DRACHENGOTT

Der Naga schob sich mit einer geschmeidigen Bewegung an dem Panther vorbei und ging auf Lilya zu. Er winkte beiläufig zu den Männern hinüber, die augenblicklich in eine Zauberstarre fielen. Sogar das Fackellicht hörte auf, im Luftzug zu tanzen.

»Du?«, sagte Lilya. »Du warst das vorhin in meiner Sänfte, ich erinnere mich wieder. Warum verfolgst du mich? Was willst du von mir?«

Der Naga hob die Hand, um ihren Schleier zu lüften. »Sieh mich an, Tochter meines Freundes«, sagte er leise. »Es ist an der Zeit, dass du dich dem stellst, was dir vorbestimmt ist. Fürchte dich nicht, Kind meines Volkes. Siehst du das Tier, das hinter mir im Dunkeln kauert? Er ist dein schlimmster Feind. Aber wenn es dir gelingt, ihn zu zähmen, wird er dir treu dienen.«

Lilya warf einen flüchtigen Blick auf den Werpanther. Sie runzelte die Stirn. »Ich kann dort nur einen jungen Mann erkennen. Er sieht erschöpft aus und er ist verwundet.«

Der Naga lächelte schwach. Er berührte ihre Stirn über dem bösen Auge. Lilya bog unwillig den Kopf zur Seite und griff nach ihrem Schleier. Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte Der Naga ihr Handgelenk gepackt. »Nein«, sagte er. »Sieh genau hin, aber blende dich nicht vorher.« Er trat beiseite, seine Hand ruhte auf ihrer Schulter. »Sieh hin«, wiederholte er.

Lilya kniff die Lippen zusammen. Sie fixierte den Jüngling, der vor ihnen auf dem Boden kniete. Seine Umrisse waren undeutlich, als läge ein Schleier vor ihrem Blick. Ein großer, dunkler Schatten lagerte über seiner Gestalt. Massiv. Mächtig. Sie blinzelte verwirrt. Gelbe Augen und ein peitschender Schwanz. Reißzähne. Ein muskulöser, schwarzer Leib. Über seine Flanke zog sich eine lange, blutige Schramme. Sie glaubte, ein drohendes Grollen zu vernehmen.

Einen winzigen Moment lang fühlte sie eine starke, wilde Verbundenheit mit dem Panther, der vor ihr kauerte, eine Verwandtschaft in Seele und Körper. Sie streckte sich unwillkürlich, erwartete, Klauen an den Händen und einen peitschenden Schwanz zu spüren, Tasthaare, die im Luftzug bebten, Augen, die jede winzige Bewegung registrierten, starke Muskeln, die auf einen Befehl warteten, um sich zusammenzuziehen und sie mit einem großen Satz nach vorne zu schleudern.

Dann blinzelte sie, fand sich selbst in ihrem zarten, seltsam schwachen Körper, und wieder kauerte vor ihr der junge Mann. Seine Augen fixierten sie mit einem Ausdruck, den sie nicht deuten konnte.

»Kein Tier«, sagte sie laut. »Das ist nur eine Illusion, Zauberwerk. Ich erkenne einen Zauber, wenn ich ihn sehe.«

Der Schlangengott lachte. »Du bist ganz und gar die Tochter deiner Eltern«, sagte er. »Gut, mein Kind. Dann folge weiter deinem Weg. Und wenn du mich brauchst, rufe nach mir.« Er klopfte ihr sacht mit zwei Fingern gegen die Augenbraue und verschwand.

Lilya hob die Hand und fasste an die Stelle, die er berührt hatte, denn sie brannte und pochte wie eine Verletzung. Sie hörte, wie die Männer sich hinter ihr regten.

»Lilya Banu«, rief der dicke Teto flehend. »Komm her, bitte. Der Herr lässt mich töten, wenn dir etwas zustößt.«

Sie ließ den Blick nicht von dem Jüngling. »Wer bist du?«, fragte sie leise.

»Amayyas«, erwiderte er heiser. Das Sprechen schien ihm Mühe zu bereiten. Er atmete keuchend und fauchte wie eine Katze.

