JAGD

Yani überraschte sie damit, dass er sie durch die Stadt zum Serail führte, ohne dass sie einem einzigen Sardar begegneten. Er wählte Wege, die nur von Kamelen oder Eseln mit ihren Führern begangen wurden, von Schaf- oder Ziegenherden und ihren Hirten, von Lastträgern, Dienstboten und Sklaven und von solchen, die Gewerbe betrieben, die das helle Tageslicht scheuten. Lilya sah all die dunkelhäutigen, mageren und zerlumpten Gestalten, und ihr Herz wurde schwer.

Sie hatten sich entschieden, in Menschengestalt zu reisen. Nicht nur, damit Yani mit ihnen Schritt halten konnte, sondern auch, um weniger aufzufallen. Tedus hatte Lilya und Udad Gesicht und Hände bemalt, sodass sie aussahen wie all die Wüstenleute, die in Mohor lebten. Jetzt erst begriff Lilya, warum die Freien sich so wild bemalten. Wie viele von ihnen trugen eine Drachenhaut? Wie viele waren Rakshasa? Niemand, der die feineren Zeichen nicht zu deuten wusste, würde auf den Gedanken kommen, unter den bunten Schnörkeln, Kringeln und Zeichnungen nach etwas anderem zu suchen ‒ nach Leopardenflecken oder den hellen Drachenmalen.

Lilya wusste, dass sie heute jederzeit einen Leopardenmenschen oder einen Drachen erkennen würde, auch wenn er sich noch so verstellte ‒ aber das hatte sie noch vor einem Jahr nicht vermocht.

Sie sah Udad und Yani an, die nebeneinander hergingen und miteinander über irgendeinen Scherz lachten. Lilya lächelte unwillkürlich. Die beiden jungen Männer, so unterschiedlich sie auch waren, hatten vieles gemeinsam. Beide waren von einer grundsätzlich guten Laune, die nur schwer von äußeren Umständen getrübt werden konnte, und von einer ebenso unerschütterlichen Zuversicht, dass alles, was sie angingen, gut enden würde. Das hatte sie an Udad ein wenig vermisst, nachdem sie seine Heimat verlassen hatten, aber inzwischen war er wieder ganz der Alte.

Als hätte er ihre Gedanken gehört, drehte Udad sich um und zwinkerte ihr zu. »So nachdenklich?«

Lilya schloss zu den beiden auf und hakte sich unter. »Wir sind bald da«, sagte sie. »Ich wüsste gerne, was uns erwartet.«

Yani drückte ihre Hand. »Wir sind bei dir.«

Sie nickte. »Und das ist gut. Es fühlt sich richtig an.« Sie sah sich um. Der Weg führte sie an baufälligen Häusern und brachliegenden Grundstücken vorbei. Ein Stück weiter südlich konnte sie die Mauern und Dächer der Altstadt sehen und daneben die goldenen Kuppeln und strahlend weißen Türme des Serails.

»Wie kommen wir dort hinein?«, fragte Lilya.

Yani blieb stehen und zeichnete mit dem Fuß ein paar Linien in den Sand des Weges. »Dort ist der Haupteingang, der durch den ersten, zweiten und dritten Hof in den Harem führt«, erklärte er. »Das ist der am stärksten bewachte Teil des Serails. Hier ist die Mauer zur Altstadt. Auch dort patrouillieren ständig Wachen.« Er tippte mit dem Zeh auf einen Punkt der Zeichnung. »Dort grenzt die Mauer des äußeren Gartens an den Fluss. Und dort ist auch der nicht ganz so geheime Einschlupf für Bedienstete, Wachen und auch Hofbeamte, die nicht durch das Haupttor gehen möchten. Weil sie zu spät kommen, weil sie das Gelände ohne Erlaubnis verlassen haben, weil sie jemand anderem nicht begegnen möchten.« Er grinste. »Rate, wo wir hindurchschlüpfen werden.«

Lilya erwiderte das Grinsen mit einem besorgten Lächeln. »Dort wird demnach reger Verkehr herrschen«, gab sie zu bedenken.

