KATZENAUGE

Sie hatte die Hälfte des Abstiegs zur Zuflucht bereits hinter sich, als es ihr auffiel. Bis dahin war sie, als sie den Weg hinunterlief, so sehr davon in Anspruch genommen, die Fülle an Licht, das angenehme Gefühl der Hitze auf ihrer Haut, die Farben und Gerüche und das Streicheln des Luftzugs zu genießen, dass die Erkenntnis sich erst den Weg durch all die vielen Eindrücke bahnen musste. Dann aber traf sie Lilya wie ein Schlag ins Gesicht.

Sie blieb stehen und ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie sah sich um. Ein klarblauer Himmel. Die Hitze, die von den Steinen aufstieg. Blendendes Licht. Eine weiße Sonne, deren Strahlen stachen wie glühende Nadeln.

Die Angst packte ihr Herz und drückte es fest zusammen. Lilya schnappte nach Luft und begann zu rennen, den steilen Pfad hinunter, bis sie die ersten Häuser erreichte. Stille lag über der Zuflucht. Totenstille. Irgendwo raschelte trockenes Gestrüpp und ein Fensterladen schlug. Kein Kamelgebrüll und kein Geschirrklappern, kein Schimpfen und kein Singen, keine Schritte und keine Stimmen. Stille.

Lilya blieb auf dem Platz stehen, an dem das Haus ihrer Familie lag. Sie drehte sich verzweifelt im Kreis, während die Sonne unbarmherzig heiß auf ihren Kopf niederbrannte. Dann sah sie zur Burg hoch, und wieder durchfuhr sie heißer, kalter, schmerzhafter Schreck: Der Berggipfel war so still und leblos, unberührt und unbewohnt wie die Zuflucht. Die wuchtigen Mauern und Türme der Burg waren verschwunden.

Lilyas Beine gaben nach. Sie hockte mitten im Staub und Sand des verlassenen Platzes und weinte.

Es wurde immer heißer, je höher die Sonne stieg. Lilya schleppte sich in den Schatten eines Hauseingangs. Die Karawanen waren längst abgereist. Der Herbst war vorübergegangen und der Winter hatte dem Frühling Platz gemacht. In den letzten Wintertagen hatten sich die Wüstenleute wieder auf den langen Rückweg gemacht ‒ ohne Lilya.

Sie schauderte trotz der Hitze. Woher wollte sie wissen, dass nur ein Winter vergangen war? Sie hatte das Verstreichen der Zeit innerhalb der Burgmauern nicht gespürt. Womöglich war es wie in den alten Geschichten, wo jemand zufällig das Schloss einer Peri betrat und dort eine Nacht oder sogar eine Woche blieb ‒ fürstlich bewirtet von einer freundlichen Fee, die ihn danach reich beschenkt wieder nach Hause schickte. Aber zu Hause erkannte ihn dann niemand mehr, sein Haus war von Fremden bewohnt, seine Freunde und seine Familie schon lange gestorben, zu Staub geworden, vergessen ...

Lilya schluchzte auf und rieb sich die Augen.

Schritte flüsterten über die Steine. Lilya blickte erschreckt auf und sah in ein Paar gelbe Augen. »Kleine Schwester«, sagte der Leopard. »Ich habe auf dich gewartet.«

»Aghilas«, rief Lilya und lachte vor Erleichterung laut auf. »Oh, wie bin ich froh, dich zu sehen! Ich hatte solche Angst!«

Der Leopardenmann lächelte und setzte sich neben sie auf die Schwelle. »Angst?«, fragte er. »Du? Ich habe gesehen, wie du die Burg verlassen hast. Du bist ein Drache. Drachen fürchten sich nicht.« Er neigte nachdenklich den Kopf. »Und du bist auch eine Rakshasa. Wir fürchten uns noch weniger als Drachen.«

»Ich habe mich aber gefürchtet«, sagte Lilya ein wenig beschämt. Aghilas hatte recht ‒ sie hätte nicht in Tränen ausbrechen müssen, nur weil die Karawane fort war. Sie war kein hilfloses Kind mehr, das sich nicht aus eigener Kraft aus solch einer Lage befreien konnte. Aber der Schreck war so groß gewesen.