»Lauf, Amayyas«, sagte sie noch leiser. »Ich halte die Männer auf.«

Er regte sich nicht. Sein Blick bohrte sich in ihren. »Der böse Feind hat freundlich mit dir gesprochen«, sagte er. »Dann bist auch du meine Feindin. Lilya.« Er hob den Kopf und atmete grollend aus. Dann stand er mühsam auf und schob sich von ihr fort.

Lilya hörte, wie die Männer hinter ihr in Bewegung gerieten. »Bleibt stehen«, rief sie und gab sich Mühe, schrill und ängstlich zu klingen und sich dabei so groß wie möglich zu machen, um ihnen den Blick zu versperren. »Bleibt stehen, ich flehe euch an. Er wird mich töten, wenn ihr näher kommt!«

Amayyas verschwand lautlos und langsam in der Düsternis. Lilya hob die Hände, breitete die Arme aus, imitierte ein angstvolles Schluchzen und taumelte rückwärts. Sie stieß gegen den ersten der Männer und ließ sich fallen. Der Mann hatte nicht damit gerechnet und geriet bei dem Versuch, sie aufzufangen, ins Wanken, wodurch er den anderen Weg und Sicht versperrte. Lilya blockierte so lange weiter jammernd und schluchzend den Weg, bis sie erkennen konnte, dass Amayyas verschwunden war. Dann stellte sie ihr Gejammer ein, ordnete ihren Schleier und nickte dem dicken Teto befehlend zu. »Bring mich endlich nach Hause.«

Die Männer standen da und starrten unschlüssig in die undurchdringliche Dunkelheit. Der Bewaffnete schoss blind einen Armbrustbolzen hinter dem Panther her, zuckte dann mit den Schultern und ließ die Waffe sinken. »Er ist fort«, sagte er und kratzte sich am Kopf.

»Soll sich doch der Shâya darum kümmern«, sagte ein anderer. »Wofür riskieren wir hier unsere Haut? Der König hat Soldaten, die sind für so was ausgebildet. Kommt, das Mädchen ist ja in Sicherheit.«

Lilya sah erleichtert, dass die Männer den Rückweg antraten. Der verwundete junge Mann hatte ihr leidgetan. Er hatte so gequält ausgesehen. Wahrscheinlich war er verhext worden. Wie schrecklich das sein musste, wenn man von allen gejagt wurde!

Während die Sänfte langsam nach Hause schaukelte und Ajja jammernd und wehklagend, händeringend und Götter und Geister um Beistand anrufend neben ihr herging, dachte Lilya über all das nach, was zuvor geschehen war. Dieser seltsame Junge, Amayyas, der auch ein Panther war. Er hätte sie leicht töten können.

Ob das Amulett, das sie in der Tasche mit sich trug, sie vor ihm bewahrt hatte? Es sollte wilde Tiere zähmen, hatte der Kaufmannsgehilfe versichert. Sie schob die Hand in die Tasche und berührte das kühle Silber und das dünne Pergament, das darin gefasst war.

Dann schüttelte sie den Kopf. Sie hatte kein wildes Tier vor sich gesehen, nur einen verängstigten, erschöpften jungen Mann. Einen sehr hübschen jungen Mann, wagte sie in Gedanken hinzuzufügen. Schwarzes, glänzendes Haar hatte er gehabt. Grüne Augen. Nicht gelbe Pantheraugen, wie der Zauber ihr hatte vorgaukeln wollen. Grüne Augen und eine dunkle Haut. Aber trotz seiner Farben schien er kein Wüstenmann zu sein. Seine Kleider waren vornehm gewesen und seine Haltung, seine Ausstrahlung die eines Adeligen.

Ob ihr Großvater wusste, wer dieser Amayyas war? Ob sie es wagen konnte, ihn direkt danach zu fragen?

Lilya stützte das Kinn in die Hand. Ihr Auge brannte wie Feuer, und noch mehr schmerzte die Stelle, die der seltsame Schlangenmann berührt hatte.