Yani zuckte die Achseln. »Niemand sieht dich genauer an, weil niemand genauer angesehen werden möchte. Außerdem gibt es Zeiten, zu denen sich dort keine Menschenseele aufhält.«

Lilya war nicht beruhigt. »Wenn das Serail sonst schwer bewacht ist, wieso lassen sie dann eine solche Lücke zu?«, fragte sie. »Noch dazu, wenn doch anscheinend jeder weiß, dass sie existiert ...«

»Dieser Eingang ist das bestgehütete Geheimnis des Serails«, erwiderte Yani. »Es hat mich einige schrecklich lange, langweilige Nächte mit einem Schreibgehilfen gekostet, um es herauszufinden.«

»Yani«, sagte Lilya schockiert, »was hast du mit diesem armen Gehilfen angestellt?«

Der junge Mann grinste. »Gesoffen und Karten gespielt«, sagte er. »Was denkst du denn?«

Udad lachte und Lilya stimmte ein. »Also gut«, sagte sie, »wenn du unter Einsatz deines Lebens dieses wohlgehütete Geheimnis gelüftet hast, dann lass uns davon profitieren.«

Sie gingen schweigend weiter. Der Abend sank herab, die Sonne ging hinter den Dächern der Stadt unter und tauchte sie in rotgoldenes Feuer. Die Kuppeln des Serails glänzten wie flüssiges Gold. Lilya hörte den Fluss und roch das brackige Wasser, ehe sie seine träge fließenden, schlammigen Fluten sehen konnte. Frösche quakten, ein Silberreiher streifte tief über das Wasser und landete irgendwo im hohen Schilf.

Neben dem Trampelpfad wuchs die äußerste Palastmauer aus dem Boden und ragte hoch über ihre Köpfe.

»Dort hinten ist ein Küchenausgang zum Fluss«, zeigte Yani. Er flüsterte instinktiv. »Und weiter unten, kurz hinter dem Küchengarten, ist der Durchschlupf.«

Sie gingen unwillkürlich schneller. Niemand war in ihrer Nähe. Eine Grille sang eintönig ihr Lied, die Hitze des Tages hing schwer über dem Fluss und seinem Ufer.

Dann sah Lilya, worauf Yani gezeigt hatte. An der Mauer entlang wucherten auf dieser Seite übermannshoch staubiges Gestrüpp und vertrocknende Kletterranken, kleine Bäume und stachlig wucherndes Brombeergebüsch. Aber eine Stelle war dünner bewachsen, und dort schien die Mauer ein wenig eingesunken zu sein. »Dort?«, fragte Lilya und Yani nickte.

Immer noch war niemand zu sehen oder zu hören. Lilya wünschte sich die schärferen Sinne der Rakshasa, und im gleichen Augenblick sah sie, wie Udad sich verwandelte. Seine Tasthaare zitterten und er drehte lauschend die Ohren. Dann gab er ein Zeichen: Sie waren unbeobachtet.

Nacheinander schoben sie sich durch die Büsche und durch ein Loch in der Mauer. Es war wirklich nicht ohne Weiteres zu erkennen, selbst wenn man davorstand. Aber Yani kroch ohne zu zögern hindurch und Lilya und Udad folgten ihm. Lilya widerstand dem Impuls, sich ebenfalls zu verwandeln. Yani war derjenige, der sich auf dem Gelände des Serails am besten auskannte, obwohl Lilya einige Wochen dort gelebt hatte. Aber sie hatte sich nur in einem engen Umkreis um den dritten Hof bewegt, und nun mussten sie ihren Weg durch sämtliche Höfe bis zu den Gemächern des Kronprinzen finden. Jetzt erst erkannte Lilya wirklich, was für eine unlösbare Aufgabe sie sich und ihren beiden Begleitern gestellt hatte. Sie fröstelte trotz der Hitze.

»Ihr solltet mich alleine gehen lassen«, sagte sie entschlossen. »Wartet hier auf mich. Ich suche den Prinzen, und wenn es mir gelingt ...«

»Nein«, sagte Udad, der sich bei ihren Worten wieder in einen Menschen verwandelt hatte. »Ich bin an deiner Seite. Aghilas reißt mir den Kopf ab, wenn ich dich jetzt im Stich lasse.«

»Überlass Aghilas mir«, erwiderte Lilya verstimmt.

