde tun, was ich kann.«

Lilya bat Aspantaman um einen Schluck Wasser. Der Eunuch brachte es ihr und dazu einen Teller mit frischen Früchten. Er lächelte, als sie ihm überrascht dafür dankte.

Yani, der es inzwischen übernommen hatte, Udads Schultern und Rücken zu massieren, erklärte: »Er hat, bevor ihr kamt, alles Mögliche zu essen aus der Küche gekl... geholt.« Sein Blick, mit dem er den Eunuchen bedachte, sprach von äußerster Hochachtung.

Aspantamans Lächeln wurde breiter. Damit erinnerte er Lilya an sein altes Selbst, obwohl er viel magerer und kraftloser wirkte als noch vor einem Jahr. »Obst, Brot und Reste von Mahlzeiten der Herrschaft kann ich leicht besorgen. Schwieriger ist frisches, rohes Fleisch.« Das Lächeln verblasste und er sah besorgt von Amayyas zu Udad. »Kann er ...?«

»Er kann«, erwiderte Udad und biss herzhaft in einen Apfel.

Lilya aß ebenfalls einen Apfel und eine Handvoll Feigen, dann bat sie die anderen, sie nicht mehr zu stören.

Sie setzte sich im Schneidersitz vor den bewusstlosen Panther und sammelte sich. Noch nie zuvor hatte sie vier der Zeichen gleichzeitig beschworen. Sie war nicht sicher, ob das überhaupt etwas war, was sie bewältigen konnte. Aber auch, wenn sie es noch nie zuvor getan hatte ‒ Lilya wusste, dass es dem Prinzen keine Heilung bringen würde, wenn sie die Zeichen nacheinander beschwor. Es musste auf einen Schlag gelingen oder die erhoffte Wirkung würde verpuffen.

Heilung. Das Zeichen der Rose mit verschlungenen Dornenranken. Rot, natürlich. Stärke. Ein Dreieck, von zwei Blitzen durchkreuzt. Violett. Schlaf: eine weiche, mehrfach ineinander verknotete Linienführung in Blautönen, die von zartem Azur bis zu sattem Nachtblau verliefen. Ruhe: dünne Gitterlinien, Grau und Grün.

Lilya spürte das Zittern ihrer Nerven und legte die Hände ineinander, um ihre Kraft zu lenken. Die vier Zeichen flackerten vor ihrem Blick, und es gelang ihr, sie alle zu sehen und einigermaßen stabil zu halten. Jetzt kam die nächste Schwierigkeit. Mit dem Atemzug, der die Zeichen zu Amayyas schickte, musste sie zwei davon umkehren. Die Dornenrose musste in einem sonnenhellen Goldton erstrahlen und das Dreieck sich von Violett in ein sattes Erdbraun mit tannengrünen Blitzen verwandeln und dabei von der Spitze auf die Basis gedreht werden.

Lilya hielt den Atem an, bedachte noch einmal die nötigen Transformationen und atmete aus.

Rot und Gold, Violett und Braun, Grün und Blau, Zacken und Kurven, Spitzen, Dornen und sanfte Schwünge. Die vier Zeichen verschmolzen zu einem, das in einer Fülle von Farben und Formen schier zu bersten schien. Es schwoll an, bis es das Zimmer ausfüllte, und zog sich dann mit einem schwirrenden Geräusch wieder so weit zusammen, bis es nur noch den reglosen Panther umhüllte. Amayyas lag in der Mitte eines Gespinstes aus grell strahlenden Fäden, die von Mitternachtsviolett über Blutrot, Goldorange, Blassgelb und Pfefferminzgrün in ein strahlendes Königsblau changierten. Das Gespinst flammte blendend weiß auf und erlosch, wobei das Nachbild noch eine Weile in einem schmerzhaften, rötlichen Schwarz auf Lilyas Netzhaut verharrte.

Amayyas streckte sich und knurrte stöhnend.

Aspantaman stürzte vom Fenster, wo er still gesessen hatte, zu ihm und legte seine Hände auf den Kopf des Panthers. »Amayyas«, sagte er drängend. »Mein Prinz. Hörst du meine Stimme?«

Der Panther öffnete langsam die Augen und erwiderte den Blick des Eunuchen klar und ohne den vorherigen fiebrigen Glanz, der in seinen Augen gelegen hatte. Dann senkte er langsam den Kopf und fiel in einen Schlaf der Erholung.

Aspantaman fuhr mit beiden Händen über die Schultern, Beine und die Flanken des Panthers. »Seine Wunden sind verheilt«, sagte er mit unverhohlenem Staunen. »Hier ist nur noch Schorf und dort, wo die schlimme Entzündung war, eine Narbe.«

Lilya sank auf ihre Fersen zurück und legte ermattet das Gesicht in die Hände. »Ich bin froh«, flüsterte sie. »Er wird leben. Jetzt müssen wir nur noch überlegen, wie wir ihn von hier fort ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Weit entfernt spürte sie, wie jemand sie auffing, als sie zusammensackte, und auf ein weiches Lager bettete. Dann kam der Schlaf, der schwarz war und still wie der Tod und keine Träume brachte.