Ihre Gedanken schreckten davor zurück. Was hatte er zu ihr gesagt? Tochter meines Freundes? Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wie konnte er das sagen? Ihre Eltern waren doch schon so lange tot.

Und all das andere, was er zu ihr gesagt hatte, all die rätselhaften Andeutungen ... Sie würde ihren Großvater bitten, mit ihr darüber nachzudenken, was das alles zu bedeuten hatte. Wer war dieser Mann? Wieso hatte sie das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben? Nicht in Fleisch und Blut. Es war ein Bild. Eine Zeichnung, ein Gemälde? Sie zog grübelnd die Zunge zwischen die Zähne und strengte ihre Gedanken an. Es wollte ihr nicht einfallen.

»Wir sind zu Hause, mein Pfauenfederchen«, riss Ajjas Stimme sie aus ihren Gedanken. »Gib mir deinen Arm, stütz dich auf mich. Oh, was musst du dich gefürchtet haben! Ich hätte dich nicht alleine gehen lassen dürfen. Die Bestie hätte dich töten können, oh, was für eine Angst habe ich ausgestanden um dich ...«

So ging es unablässig weiter, während die Amme Lilya ins Haus brachte.

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Kannst du dir vorstellen, was ich für eine Angst ausgestanden habe, Seelenbruder?

Nicht, als der arme Junge vor mir kniete. Nein, vorher, als diese Wüstenfrau mich so erschreckt hatte und ich deshalb meinen Weg aus dem Basar nicht mehr finden konnte. Ich bin so lange durch diese düsteren Gänge gelaufen, bis mir die Füße wehtaten wie noch nie in meinem ganzen Leben und ich so erschöpft war, dass ich mich am liebsten auf dem Boden zusammengerollt und nach meiner Ajja geweint hätte wie ein kleines Kind.

Nein, ich habe es nicht gewagt, jemanden nach dem Weg zu fragen.

Es war wie verhext: Wohin ich mich auch wandte, habe ich nur Wüstenleute gesehen. Diese schrecklichen, dunklen Gesichter mit den Kringeln und Schnörkeln, die sie im Gesicht tragen. Warum ist mir das vorher nie aufgefallen? Ajja trägt doch auch keine solchen Muster auf der Haut ‒ und auch sonst keiner der Wüstenleute, die ich kenne. Aber dort in diesem grässlichen dunklen Loch von Basar habe ich nur solch Tätowierte gesehen. Es war, als verfolgten sie mich und versuchten, mich davon abzuhalten, wieder ans Tageslicht zu gelangen.

Ich bin immer tiefer und tiefer in den Basar hineingelaufen, bis gar keine Menschen mehr da waren, nur noch Dunkelheit und Gänge und seltsame Geräusche. Da hätte ich doch Angst bekommen sollen, oder? Aber es war ganz anders ‒ als ich allein war mit der Dunkelheit und den Geräuschen darin, habe ich mich vollkommen glücklich und frei gefühlt. Seltsam.

Wenn ich nicht so müde gewesen wäre, hätte es mir sogar Vergnügen bereitet, noch weiter und noch tiefer hineinzulaufen und zu sehen, ob es überhaupt ein Ende dieser Gänge gibt. Mir schien, als führten sie nirgendwohin ‒ oder überallhin. Zauber? Das müsste ein mächtiger Zauber sein, der dies bewirkt.

Aber dann war da der arme, verletzte Junge. Er sah so verwirrt aus. So voller Angst. Und doch hätte sein Blick mir Furcht einflößen können, denn er war wild und kalt, und sein Gesicht war nicht freundlich.

Aber wie kann man auch freundlich blicken, wenn man gejagt wird?