Udad schüttelte störrisch den Kopf. »Auch ohne seine Anweisungen würde ich dich jetzt nicht alleine gehen lassen. Du brauchst mich, wenn dein Prinz Schwierigkeiten macht.«

»Und mich, damit sich jemand um lästige Wachen oder Diener kümmern kann«, sagte Yani nicht weniger bestimmt. Er lockerte den Dolch an seinem Gürtel. »Keine langen Diskussionen. Sobald der Mond aufsteigt, wird es hier deutlich belebter.«

Sie liefen über einen gepflasterten Weg, der durch einen Nutzgarten führte. Das musste besagter Küchengarten sein, und der Gebäudeteil, auf den sie zugingen, war einer der Wirtschaftsflügel. Lilya versuchte sich zu orientieren. Vom Fluss aus gesehen lag der Palastgarten, in dem sie sich immer aufgehalten hatte, hinter diesem Gebäudeteil. Und die Gemächer des Prinzen waren dementsprechend rechts davon in dem Flügel, der zum großen Park hinausblickte. Sie mussten also zwei gefährliche Passagen überstehen, sowohl durch das Serail selbst als auch durch einen von Höflingen belebten Garten.

»Was machen wir, wenn der Prinz nicht in seinen Gemächern weilt?«

Lilya starrte Yani an. Darüber hatte sie nicht nachdenken wollen. Wie sollte sie Amayyas finden, wenn er nicht an seinem Platz war?

»Er ist immer dort«, erwiderte sie. Ein schneller Blick zum Himmel. Der Mond stieg über dem Fluss empor, er war beinahe voll. Ein paar Tage vor dem Vollmond ‒ war das die Zeit, da der Panther regierte? Oder würden sie doch den schwachsinnigen Zwerg antreffen? Sie wusste es nicht mehr.

Lilya schüttelte den Kopf. »Wir müssen zuerst nach Aspantaman suchen«, sagte sie. »Der Obersteunuch, sein Erzieher. Er wird uns helfen.« Sie erklärte Yani und Udad kurz, wo Aspantamans Quartier zu finden war. »Falls wir uns trennen müssen, treffen wir uns dort.«

Niemand beachtete sie, als sie durch den Wirtschaftsflügel gingen. Yani hatte sich geistesgegenwärtig einen Korb mit Gemüse und Obst von einem Hocker gegriffen, den Udad nun trug; und er selbst marschierte mit erhobenem Kopf hinter Lilya her, die sich ihren Schleier vor Mund und Nase zog und demütig den Kopf senkte. Hin und wieder gab Yani einen laut gebellten Befehl von sich, mit dem er die beiden »Sklaven« durch die Gänge lenkte.

»Links«, flüsterte Lilya, als sie in einer Halle ankamen, von der mehrere Gänge und zwei Treppen abzweigten. »Dann die Treppe hoch und geradeaus.«

»Links«, schmetterte Yani. »Blödes Wüstenpack. Links habe ich gesagt! Bin ich ein verdammter Kameltreiber, oder was?«

Lilya hörte Udad glucksen.

Dann stiegen sie die Treppe hinauf. Der Gang, in den sie gelangten, war fensterlos und wurde durch wenige Öllampen notdürftig erhellt. »Stell den Korb ab«, sagte Lilya. »Dort am Ende des Ganges ist Aspantamans Zimmer. Ich gehe vor.«

Sie gab ihren Begleitern ein Zeichen. Yani deckte ihren Rückzug, und Udad sicherte die Tür zur anderen Seite. Dann klopfte Lilya, wartete und schob schließlich die Tür auf.

Es war dunkel im Zimmer. Auf dem niedrigen Lager lag ein Mann, der sich mit einem erschreckten Laut aufrichtete. »Was willst du?«, fuhr er Lilya an. Er war klein und dick und hatte krauses schwarzes Haar.

»Oh«, sagte Lilya. »Ich bitte um Entschuldigung, ich ‒ ich suche den Obersteunuchen. Ich dachte, das hier sei sein Zimmer.«

Der Mann fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und gähnte. »Der Obersteunuch«, murmelte er. »Homyar wohnt im Westflügel, hinter dem zweiten Hof.« Er sah Lilya misstrauisch an. »Was will eine Sklavin wie du von ihm?«

Lilya antwortete mechanisch, weil ihr vor Schreck eiskalt geworden war: »Er hat mich rufen lassen.« Sie holte Luft und zog den Schleier wieder fest vor Mund und Nase. »Hat dieses Zimmer nicht früher dem Obersteunuchen gehört?«

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte der Mann grantig. »Darf ich jetzt weiterschlafen?«

Lilya entschuldigte sich ein zweites Mal und verließ das Zimmer. Ihre Knie zitterten.