Als sie erwachte, hörte sie leise Stimmen miteinander reden. Anspannung sprach aus dem Tonfall, drängende Eile, Sorge. Lilya kämpfte sich aus den Armen des Schlafes, die sie wieder hinunterziehen wollten, lockten, schmeichelten, und zwang sich, den Stimmen zu lauschen.

»Wir können es nicht riskieren, auch nur einen Tag länger zu bleiben«, hörte sie. »Ich hätte wissen müssen, dass sein Verschwinden sofort bemerkt wird. Sie durchsuchen im Moment noch die Verliese des Serails, aber dies hier ist der Ort, an dem sie als Nächstes nachsehen werden. Farrokh ist rasend vor Wut. Ich konnte mich seinen Häschern nur knapp entziehen. Natürlich verdächtigt er mich ...«

»Ich habe alles gehört, Aspantaman«, sagte Lilya und setzte sich mit einem kieferverrenkenden Gähnen auf. »Es ist meine Schuld, ich hätte das bedenken müssen.« Sie griff nach ihrem Djilbab und zog ihn über. »Wie geht es dem Prinzen?«

»Gut«, sagte eine schwache Stimme. »Danke.«

Aspantaman lachte breit und rückte beiseite, damit Lilya den Panther sehen konnte, der neben Udad in seiner Leopardengestalt auf dem Boden lag. Udad wandte den Kopf und grinste Lilya an.

»Du bist wach«, sagte Lilya verblüfft.

»Du auch«, erwiderte Amayyas. Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. »Du hast so lange geschlafen, dass wir schon fürchteten, wir müssten dich in einer Hängematte transportieren.« Er neigte den Kopf. »Du hast mich gerettet«, sagte er. »Und noch mehr ‒ es ist kurz vor dem Vollmond, aber ich bin vollkommen bei mir. Du hast etwas mit meinem Geist gemacht.«

Lilya hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung«, entgegnete sie und warme Erleichterung durchströmte sie. Wenn Amayyas auf den Beinen war, wenn er bei klarem Verstand war, dann konnte ihre Flucht sogar gelingen. Aber sie erlaubte es sich nicht, sich dem Gefühl der Erleichterung hinzugeben. »Wie ist die Lage?«, fragte sie.

»Der Kronprinz ‒ Farrokh lässt das Serail durchsuchen«, antwortete Aspantaman. Er warf Amayyas, der bei seinen ersten Worten zusammengezuckt war, einen mitleidigen Blick zu. »Wir sollten von hier verschwinden.«

Lilya nickte und rieb sich den letzten Schlaf aus dem Gesicht. »Ich kann zwei von uns tarnen«, sagte sie. »Mehr wage ich nicht. Es hat mich viel Kraft gekostet, Amayyas zu helfen.«

»Zwei ‒ das müsste reichen«, sagte Yani, der schweigend am Fenster gesessen und hinausgeschaut hatte. Seine Haltung sprach von Wachsamkeit und Unruhe. »Ich gehe mit Aspantaman und Udad vor. Du verbirgst dich und den Prinzen und folgst uns. Wenn wir Aufmerksamkeit auf uns ziehen, umso besser, dann lenkt das von euch beiden ab.«

Lilya erwog seine Worte und schüttelte dann den Kopf. »Ich gehe mit Udad und Amayyas«, sagte sie. »Udad ist zu auffällig ‒ auch als Mensch. Wenn einer der Magiya des Königs euch über den Weg liefe, würde er einen Rakshasa sofort erkennen.«

»Und wie willst du ohne Schutz durch das Serail kommen?«

Lilya lächelte. »Lass das mein Problem sein. Ich weiß mir zu helfen.« Sie war nicht halb so zuversichtlich, wie sie sich gab, aber dies war die einzige Möglichkeit, die sie sah. Sie mussten den Prinzen hinausschmuggeln, ohne dass Farrokh und die Wachen ihn bemerkten.

Sie beredete noch kurz mit Aspantaman den Weg, den sie mit den beiden Leoparden nehmen würde ‒ es war nicht der kürzeste, aber bis zum Haupttor der am wenigsten auffällige Weg aus dem Serail. Dann nahm sie Yani beiseite und flüsterte: »Pass auf ihn auf. Er ist weniger bei Kräften, als es den Anschein hat. Und Farrokh wird auch nach ihm suchen.«

Yani nickte schweigend und drückte ihre Hand. »Viel Glück«, sagte er leise. »Wir treffen uns in der Altstadt oder spätestens im Dorf wieder.«

Die Tür schloss sich hinter Yani und dem Eunuchen. Lilya seufzte und sah die beiden Leoparden an. »Ich hoffe, meine Kraft reicht«, murmelte sie.

Sie spürte seine Gegenwart, ehe sie seine Stimme hörte. »Deine Kraft würde ausreichen, um das Serail in Trümmer zu legen«, sagte Der Naga. »Warum nutzt du sie nicht?«

Sie musste nicht hinschauen, um zu wissen, dass Udad und Amayyas starr und leblos im Zauberbann lagen.