Nein, ich habe es nicht verstanden. Ich muss meinen Großvater bitten, mir etwas über Yuzpalang zu erzählen. Ajja wollte nicht mit mir darüber reden. Sie hat das Schutzzeichen gegen Dämonen und bösen Zauber geschlagen und den Kopf geschüttelt. Und als ich ihr sagte, dass ich ein Amulett getragen habe, das mich wohl geschützt hat, und es ihr zeigte, hat sie laut geschrien. »Wirf es weg«, hat sie gerufen und wieder die Götter und Schutzgeister um Hilfe gebeten. »Das ist böser Zauber. Er wird dich krank machen, er wird dich töten. Gib es deiner Ajja, damit sie es für dich ins Feuer wirft!« So hat sie lamentiert, aber ich habe nicht auf sie gehört. Sie ist immer so ängstlich und glaubt, dass alles Mögliche mich krank macht oder noch schlimmer.

Ich habe sie gefragt, was die Zeichen bedeuten, aber sie wollte es mir nicht sagen. Ich male sie dir hier einmal auf. Es fällt mir erstaunlich schwer, diese Schnörkel und Kringel genau zu kopieren, obwohl ich immer dachte, ich sei geschickt mit der Feder. Aber sie scheinen sich unter meinem Blick zu winden und dagegen zu wehren, auf Papier gebannt zu werden. Aber der Widerstand nützt ihnen nichts, wie du siehst.

Seelenbruder, ich weiß jetzt, wer dieser Mann ist, den ich im Basar traf. Erinnerst du dich an das Buch, von dem ich dir erzählt habe? Das mit den vielen Bildern von Dämonen und Geistern und seltsamen Tieren? Darin habe ich ihn gesehen. Ich weiß, dass er es ist, obwohl er in dem Buch einen Schlangenkopf auf den Schultern trug. Großvater muss es mir noch einmal heraussuchen, denn ich habe nicht mehr in Erinnerung, was dort geschrieben stand. Ich erinnere mich nur noch an den Namen des Mannes: Der Naga.

Trenner

»Was schreibst du da?«, fragte Kobad, der so leise eingetreten war, dass sie ihn nicht gehört hatte. Lilya fuhr zusammen und deckte schützend die Hand über das kleine Büchlein.

»Nichts, Baba«, stotterte sie. »Ich schreibe nur meine Gedanken auf. Ganz allein für mich. Es ist nicht wichtig.« Sie schlug das Buch zu und schob es in ihre Tasche.

Ihr Großvater stand da, auf seinen Stock gestützt, und blickte nachdenklich auf sie herunter. »Ich will es nicht lesen«, sagte er. »Sorge dich nicht, dass ich in deine Gedanken dringe, Kind. Es ist gut, sie aufzuschreiben. Aber du solltest dafür sorgen, dass deine Aufzeichnungen nicht in weniger sorgsame Hände fallen, als meine es wären.« Er lächelte und legte seine Hand auf ihren Kopf. Er drehte sie ins Licht und betrachtete sie prüfend. »Hast du deinen Ausflug genossen? Du siehst angegriffen aus.«

Lilya erwiderte seinen Blick so gerade und aufrichtig, wie sie nur konnte. Sie hatte Ajja mit Drohungen und Flehen dazu gebracht, ihr zu versprechen, dass sie dem Beg nichts von der Aufregung im Basar verriet. Teto würde im eigenen Interesse darüber schweigen. Lilya wusste nicht, warum es ihr widerstrebte, dem Beg von ihrem Erlebnis zu erzählen, aber es erschien ihr falsch. Er würde sich aufregen. Er würde Teto bestrafen und Ajja ebenfalls. Und er würde ihr verbieten, wieder in die Stadt zu gehen.

»Es war sehr schön, Baba«, sagte sie deshalb, »aber ich bin es nicht gewöhnt, und deshalb bin ich wohl etwas müde.« Sie lächelte ihn an. »Aber ich habe schöne Dinge gekauft.«