Sie rieb sich verlegen über die Nase. »Woher wusstest du, dass ich heute die Burg verlassen habe?«

Aghilas sah sie mit seinen reglosen gelben Augen an. »Der Drache hat es mir gesagt.«

Natürlich. Lilya sandte einen stummen Dank zum Naga. Zu ihrem Großvater.

»Ich soll dich begleiten«, sagte Aghilas. Seine Muskeln spielten unruhig unter der gold-schwarz gefleckten Haut. »Sag mir, wohin du gehen möchtest.«

Wohin? »Nach Hause«, sagte sie. »Ins Dorf, zu meiner Familie.« Von dort aus würde sie sich nach Mohor durchschlagen, vielleicht lieh Tedus ihr ein Kamel. Einen Moment lang dachte sie an Juina, die sie durch die Wüste hierher getragen hatte. Sie vermisste sogar das Kamelmädchen.

»Nach Hause also«, sagte Aghilas. »Gut. Trink noch etwas, das nächste Wasserloch ist einen guten Tagesmarsch entfernt.« Seine Gestalt veränderte sich, er fiel auf vier Pfoten, streckte sich genüsslich und gähnte. Dann schritt er gemächlich auf den Brunnen zu und trank.

»Ah«, machte Lilya verdutzt. »Aghilas, ich werde es kaum schaffen, mit dir Schritt zu halten. Ich bin zwar inzwischen sogar an Fußmärsche gewöhnt, aber ganz sicher nicht in deinem Tempo.«

Der Leopard wandte sich um. Sein Blick war fragend und erstaunt zugleich. Er schlug mit dem Schwanz und fauchte.

Lilya sah ihn ratlos an. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie.

Mit einem ärgerlichen Kopfrucken wechselte der Leopard wieder in seine menschliche Gestalt. »Du auch«, sagte Aghilas, dem das Sprechen immer einige Sekunden lang schwerfiel, wenn er sich gerade verwandelt hatte. »Du ‒ wie ich.« Er seufzte und deutete auf seine Brust und auf Lilya.

»Ich verstehe dich wirklich nicht«, wiederholte Lilya hilflos.

Der Leopardenmann rollte mit den Augen. »Unser Vater«, sagte er. »Agerzam ist auch dein Vater.«

Lilya begann zu verstehen, worauf er anspielte. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich bin ein Mensch«, erklärte sie. »Ich kann mich nicht ...« Sie unterbrach sich. Eine Stelle hinter ihrem rechten Ohr begann heftig zu kribbeln. Das Zeichen hatte sie immer nur im Spiegel sehen können. Es sah aus wie ein Katzenauge ...

»Nein«, sagte sie und hob in spontaner Abwehr die Hand. »Oh nein. Das kann niemand von mir verlangen!«

Aghilas schnaubte, aus dem Schnauben wurde ein belustigtes Fauchen. Wieder kauerte der Leopard vor ihr und schlug heftig mit dem Schwanz. Sein Hinterteil bewegte sich von rechts nach links. Seine Augen wurden groß und dunkel. Er legte die Ohren an und sprang.

Mit einem Schrei formte Lilya das Katzenauge in ihrem Geist, es begann ohne ihr weiteres Zutun von selbst giftgrün zu glühen und blähte sich auf wie ein Ballon. Das Katzenauge erfüllte sie ganz und gar mit einem strahlenden Licht, das warm von den Zehen bis zu den Haarspitzen durch ihren Körper glühte. Lilya streckte sich und sprang beiseite und Aghilas landete ein Stück hinter ihr. Seine Muskeln zogen sich zusammen und dehnten sich wieder, als er sich herumwarf und erneut auf sie zusprang. Lilya machte eine winzige, elegante Seitwärtsbewegung und schnellte in die Luft. Sie erwischte ihn mit der Schulter und warf ihn um. Er rollte seitwärts ab, kam auf die Pfoten und lachte. »Gut gemacht, kleine Schwester«, rief er. Seine Augen blitzten vor Freude. Er stürzte sich ohne Warnung wieder auf sie. Lilya blieb stehen und drehte sich erst im letzten Moment weg. Sie fauchte und warf sich über ihn, versuchte, seinen Nacken zu packen. Er schleuderte seinen Kopf wild hin und her, und sie musste ihren Griff lösen, denn sie war deutlich kleiner und leichter als der Leopardenmann. Schwer atmend standen sie voreinander, die Mäuler geöffnet, hechelnd.