Sie winkte Udad und ging schweigend mit ihm zu der Stelle im Gang, wo Yani wartete. »Etwas Schreckliches muss geschehen sein«, sagte sie leise. Die Bilder aus ihrem Traum standen plötzlich in aller Schärfe vor ihrem Auge. Sie glaubte, das Blut zu riechen. »Aspantaman ist fort und ein anderer ist Obersteunuch.«

Yani flüsterte einen Fluch. Udad blickte sie betroffen an. »Was machen wir jetzt?«, fragte Yani. »Rückzug?«

Lilya legte die Hände vors Gesicht, um nachzudenken. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Amayyas war tot oder er lebte noch und befand sich irgendwo hier im Palast. Sie glaubte nicht, dass der Shâya es riskieren würde, seinen Sohn außerhalb des Serails gefangen zu halten.

Sie hob den Kopf. »Ich brauche einen Platz, an dem ich eine Weile ungestört bin. Dort hinten war eine Kammer, in der Geräte verwahrt wurden.«

Die Tür war unverschlossen und anscheinend wurde die Kammer immer noch als Abstellraum genutzt. Lilya ließ sich auf einem wackeligen Hocker nieder. »Bewacht die Tür«, bat sie. Dann holte sie tief Luft und versenkte sich. Im Geiste ging sie die Male auf ihrer Haut ab. Sie benötigte das Zeichen des Findens. Wie hatte es ausgesehen? Ein Kreis, der durchkreuzt wurde von einem schiefen Gebilde mit Hakenausläufern. Es befand sich ein Stück unter ihrem linken Schulterblatt. Sie fuhr im Geiste die Linien nach und ließ sie blutrot aufleuchten. FindeAmayyas, befahl sie.

Das Zeichen schwebte vor ihr. Einer der Hakenausläufer färbte sich giftig grün, er wies zurück zum Wirtschaftsflügel. Dort sollte sie den Kronprinzen finden? Lilya schüttelte ungläubig den Kopf. Finde den Kronprinzen von Gashtaham, Massinissa, genannt Amayyas, dachte sie.

Das Zeichen flackerte unschlüssig. Der Haken drehte sich einmal ganz herum, dann wies er auf eine Stelle, die etwas von dem Ort abwich, auf den er zuallererst gedeutet hatte. Dann zitterte er, drehte sich wieder ruckelnd ein Stückchen zurück, zeigte auf sein ursprüngliches Ziel.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Lilya laut. Sie hob die Hand, um Yanis Frage abzuwehren, und sagte: »Finde Aspantaman.«

Das Zeichen strahlte grellgelb auf. Wieder zeigte es zum Wirtschaftsflügel.

»Gut«, murmelte Lilya. »Wenn ich Aspantaman auftreibe, dann habe ich auch den Prinzen.« Sie zeigte zur Tür. »Zurück dahin, woher wir gekommen sind. Folgt mir.«

Ehe sie die Tür öffnen konnte, hielt Udad sie zurück. »Kannst du uns nicht tarnen?«, fragte er.

Lilya sah ihn verblüfft an. »Tarnen«, wiederholte sie. »Oh, Udad, ich bin so dumm.« Sie biss sich wütend auf die Lippe. »So dumm«, wiederholte sie. Verbergen. Das Zeichen an ihrer rechten Handwurzel. Sie hatte noch nie versucht, einen anderen Menschen mit einem ihrer Zauber zu belegen, aber warum sollte das nicht funktionieren? Sie schob das Zeichen des Findens an den Rand ihres Blickfeldes und ließ vor sich das Zeichen des Verbergens erscheinen. Dunkelblau flackerte es vor ihr, ein dichtes Netz von Linien. Sie warf es über sich und die beiden Männer. Es fühlte sich seltsam an.

»Wie stelle ich jetzt fest, ob es wirkt?«, fragte sie halblaut.

Udad zuckte die Schultern. »Wir gehen einfach«, sagte er. »Und wenn uns jemand aufhalten will, hat es nicht geklappt.«

Sie gelangten unbehelligt zurück durch die belebten Gänge des vorderen Flügels und folgten dem Findezeichen. Es führte sie an der Küche vorbei, weiter durch einige Vorratskammern und hinunter in einen Teil des Gebäudes, von dessen Existenz Lilya nichts gewusst hatte.