Er zog sich einen Hocker heran, ließ sich darauf nieder und legte wieder seine Hand auf ihren Kopf. »Hast du dort Schmerzen?«, fragte er und berührte sehr vorsichtig ihre Braue an der Stelle, die auch Der Naga berührt hatte. »Es sieht gerötet aus, wie eine frische Wunde.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Großvater. Ich habe es auch gesehen, aber es tut nicht weh.« Sie presste die Lippen aufeinander. Ja, sie hatte es gewagt, in einen ganz normalen Spiegel zu blicken ‒ etwas, was sie sonst strikt zu vermeiden suchte. Aber in dem Zauberspiegel, den ihr Großvater ihr geschenkt hatte, war an der Augenbraue ein heller, roter Fleck zu sehen gewesen, dessen Anblick sie erschreckt hatte, und deshalb hatte sie den Blick in den Spiegel über dem kleinen Schrank gewagt. Sie hatte sich gezwungen, das Gesicht zu mustern, das sie dort ansah. Die vernarbte, hässliche Haut rund um ihr böses Auge. Das böse Auge selbst, dessen Blick ihr so trüb und widerlich erschien. Dort, in diesem verhassten Spiegel, war das Mal noch deutlicher zu sehen gewesen, es war brennend rot wie eine Feuerblume und zog sich bis zum Augenwinkel hinunter. Lilya hatte schaudernd ihren Schleier vor das Auge gezogen und sich vom Spiegel abgewandt.

Der Beg nickte, aber seine Miene war besorgt. »Zeig es mir morgen wieder«, sagte er. »Ich muss wissen, ob es zurückgeht.« Unausgesprochen klang der Zusatz »oder sich ausbreitet« durch die Luft. Lilya schauderte. Reichte es nicht, so gezeichnet zu sein, wie sie es war? Musste es denn wirklich noch schlimmer werden?

»Kannst du etwas dagegen tun, Großvater?«, wagte sie zu bitten. Kobad, dessen Blick fern und nachdenklich auf ihr geruht hatte, runzelte die Stirn. Ihre Frage schien ihn zu verärgern.

»Wir werden sehen«, sagte er kurz. »Fragst du dich nicht, warum ich dich hier in deinem Zimmer aufsuche, Lilya?«

Sie schlug den Blick nieder. Wie dumm von ihr. Er kam so gut wie nie hierher in diesen Teil des Hauses. Sie hätte ihn fragen müssen. Kobad mochte es nicht, wenn sie unaufmerksam war. Eine gute Schülerin ist aufmerksam, pflegte er zu sagen. Pass auf, sonst entgeht dir, was du wirklich zu lernen hast.

»Ich bin wohl ein wenig durcheinander«, sagte sie leise. »Vergib mir, Baba.«

Er nickte, ohne zu lächeln. »Du hattest mich um etwas gebeten, erinnerst du dich?«

Sie sah ihn fragend an. Was meinte er? Dann riss sie die Augen auf. »Oh, du hast es nicht vergessen! Der Leibsklave für mich?«

Er nickte wieder, und diesmal hob ein winziges Lächeln seine Mundwinkel. »Ich habe Anosh angewiesen, mir die Sklaven vorzuführen, die im passenden Alter sind, und ein Mädchen ausgewählt, von dem ich denke, dass sie dir eine folgsame Gefährtin sein wird.«

Lilyas erwartungsvolles Lächeln erstarb. »Oh nein«, entfuhr es ihr. »Großvater, ich wollte ... ich hätte es dir sagen sollen. Ich weiß, wen ich mir wünsche: Yani. Ich möchte, dass er mein Leibsklave wird.«

Der Beg hob die Brauen. »Du willst einen Jungen als Leibsklaven?« Er schüttelte den Kopf. »Kind, ich weiß nicht, ob ich das gutheißen kann. Und wer ist es überhaupt, woher kennst du ihn? Hat er sich dir unschicklich genähert?« Düstere Wolken zogen über seine Miene.

»Baba, bitte«, sagte sie. »Ich habe mit ihm gesprochen. Yani ist sehr nett und gar nicht unschicklich, ganz im Gegenteil. Er ist gut erzogen und höflich und ich kann mit ihm reden wie mit einem Freund.« Sie sah ihn flehend an.