»Trink dich noch voll«, sagte Aghilas. »Du bist es noch nicht gewöhnt, ohne Wasser zu laufen.«

Lilya dehnte die ungewohnten Muskeln. Es war gleichzeitig fremd und seltsam vertraut, so auf allen vieren zu laufen, einen langen, kräftigen Schwanz zu haben, der das Gleichgewicht im Sprung steuerte, einen Geruchssinn, der völlig andere Gerüche erkannte, Augen, mit denen sie gleichzeitig scharf und vollkommen unscharf sah ‒ je nachdem, ob sie ein bewegtes oder unbewegtes Objekt anblickte. Die Farben der Umgebung erschienen matt und körnig, aber Farben waren nicht wichtig. Viel wichtiger waren die Empfindungen und Eindrücke, die sie durch ihre Tasthaare wahrnahm. Sie schloss die Augen und ließ sich nur von den empfindlichen Tasthaaren zum Brunnen geleiten. Zweimal stieß sie an einen Stein und sie stolperte an der Brunneneinfassung, aber je länger sie diese fremden Sinneseindrücke empfing, desto klarer und deutlicher wurde das Bild, das sie lieferten.

»Es geht aber besser, wenn du die Augen öffnest«, hörte sie Aghilas amüsiert sagen.

Lilya kicherte. Sie versuchte, ihr Bild im Wasser des Brunnens zu erkennen, aber sie sah nur ein Paar leuchtend grüne Augen und helle und dunkle Flecken rundherum. »Wie sehe ich aus?«, fragte sie.

»Wie meine Schwester«, sagte der Leopard. »Du bist ein schönes Weibchen, Tochter meines Vaters.« Er machte ein schnurrendes Geräusch.

»Schmeichler«, sagte Lilya und beugte sich erneut über den Brunnenrand. Das Wasser roch frisch und süß, und sie trank, bis sie sich schwerfällig zu fühlen begann.

»Laufen wir«, rief Aghilas.

Lilya benötigte einige Minuten, bis sie den richtigen Rhythmus gefunden hatte, in dem ihre Beine sich bewegen mussten. Sie stolperte hin und wieder und kam aus dem Tritt, aber dann war es mit einem Mal, als hätte sie immer schon vier Beine gehabt, die sich kraftvoll vom Boden abstießen. Die Bewegung war so berauschend, dass sie am liebsten laut gelacht hätte. Sie war als Mensch nie gerne gelaufen, aber jetzt hatte sie das Gefühl, dass sie am liebsten nie mehr anhalten würde, immer so weiterrennen wollte an Aghilas Seite, bis sie den Rand der Welt erreichte ‒ und dann weiterzulaufen, von Stern zu Stern zu springen, bis ans Ende aller Zeit.

Die Welt hat keinen Rand, sagte eine kleine Lilya-Stimme in ihrem Kopf.

Natürlich hat sie einen Rand, erwiderte die Leopardin. Alles hat ein Ende, auch die Welt. Und der Himmel gehört den Leoparden.

Der Weg, den sie nahmen, erschien ihr länger als der, den Lilya mit der Karawane gereist war. Sie fragte Aghilas. Der bestätigte ihren Verdacht und sprach von Wasserstellen, Karawanenstrecken, Jägern und dem Problem, etwas zu essen zu finden.