Ein Keller. Abgetretene Steinstufen, die in eine dumpfe, staubige Dunkelheit führten. Fackeln brannten in unregelmäßigen Abständen an den rauen Wänden. »Sind wir hier richtig?«, fragte Yani, der sich unbehaglich umblickte.

Lilya prüfte das Zeichen. »Der Kronprinz«, sagte sie halblaut. »Massinissa. Aspantaman.« Der Haken zeigte unbeirrt voran in die Dunkelheit. Lilya nickte. »Dort entlang.«

Udad wechselte in seine Leopardengestalt. Seine Augen warfen den matten Fackelschein gespenstisch leuchtend zurück. Lilya legte die Hand auf seinen Kopf und lenkte ihn. Hinter sich spürte sie die tröstliche Gegenwart Yanis, der seinen Dolch in der Hand hielt.

Dann blieb Udad plötzlich stehen. Lilya sah, wie seine Ohren spielten. Eine Stimme und ein klatschendes Geräusch kamen aus dem Gang, der von diesem hier abzweigte. Sie gab Udad und Yani ein Zeichen zurückzubleiben und schob sich mit langsamen Schritten vorwärts.

Am Ende des Ganges stand ein Mann in hellen Gewändern, die mit kostbaren Steinen und goldenen Stickereien verziert waren. In der Pracht seiner Kleider schien er in diesem staubigen Kellergang so fehl am Platze wie ein Pfau in einem Hühnerhaus. Der Mann hielt eine Kamelpeitsche mit silbernem Griff in der Hand.

Vor ihm kauerte eine Gestalt auf dem Boden und legte schützend die Hände vors Gesicht. Der Stehende hob die Peitsche und zog sie dem anderen mehrmals über den Rücken und die Schultern. Der Kauernde gab keinen Laut von sich, aber sein Atem zischte bei jedem Schlag über die Zähne.

»Ich habe es dir verboten«, sagte der Stehende. Da war kein Zorn in seiner Stimme, sondern eher so etwas wie müde Belustigung. Lilya schob sich schrittweise näher. Sie kannte den Mann mit der Peitsche nicht, aber seine Kleidung und Haltung ließen darauf schließen, dass er der königlichen Familie angehörte.

Wieder zischte die Peitsche herab und traf die Schultern des Knienden. »Was habe ich dir verboten?«, fragte der Mann scharf. Der Kniende gab flüsternd eine Antwort. »Richtig«, sagte der Mann mit der Peitsche. »Wenn du es doch weißt, warum handelst du dann gegen mein Wort? Sag es mir, Aspantaman.«

Lilya presste die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien.

Der Kniende antwortete nicht. Der Mann mit der Peitsche schlug erneut zu. »Auf wessen Befehl hörst du?«

»Auf den des Kronprinzen«, flüsterte der andere.

»Wem gehörst du?«

»Dem Kronprinzen.«

»Wer ist der Kronprinz?«

»Du, Herr«, antwortete der Eunuch. Er atmete schwer, und Lilya war nun nah genug, um sein Gesicht sehen zu können. Tränen liefen über seine Wangen, die hohl waren wie die eines Verhungernden.

Sie starrte den Mann mit der Peitsche an. Der Kronprinz? War das Farrokh, Massinissas Bruder? Was war mit Amayyas geschehen?

Wieder pfiff und klatschte die schwere Peitsche auf den Eunuchen herab. Er sank nach vorne auf seine Hände.

»Du wirst nicht mehr gegen meinen Befehl handeln«, sagte der Kronprinz scharf. »Und damit du nicht sagen kannst, du hättest nicht gewusst, wie mein Befehl lautet, wiederhole ich ihn gerne: Du ‒ sollst ‒ ihn ‒ nicht ‒ füttern!« Bei jedem Wort knallte die Peitsche und zog einen neuen, blutigen Striemen über Aspantamans Schultern und Rücken.

Farrokh wandte sich abrupt ab und wickelte die Peitsche im Gehen auf. Lilya verstärkte erschreckt den Zauber um sich und ihre beiden Begleiter, deren Gegenwart sie hinter sich spüren konnte. Hoffentlich blieben sie still stehen, sonst war sie nicht sicher, ob der Zauber über die Entfernung wirkte.