Der Beg legte eine Hand an seinen Mund. »Ein Junge«, sagte er. »Ich weiß nicht. Wo tut er seine Arbeit?«

Lilya schluckte. »In der Küche, Baba.«

Ihren Großvater schien diese Auskunft nicht glücklicher zu stimmen. »Ein Küchensklave«, wiederholte er. »Den soll ich als Umgang für dich ...« Er unterbrach sich seufzend. »Nun, wenn du ihn dir so sehr als Gesellschaft wünschst. Weiß er es?«

»Ja«, log Lilya. »Er wäre sehr froh, nicht mehr in der Küche arbeiten zu müssen.«

Der Beg sah sie überrascht an. »So, wäre er das? Seltsamer Junge. Nun gut.« Er nickte ernst. »Vielleicht hat er sogar recht. Eine Karriere beginnt oft mit einem kleinen Opfer.«

Lilya verstand nicht, was er meinte, aber sie nickte dennoch. Das klang nach einem Ja, und das war das Wichtigste.

»Baba«, sagte sie eilig, denn ihr Großvater machte Anstalten, sich zu erheben. »Darf ich das ›Buch der Übernatürlichen Wesen‹ noch einmal haben? Ich wollte dort etwas nachlesen.«

»Aber selbstverständlich. Ich suche es dir heute Abend heraus. Was ist es, das dich interessiert?«

Lilya murmelte: »Oh, nichts Besonderes. Da war ein Schlangenköpfiger. Ich wüsste gerne mehr über ihn.«

Der Blick ihres Großvaters wurde ausdruckslos. »Der Naga?«

Lilya tat uninteressiert. »Hieß er so? Ja, mag sein.«

Kobad ließ sich nicht täuschen. Er beugte sich vor und zwang Lilya, ihn anzusehen. »Du verbirgst etwas vor mir«, sagte er. »Das solltest du nicht tun. Ich kann mir die Wahrheit auch gegen deinen Willen holen, das weißt du. Zwing mich nicht dazu.« Sein Tonfall entbehrte jeder Schärfe, aber Lilya schauderte. Sie wusste, dass ihr Großvater keine leeren Drohungen machte.

»Ich habe ihn gesehen«, sagte sie leise. »Im Basar.«

»Du hast ihn gesehen«, wiederholte Kobad mit schmalen Lippen. Er stützte sich auf seinen Stock, und Lilya sah erschreckt, dass die Knöchel seiner Hand weiß wurden. »Du hast Den Naga gesehen. Hat er sich dir genähert?«

Sie schüttelte hastig den Kopf. »Nein«, beteuerte sie. »Nein, Baba. Er stand einfach nur da. Aber ich habe das Bild in dem Buch gesehen und dachte, dass er es sein muss, auch wenn er dort im Basar keinen Schlangenkopf hatte.«

Kobad atmete tief durch. Dann sah er Lilya eindringlich an. »Hör mir gut zu, meine Enkelin. Der Naga ist unserer Familie in höchstem Maße feindlich gesinnt. Er trägt Schuld am Tod deiner Eltern. Wenn er dir noch einmal begegnen sollte, dann halte dich von ihm fern und komm sofort zu mir. Hast du mich verstanden?«

Lilya, der es heiß und kalt über den Rücken lief, nickte eingeschüchtert. Sie hob die Hand zum Mund und unterdrückte ein Schluchzen. Ihre Eltern. Großvater sprach nie über sie. Niemand schien sie zu vermissen. Manchmal war es ihr, als hätte niemand ihre Eltern überhaupt gekannt. Ajja war erst zum Haushalt des Begs gekommen, als er eine Amme für seine Enkelin benötigte. Sie hatte Lilyas Eltern nie kennengelernt. Und Lilya selbst erinnerte sich immer nur in ihren bösen Träumen an sie. Wenn sie wach war, war da ‒ nichts.

»Warum?«, fragte sie. »Was haben meine Eltern Dem Naga getan? Wer ist er überhaupt?«

Der Beg rieb sich mit einer erschöpften Geste über die Stirn. »Du stellst Fragen, die zu beantworten viel Zeit kosten würde«, erwiderte er. »Zeit, die ich jetzt und hier leider nicht habe. Die Sterne stehen heute Nacht günstig, und der Shâya erwartet, dass ich seinen Sohn von dem Fluch befreie, mit dem Der Naga ihn belegt hat ...«

Lilya konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Kobad sah sie streng an. Er hasste es, unterbrochen zu werden. Lilya legte entschuldigend die Hand vor ihre Lippen.