Vor allem Letzteres bereitete Lilya im wahrsten Sinne des Wortes Magendrücken. Gegen Ende ihrer ersten Tagesetappe hatte Aghilas sie langsam weitertraben lassen und war in eine andere Richtung davongerannt. Kurz darauf kehrte er zurück, ein blutiges Bündel aus Fell, Fleisch und Knochen im Maul.

»Essen«, sagte er und ließ die Beute vor Lilyas Füße fallen. Sie starrte entsetzt darauf nieder und wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als der Blutgeruch ihr in die Nüstern stieg. »Ich ...«, stammelte sie, »... das kann ich nicht ...«

Aghilas knurrte ungeduldig und riss die Beute mit Zähnen und Krallen auseinander. Er verschlang seinen Anteil und nickte Lilya auffordernd zu. »Du musst essen. Wir haben noch einen anstrengenden Weg vor uns.«

Lilya starrte immer noch angewidert das Zeug vor ihren Füßen an, als ihr Magen laut zu knurren begann. Der Hunger wurde rasend, ehe sie überhaupt Gelegenheit hatte zu bemerken, dass sie hungrig war. Speichel troff von ihren Lefzen.

Mit einem Fauchen wie ein Schrei und fest zusammengekniffenen Augen machte sie sich über die Beute her, riss mit den Zähnen das zähe, blutige Fleisch in Fetzen und schlang es hinunter.

Ich muss mich übergeben, sagte das kleine Lilya-Stimmchen.

Halt den Mund und iss, erwiderte die Leopardin. Wir müssen bei Kräften bleiben!

Ich werde nie wieder einen Bissen Fleisch anrühren, wenn ich wieder ein Mensch bin, schwor Lilya. Und diesen Schwur gedachte sie zu halten!

»Wir könnten ein paar Tage Rast in meinem Revier machen«, sagte Aghilas beiläufig, als sie am vierten Tag ihrer Reise über die Steppe trabten. Die Wüste mit ihrem Sand und ihren Steinen lag fürs Erste hinter ihnen, sie würden sie erst in ein paar Tagen wieder betreten, wenn der letzte Abschnitt ihrer Reise zum Dorf vor ihnen lag.

»Ist es ein großer Umweg?«, fragte Lilya.

»Zwei Tage«, erwiderte Aghilas. »Vielleicht drei, wenn wir unsere Kräfte ein wenig mehr schonen möchten. Hast du es eilig?«

Lilya dachte nach. Ihre Gedanken begannen sich katzenartig zu benehmen.

Eile. Zeit. Ein Ziel. Alles seltsame Begriffe, mit denen sie kaum noch konkrete Bilder zu verbinden vermochte. Konkrete Bilder: Die Sonne, die glühend rot über dem Grasland unterging. Eine Gazelle, die sich mit hohen Sprüngen in Sicherheit brachte. Der Geruch des trockenen Grases. Aghilas, der im Schleichlauf einen Hasen verfolgte, den Bauch so dicht über dem Boden, dass er das Gras niederdrückte. Die Freude, sich im Staub zu wälzen, um all diese kleinen, lästigen Tierchen loszuwerden. Der süße Geschmack von Wasser und das angenehm salzige Aroma von Blut. Aghilas raue Zunge, die die unzugänglichen Stellen an ihrem Kopf leckte.

Sie gähnte maunzend. »Keine Eile. Ich möchte gerne dein Rudel kennenlernen.«

Aghilas freute sich, sie sah es ihm an. Aber er antwortete nur gleichmütig: »Gut«, und lief weiter.

Lilya bemerkte sie nicht sofort. Sie gab sich gerade wieder der puren Freude am Laufen hin, ließ eine Vielzahl von fremden, interessanten Aromen und Gerüchen durch das halb geöffnete Maul über ihre Zunge strömen, genoss das weiche Federn des Bodens unter ihren Füßen und wandte den Kopf, um Aghilas etwas zuzurufen, da blickte sie in die schräg stehenden, bernsteinfarbenen Augen eines fremden Leoparden.