Der prächtig gekleidete Mann streifte so dicht an ihr vorbei, dass sie das Öl riechen konnte, mit dem er seine Haare geglättet hatte. Der Geruch von Flieder und Moschus kitzelten in ihrer Nase und reizten sie zum Niesen.

Dann war er mit einem Rascheln seiner seidenen Kleider vorbei.

Lilya wartete nicht, bis sie seine Schritte auf der Treppe hören konnte, sie löste sich von der Wand, an die sie zurückgewichen war, und eilte zu Aspantaman, der immer noch am Boden kauerte. Sein Atem zischte mit einem schluchzenden Geräusch über die Lippen. Er hob alarmiert den Kopf, als Lilya vor ihm niederkniete und den Schleier des Zaubers verschwinden ließ. Seine Augen weiteten sich. In seinem Blick brannte ein wahnsinniges Feuer. Er wich mit einem Wimmern zurück und hob die Hände, als wollte er sich vor weiteren Schlägen schützen.

»Ich bin es«, sagte sie so leise und beruhigend sie konnte. »Aspantaman, ich bin es doch. Lilya.«

Er fuhr mit der Hand zitternd über seine Augen. »Lilya?«, wiederholte er ungläubig.

Sie hob langsam die Hand und zeigte sie ihm. Die Drachenmale darauf leuchteten in der Dunkelheit. »Ich bin es wirklich. Aspantaman, wo ist Amayyas?«

Er schauderte und zog seine zerfetzten Kleider über der Brust zusammen. Sein Blick tanzte über den Boden. Lilya sah, dass rundum Brocken von halb verfaultem Fleisch auf dem Boden verteilt lagen. Ein verbeulter Blechteller lag umgedreht neben seinem Fuß.

»Er lebt«, sagte Lilya erleichtert. Wen sonst hätte Aspantaman hier mit Fleisch füttern sollen? Wem sonst hätte das Verbot des neuen Kronprinzen gelten sollen?

»Er lebt ‒ noch«, erwiderte der Eunuch, der sich langsam von seinem Schock zu erholen schien. Er beugte sich vor und begann, die Brocken aufzuklauben. Seine Bewegungen waren schwerfällig und steif.

Lilya kniete nieder und half ihm. »Das kann er doch nicht essen«, sagte sie angeekelt. »Aspantaman, das Zeug ist verdorben!«

Er hielt inne und wischte sich fahrig die Hände an seinen Lumpen ab. »Ich weiß«, sagte er und begann zu schluchzen wie ein Kind. »Ich weiß. Aber was soll ich denn tun, Lilya? Soll ich ihn verhungern lassen?«

Sie erkannte, wie nahe er daran war zusammenzubrechen. Durch die zerfetzten Kleider konnte sie seinen Rücken sehen und die alten Narben von Auspeitschungen, neuere Wunden, die rot und entzündet waren, die frisch aufgerissenen Stellen, die blutig glänzten. Sie schüttelte den Kopf und fühlte den Zorn in sich aufblühen wie eine Feuerrose. »Ist das Farrokhs Werk?«, fragte sie gepresst.

Aspantaman antwortete nicht. Er hatte sich halb aufgerichtet und starrte an ihr vorbei. Lilya hörte die sanft flüsternden Schritte. »Das sind Freunde«, sagte sie hastig.

Der Eunuch sank in die Hocke zurück. »Rakshasa«, sagte er leise. »Bringst du ihn mir, damit er meinen Herrn für mich tötet? Ich kann es nicht, Lilya.«

Lilya war stumm vor Mitleid. »Ich will ihn und dich befreien«, sagte sie dann eindringlich. »Wir helfen euch zu fliehen. Amayyas kann bei meinem Rudel unterschlüpfen, Aspantaman. Und dich bringe ich zu meiner Familie in der Wüste.«

Er sah sie so verständnislos an, als hätte sie in einer fremden Sprache zu ihm gesprochen. Sie seufzte und nahm seine Hand. »Wo ist Amayyas?«, sagte sie langsam und deutlich. »Bring mich zu ihm.«

Er kam langsam und schwerfällig auf die Füße und stand mit gebeugten Schultern vor ihr. »Du wirst ihn für mich töten«, sagte er mit einer Ruhe, die Lilya schaudern ließ. »Lass ihn nicht weiter leiden. Und lass nicht zu, dass Farrokh es ist, der ihm den Gnadenstoß gibt.«

»Bring mich zu ihm«, wiederholte sie so sanft, als spräche sie zu einem verwirrten Kind.