»Nun, wie ich sagte, ich habe keine Zeit mehr.« Er stützte sich auf seinen Stock und stand auf. »Das Buch suche ich dir heute noch heraus. Du darfst mich morgen nach dem Abendessen aufsuchen, dann werde ich versuchen, einige deiner Fragen zu beantworten.«

Lilya drehte sich alles, und ihr Herz klopfte so stark, dass es ihr in den Ohren dröhnte. Der Tag hatte so viel Seltsames, Erschreckendes und Verwirrendes gebracht, dass sie kaum wusste, wie ihr geschehen war. Sie legte sich auf ihr Bett und starrte zur Decke. Das Schlangengesicht Des Naga tanzte vor ihrem inneren Blick und züngelte höhnisch. Der Jüngling, der ein Panther war, sah sie trotzig und flehend zugleich an. Die alte Wüstenfrau zog sie so nah an ihr tätowiertes Gesicht, dass Lilya ihren Atem spüren konnte. Dunkelheit und tanzender Fackelschein. Leere Gänge und schwarz gähnende Gewölbeöffnungen, aus denen Geisterfinger nach ihr zu greifen schienen. Hallende Schritte, die ihr folgten, aber wenn sie sich umwandte, war da niemand. Der Naga berührte ihre Stirn, und seine Finger brannten sich glühend heiß und eisig kalt in ihren Kopf.

Lilya schreckte hoch. Sie war in einen fiebrigen Dämmerschlaf gefallen, in dem sie allerlei Gesichter narrten, und benötigte einige Atemzüge, bis sie wieder wusste, wo sie war. Kühle Nachtluft wehte ins Zimmer. Sie tappte zum Fenster, um es zu schließen, und hörte, wie im Hof jemand leise ihren Namen rief. Yani.

Lilya beugte sich hinaus und winkte ihm. »Komm«, flüsterte sie. Sie sah sein bestätigendes Winken und ging ins Nebenzimmer, um ihm die Tür zu öffnen.

»Ich habe Neuigkeiten«, empfing Lilya ihn. »Gute Neuigkeiten! Mein Großvater hat eingewilligt, du wirst künftig als mein Leibsklave an meiner Seite sein. Ist das nicht schön?« Sie strahlte ihn an und erwartete einen Ausruf der Freude und Überraschung.

Yani enttäuschte sie. Er starrte sie fassungslos an, dann wich er einen Schritt zurück, als wollte er aus dem Zimmer fliehen. »Leibsklave?«, stotterte er. »Aber ‒ was habe ich dir getan, Lilya? Womit habe ich dich geärgert?« Er warf sich zu Boden und legte die Stirn auf die Hände. »Vergib mir, Banu. Ich werde dich nicht wieder belästigen. Nimm dieses Urteil von mir, ich flehe dich an!«

Lilya öffnete verblüfft den Mund und blinzelte mehrmals. Was war in Yani gefahren? Machte er sich über sie lustig?

»Was ist los mit dir?«, fragte sie. »Bist du nicht froh, der schrecklichen Küche zu entkommen? Ich möchte nicht, dass du weiter Sklavenarbeit verrichtest, das weißt du. So könnten wir uns den ganzen Tag sehen und Bücher lesen und uns unterhalten ...« Ihre Stimme brach. Yani hatte den Kopf gehoben und sah sie so traurig, so angstvoll an. Es war völlig unmöglich, dass etwas anderes als die reine Wahrheit aus diesem Gesicht sprach.