»Ich will es nicht«, sagte sie und wandte sich zum Schlangengott um. »Wenn ich der Verlockung nachgebe, werde ich nicht mehr ich selbst sein.«

Der Naga legte den Kopf auf die Seite und musterte sie. »Du kannst nicht wissen, was es mit dir macht, ehe du es probiert hast.« Sein Tonfall war neutral, aber sie sah das amüsierte Glitzern in seinen Juwelenaugen.

Lilya schüttelte den Kopf. »Das wünschst du dir«, sagte sie. »Ich probiere meine Drachenkraft und sitze dann in der Falle. Was, wenn mir das Ergebnis nicht gefällt?«

»Warum sollte es das? Du hast es doch schon getan. Die Tür in der Drachenburg ...«

»... war ein Kinderspiel«, fauchte Lilya. »Halte mich nicht für dumm, Naga!«

»Das tue ich nicht.« Er lächelte und stand auf. »Gut, dann verfahre auf deine Weise. Aber du musst wissen, dass du damit nicht nur dich unnötig in Gefahr begibst, sondern auch deine beiden Schützlinge.« Sein Blick streifte den Pantherprinzen. Lilya glaubte, einen winzigen Funken von Ärger in seinem Blick zu erkennen.

»Du verlierst deine Wette, wenn ich ihn erlöse«, sagte sie.

Der Naga zuckte gleichgültig die Achseln. »Ja. Und?« Er wandte sich ab. »Die Wette war nur ein Vorwand. Der Shâya ist es, den ich treffen wollte.«

Lilya lachte bitter auf. »Das ist dir nicht gelungen, Naga. Er tötet weiter, und Farrokh ist schlimmer, als es Amayyas je gewesen wäre.«

Der Schlangengott hob eine Braue. »Woher willst du das wissen?«

Er war verschwunden, ehe Lilya etwas erwidern konnte.

Sie atmete tief durch, um ihren Ärger zu bezwingen, und schloss dann die Augen. Das Zeichen des Verbergens hätte sie mittlerweile im Schlaf beschwören können. Es stand hell vor ihr im Raum, und nur der Umstand, dass sie es über zwei große Leoparden werfen musste, kostete sie Kraft. Sie öffnete die Augen und sah besorgt auf Udad und Amayyas. Aber unter dem schimmernden Netz des Zauberzeichens waren die beiden großen Katzen nur noch schemenhaft zu erkennen ‒ also würden andere als ihre eigenen Augen dort nichts sehen, was ungewöhnlich erschien. Sie lächelte erleichtert. »Gehen wir«, sagte sie. »Haltet euch dicht vor mir, damit ich es sofort erkenne, wenn der Zauber löchrig wird!«

Sie zog ihren Schleier vor Mund und Nase und ordnete die weite Kapuze ihres Djilbabs: nicht zu weit ins Gesicht gezogen, damit sie nicht verdächtig wirkte, aber weit genug, um einen Schatten zu werfen. Dann nickte sie den beiden Leoparden zu und öffnete die Tür.

Schon nach wenigen Schritten stießen sie auf die erste Wache. Der Mann stand am Kopf der Treppe und starrte Lilya misstrauisch an. »Wohin gehst du? Woher kommst du?«

Sie senkte den Blick und flüsterte: »Der Obersteunuch ...« Mehr musste sie nicht sagen. Der Wächter grinste breit und gab die Treppe frei.

Es war deutlich zu spüren, dass das Serail sich im Aufruhr befand. Laute Stimmen, die Kommandos riefen, Schritte in schweren Stiefeln, wo sonst nur Pantoffeln über den Marmor flüsterten, das Rasseln von Säbeln, zuschlagende Türen, Protestrufe. Das Serail wurde systematisch durchsucht.

Lilya lief unbeirrt mit gesenktem Blick weiter, obwohl ihre Nerven aufs Äußerste angespannt waren. Nirgendwo waren Bedienstete oder Sklaven zu sehen ‒ anscheinend hatte es eine Anweisung gegeben, dass alle in ihren Quartieren zu bleiben hatten. Sie fiel auf wie ein angemaltes Ferkel auf dem Frühlingsfest.

Trotzdem gelangten sie ohne weiter behelligt zu werden bis zum ersten Hof. Das Tor ins Freie lag vor ihnen, Lilya hörte das Rollen von Karrenrädern, die Rufe der Eseltreiber, Lachen und Schwatzen, Kindergeschrei.

Und sie hörte den Ruf: »Haltet das Mädchen fest! Zauberwerk!«

Lilya begann zu laufen, aber von rechts und links kamen Wächter herangerannt, verstellten ihr den Weg und packten sie.

»Lauft«, rief sie. Sie sah, wie der verschwommene Umriss des einen Leoparden einen Satz auf das Tor zumachte, der andere zögerte, wandte sich zu ihr um.

Es waren nur noch ein Dutzend Schritte bis in die Freiheit ‒ aber vor ihrem entsetzten Blick schloss sich langsam das Tor des Serails und sperrte sie alle ein.