Yani und Udad folgten ihnen, während Aspantaman Lilya tiefer in das Labyrinth der Kellergänge und -gewölbe führte. Nach einer Handvoll von Abzweigungen, weiteren Treppen, gemauerten Durchgängen, die wiederum in andere Gewölbe und Gänge führten, und neuerlichen Treppen, hinauf und hinunter, aber vor allem hinunter, hatte sie so die Orientierung verloren, dass sie um ihre Rückkehr gebangt hätte, wenn sie nicht um die Unfehlbarkeit des Findezaubers gewusst hätte.

Aspantaman ging schweigend an ihrer Seite. Seine Haltung war gebeugt wie die eines alten Mannes, aber seine Schritte gewannen mit jeder Minute größere Festigkeit.

Sie durchquerten einen Gang mit vielen Türen, die mit festen Riegeln und schweren Schlössern versehen waren. Aspantaman wandte den Kopf und sagte: »Du musst mich für einen feigen Schwächling halten, Lilya.«

Sie sah ihn überrascht an. Sein Blick war wenn auch müde, so doch klar. »Nein«, sagte sie. »Nein, Aspantaman, das tue ich nicht, ganz im Gegenteil.«

Er nickte und wandte den Blick ab. »Es macht mich wahnsinnig, ihm nicht helfen zu können«, sagte er leise. »Vergib mir, ich muss dich zu Tode erschreckt haben. Ich war nicht bei mir.«

Lilya sah das Blut, das auf seinem Rücken zu trocknen begann, und schluckte. »Ohne dich wäre Amayyas längst tot.«

»Ja«, flüsterte der Eunuch. »Aber nun kann ich nicht mehr viel für ihn tun ...« Er sprach nicht aus, was er dachte, aber Lilya erinnerte sich an ihren Traum und schauderte.

Aspantaman hielt vor einer der verschlossenen Türen an. Im Gegensatz zu den anderen waren ihre Riegel nicht verrostet und verstaubt, sondern glänzten mattschwarz vom frischen Öl. Aspantaman entriegelte die Tür und öffnete sie. Als Lilya eintreten wollte, hielt er sie zurück. »Er wird dich nicht erkennen«, warnte er. »Seit einiger Zeit erkennt er noch nicht einmal mehr mich.« Er zuckte resigniert die Achseln. »Ich denke nicht, dass du ihm helfen kannst.« Aber der Blick seiner Augen, voller Hoffnung, sagte etwas anderes.

Ein kleiner Raum lag hinter der Tür, mehr eine Zelle als ein Zimmer. Es stank scharf nach den Ausdünstungen und Exkrementen eines Raubtiers. Lilya begriff jetzt erst, warum diese Türen alle so gut gesichert waren. »Das ist der Kerker?«

Aspantaman nickte. »Der alte Kerker des Serails. Er wurde aufgegeben, als der Shâya ein Stück außerhalb der Stadt das große Gefängnis bauen ließ. Hier lagern nur noch Vorräte.«

»Und ehemalige Kronprinzen«, murmelte Lilya, als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Dort waren die Käfigstäbe, von denen sie geträumt hatte. Sie trennten zwar den größten Teil der Zelle vom Eingangsbereich ab, aber es war immer noch ein winziges Gelass für den großen Panther, der an der gegenüberliegenden Wand kauerte. Er bewegte sich nicht, als sie an das Gitter trat und sich hinkniete. Sein Blick war zu ihr gewandt, aber er schien nichts wahrzunehmen.

Lilya hörte, wie Udad leise fauchte. Er drängte sich an ihre Seite und drückte den Kopf gegen die Stäbe. Seine Augen waren zornig, er hatte die Ohren flach angelegt und die Zähne gebleckt.

Lilya betrachtete den schwarzen Panther voller Sorge. Er war abgemagert bis auf die Knochen, unter dem glanzlosen, räudig aussehenden Fell konnte sie seine Rippen erkennen. Am Rücken und an den Seiten hatte er offene, eiternde Wunden. Seine Flanken bewegten sich mit seinem flachen, hastigen Atem.