Lilya kniete neben ihm nieder und schob die Hände unter seine Schultern. »Steh auf, bitte«, sagte sie. »Ich habe dir nichts Böses gewollt, aber anscheinend habe ich einen Fehler gemacht. Willst du mir erklären, worin er besteht? Ich dachte wirklich, du würdest dich freuen.«

Er rappelte sich auf und schüttelte den Kopf. Seine Miene war ungläubig und verwirrt. »Das kannst du nicht geglaubt haben«, sagte er. »Du weißt doch, was sie mit Sklaven machen, die im Harem arbeiten.«

Lilya sah ihn verständnislos an. »Was denn?«

Yani wurde wahrhaftig rot. Er vollführte eine hilflose Geste, die irgendwo in seiner Hüfthöhe begann und vage wedelnd in der Luft vor seinem Schritt endete. »Ah«, sagte er. »Ich ‒ äh ‒ ich habe eigentlich immer gedacht, dass ich mal eine Familie haben möchte, wie mein Bruder.« Sein Gesicht wurde noch eine Schattierung dunkler. »Natürlich bin ich jetzt in einer Lage, die das nicht mehr ohne Weiteres erlaubt«, setzte er hinzu. »Aber ich hoffe natürlich. Man weiß ja nicht. Manchmal werden Sklaven auch freigelassen oder dürfen sich freikaufen.« Er sah Lilya flehend an.

Sie fing an zu begreifen. »Oje«, sagte sie. »Du meinst ‒ darüber habe ich gar nicht nachgedacht.« Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Du meinst, dass sie das mit dir machen, was sie mit dem dicken Teto gemacht haben, als er noch ein Junge war?«

Yani schloss die Augen und schluckte. Dann nickte er.

Lilya sprang auf. »Ich gehe zu meinem Großvater. Ich sage ihm, dass ich es mir anders überlegt habe. Oh, das wollte ich nicht. Yani, das habe ich wirklich nicht gewollt!«

Er hockte sich auf die Fersen und legte das Gesicht in die Hände. »Wenn der Herr entschieden hat, dass ich dir dienen soll, wird er sich nicht so leicht wieder davon abbringen lassen«, sagte er düster.

Lilya musste ihm insgeheim recht geben. Der Beg war kein sehr geduldiger Mann und er konnte Wankelmütigkeit nicht ausstehen. »Ich sage ihm, dass du nicht willst, dass ... also, dass du nicht willst.«

Er sah zu ihr auf. Sein Blick sprach deutlich aus, was er dachte. Das würde den Beg nur darin bestärken, seinen gefassten Entschluss auszuführen. Lilya biss sich auf die Lippe. »Ich kann nicht zulassen, dass sie dir das antun«, sagte sie heftig. »Ich bin schuld, weil ich nicht über die Konsequenzen nachgedacht habe, die mein Wunsch hat. Ich bin dafür verantwortlich, also muss ich auch einen Weg aus diesem Durcheinander finden.«

Yani seufzte. Er erhob sich und stand mit hängenden Schultern da. »Du hast es nicht böse gemeint«, sagte er. »Und wenn es sich nicht verhindern lässt, werde ich es dir nicht nachtragen.« Er straffte die Schultern. »Das verspreche ich dir, Lilya.«

Sie verschränkte schaudernd die Arme vor der Brust. »Ich werde alles tun, damit du nicht versehrt wirst«, bekräftigte sie.

Yani nickte und zuckte hilflos mit der Schulter. Dann wandte er sich um und ging zur Tür.

»Warte«, rief Lilya. Eine böse Ahnung durchfuhr sie und machte sie frösteln. »Warte. Ich habe etwas für dich.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch und holte das Amulett mit dem Schutzzauber aus seinem Versteck. »Trag das hier. Es wird dich beschützen.«

Yani zögerte, bevor er es aus ihrer Hand nahm. »Danke«, sagte er verblüfft und drehte das Amulett unschlüssig in den Fingern. Schließlich nickte er und steckte es sorgfältig in die Tasche. »Danke«, sagte er wieder und ging hinaus.

Lilya fiel auf ihr Bett und schlug wütend mit der Faust gegen ein Kissen. Was hatte sie nur angerichtet! Aber sie würde ihren Großvater morgen umzustimmen wissen. Es musste einfach gut ausgehen!