Sie stoppte abrupt, wobei ihre Krallen tiefe Furchen in den Boden zogen, wollte zur Seite ausweichen und prallte dabei gegen eine Leopardin, die ein erschrecktes Fauchen hören ließ und die Ohren anlegte, wobei ihre Augen Lilya warnend anblitzten.

»Udad«, hörte sie Aghilas rufen. »Ittû. Das ist Lilya, meine Schwester!«

Der große Leopard, der schon zum Sprung bereit vor ihr kauerte, entspannte seine Haltung und richtete sich auf. Seine Augen öffneten sich weit. »Lilya?«, sagte er mit samtweicher Stimme. »Du hast mir nie erzählt, dass du eine Schwester hast, Aghilas.«

Lilya fuhr ein Schauder übers Fell, als sie seine Stimme hörte. Ihre Blicke tauchten ineinander und verschränkten sich wie Finger. Vertraut. Heimat. Freude.

Dann riss die Verbindung, beide sahen sich um, denn die zierliche Leopardin hatte Lilya den Rücken gekehrt und stürmte auf Aghilas zu. Die beiden rollten übereinander und bissen sich spielerisch in den Nacken und die Seite.

Udad, der Leopardenmann, hockte sich neben Lilya und grinste mit heraushängender Zunge. Sie wusste, dass er so ihre Witterung aufnahm. »Sind die beiden nicht romantisch?«, sagte er und blinzelte. Lilya grinste zurück.

»Bleibst du bei uns?« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern hob den Kopf und rief: »Aghilas. Bleibt deine hübsche Schwester bei uns? Und ist sie noch zu haben?«

»Finger weg, Udad«, antwortete Aghilas kurzatmig. Er ließ von der Balgerei mit der Leopardin ab und trottete zu Lilya zurück. »Wir sind zu Hause«, sagte er. »Wie du vielleicht bemerkt hast. Willkommen in meinem Revier.«

Trenner

Der Sommer ging langsam und träge vorüber. Gelegentlich zog das Rudel auf eine gemeinsame Jagd, aber meistens waren einzelne Mitglieder unterwegs und brachten ihre Beute mit, um sie mit den anderen zu teilen.

»Unsere Brüder, die keine Rakshasa sind, leben nicht wie wir in Familien zusammen«, erklärte Udad ihr an einem heißen Nachmittag, den sie dösend im Schatten einer Akazie verbrachten. Sein Schwanz schlug träge, um die fliegenden Plagegeister zu vertreiben, die auf seinem glatten Fell zu landen versuchten.

Lilya drehte sich auf den Rücken, um ihm ins Gesicht zu sehen. Seine bernsteinfarbenen Augen hatten die Tiefe des Abendhimmels und sie konnte sich in ihnen gespiegelt sehen. Sie sah ihn voller Zuneigung an. Sie liebte seine schönen Augen und das seidenweiche Fell, seinen Geruch nach Moschus und Sonnenlicht, seine Stärke, seine unerschöpfliche Energie. An seiner Seite war auch sie stark und schön, ohne Makel und ohne Sorgen. Im Rudel fühlte sie sich so geborgen wie noch nie zuvor. Die Erinnerung an ihre Vergangenheit tauchte zwar gelegentlich auf wie ein dunkler, schwerer Schatten aus der Tiefe, aber Udad vertrieb die Düsterkeit mit seiner guten Laune und der Treue, mit der er an ihrer Seite war. Er brachte sie zum Lachen, wenn die unerklärliche Traurigkeit sie überfiel.

»Keine Rakshasa?«, nahm sie den Faden auf und gähnte. »Wie meinst du das?« Sie säuberte ihre Pfoten und zog mit den Zähnen die Kletten heraus, die sich in ihrem Fell verfangen hatten.