Lilya seufzte und sah Aspantaman an, in dessen Augen Tränen standen. Er klammerte die Hände um die Gitterstäbe. »Wie öffnet man den Käfig?«, fragte sie.

Der Eunuch wandte langsam den Kopf. »Ich habe einen Schlüssel«, erwiderte er. »Jemand schuldete mir noch einen Gefallen.« Er zog den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss, drehte ihn um. »Du kannst dort nicht hineingehen«, warnte er. »Er ist immer noch kräftiger, als er aussieht.«

Lilya nickte ungeduldig. »Keine Sorge.« Sie hielt ihn auf, als er die Käfigtür aufziehen wollte. »Geh mit Yani hinaus. Ich kann euch nicht beschützen, wenn ich nicht riskieren will, ihn zu verletzen. Wo könnten wir ihn hinbringen? So elend wie er aussieht, werden wir ihn nicht aus dem Palast schmuggeln können. Wir müssen abwarten, bis er seine andere Gestalt annimmt, dann kann Yani ihn tragen.«

Aspantaman schüttelte unglücklich den Kopf. »In drei Tagen«, sagte er. »Ich weiß nicht ...«

Lilya musterte den Panther. Sie musste die Gefühle, die sie bei seinem Anblick überfielen, zurückdrängen, damit sie sie nicht überwältigten: Zorn, Trauer, Mitleid, Sorge ... Sie atmete tief ein und wieder aus. »Könnten wir ihn nicht bis zum Mondwechsel einfach hierlassen?«, dachte sie laut.

»Nein«, erwiderte Aspantaman bestimmt. Er umklammerte die Käfigstäbe so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Keinen Tag länger, Lilya. Er stirbt. Entweder aus Entkräftung oder weil Farrokh ihn töten lässt. Ich kenne den Kronprinzen. Er hat mir verboten, meinen Herrn zu füttern, weil er will, dass Amayyas stirbt. Aber er ist nicht sehr geduldig. Er kommt beinahe jeden Tag hier herunter, um nachzusehen, ob es vorbei ist. Ich habe eine Ahnung, dass er morgen oder übermorgen kommen und ihn töten wird. Er wird es tun, bevor Amayyas sich verwandelt. Noch nicht einmal das Untier Farrokh brächte es über sich, einen hilflosen Zwerg zu erschlagen.« Er wandte sich heftig ab.

Lilya rieb sich über die Augen. »Wir müssen ihn irgendwo hier im Serail verstecken, bis er sich etwas erholt hat«, sagte sie. »Aspantaman, bitte, konzentriere dich. Wo können wir uns verstecken?«

Yani, der an der Tür lehnte, räusperte sich. Lilya sah ihn fragend an. »Was ist mit den Gemächern des Kronprinzen?«

»Farrokhs ...«, begann Lilya verwirrt, aber dann verstand sie. »Aspantaman ‒ was ist mit Massinissas Gemächern? Wer wohnt jetzt darin?«

Der Eunuch schloss die Augen und öffnete sie wieder. »Ah«, sagte er. »Dein junger Begleiter ist ein kluger Mann. Natürlich, sie sind verschlossen worden. Niemand betritt sie. Der Fluch hält alle davon fern.«

Lilya lachte vor Erleichterung auf. Die Angst, dass der Fluch, der auf dem Prinzen lag, auch seine Gemächer zu einem verfluchten Ort machte, würde ihnen helfen. »Yani, du bist unsere Rettung«, sagte sie. »Dann ist alles gut. Aspantaman, führe Yani dorthin. Ich komme mit dem Prinzen nach.«

»Wie willst du ihn zähmen?« Aspantaman zögerte an der Tür. »Und ich weiß nicht, ob der Käfig noch in seinem Schlafgemach steht. Wir können ihn dort aber nicht frei laufen lassen, er würde uns töten.«

»Das wird meine und Udads Aufgabe sein«, erwiderte Lilya scharf. »Geht jetzt, bitte. Lasst uns allein.«

Yani schob den widerstrebenden Eunuchen kurzerhand aus der Zelle. Die Tür fiel zu. Lilya blickte Udad an und nickte. »Du hältst dich zurück«, sagte sie leise. »Ich werde zuerst versuchen, mit ihm zu reden. Wenn ich scheitere, brauche ich deine Kraft.«

Sie holte noch einmal tief Luft, zog die Tür auf und betrat den Käfig.