»Leoparden«, erwiderte Udad. »Soll ich deinen Kopf lecken?«

Lilya wehrte ab. »Später«, sagte sie. »Du meinst, echte Leoparden? Keine Wermenschen wie ihr?«

Udad lachte grollend. »›Echt‹ ist gut. Wir sind die echten. Die anderen sind nur große Katzen ohne Verstand.«

Lilya lachte mit ihm. Dann dösten sie wieder, aneinandergeschmiegt, während die Fliegen summten und die Sonne erbarmungslos auf die Ebene hinunterbrannte.

Er hockte neben ihr, die Hände entspannt auf seinen Knien ruhend. Sie fühlte den Blick seiner Opalaugen mehr, als sie ihn sah. Es mutete sie seltsam an, dass er kein Fell hatte, keine beweglichen Ohren, einen schmalen, nackten Kopf mit flachen Gesichtszügen, spinnendünne Arme und Beine und, das Seltsamste von allen, keinen kräftigen, langen Schwanz.

»Naga«, sagte sie. »Du siehst komisch aus.«

Er lächelte und seine gegabelte Zunge fuhr schnell und prüfend zwischen den schmalen Lippen hervor. »Du fühlst dich wohl in deinem Rudel?«

Sie streckte sich. »Sehr«, sagte sie. »Sogar Ittû ist inzwischen beinahe nett zu mir.« Ittû war eifersüchtig, und zwar vollkommen grundlos. Aghilas war schließlich Lilyas Bruder ‒ und wenn jemand sich wirklich um sie bemühte, und das nicht ohne Erfolg, dann war es wohl Udad, der jüngste Mann im Rudel. Er hatte noch keine Partnerin und hätte sich, wenn Lilya Aghilas nicht hierher gefolgt wäre, schon längst auf den Weg quer durch die Wüste zu einem Rudel am Fuß der Drachenberge gemacht, um dort eine Gefährtin zu finden.

»Willst du hierbleiben?«, fragte Der Naga. Der Tonfall seiner Frage war neutral und freundlich, aber sie konnte einen bedauernden Unterton erkennen, der sie irritierte.

»Ja«, erwiderte sie zögernd. »Ich denke schon.« Seine Frage nagte an ihr. Manchmal, nachts, wenn sie unter dem weiten Bogen des bestirnten Himmels lag, glaubte sie einen Ruf zu hören. Eine Stimme, die ihren Namen rief. Jemand wollte, dass sie das Rudel verließ und etwas tat ‒ aber was nur?

Am Tag hörte sie diese Stimme nicht, aber die Erinnerung daran machte sie nervös und rastlos. Da war etwas, was sie vergessen hatte. Was war es nur?

Der Naga zuckte leicht mit den Schultern. Sein glattes Gesicht war ausdruckslos. »Es ist deine Entscheidung. Du hast ein gutes Leben hier, dies ist ein starkes Rudel. Du bist keine vollblütige Rakshasa, aber das stellt kein Hindernis dar, wie ich sehe.« Er machte Anstalten, sich zu erheben.

»Warte«, sagte Lilya, plötzlich von einer Angst gepackt, die sie nicht benennen konnte. »Was ist, wenn ich hierbleibe? Was geschieht dann?«

Der Naga sah sie fragend an. »Was sollte denn geschehen?«

Lilya suchte nach Worten. Ihre Katzengedanken kämpften darum, die Oberhand zu behalten, aber tief darunter, schlummernd, regte sich die Lilya, die keine Rakshasa war, und begann zu erwachen.

»Warte«, rief sie atemlos. »Warte, ich habe etwas vergessen.« Sie rang mit dem, was an ihr Katze war. Das war nicht alles, was sie war. Sie war Leopard und Mensch und ... noch etwas. Etwas Großes, Dunkles, Gefährliches und Mächtiges.

Lilya schreckte zurück, als sie es berührte, und schauderte.

»Naga«, sagte sie kläglich, »was bin ich?«

Der Schlangengott wandte den Blick nicht ab. »Du bist Lilya, Tochter von Tayri und Agerzam, Schwester von Aghilas, Nichte von Tedus und Gwasila, Enkelin des Drachen«, zählte er auf.

Lilya schloss die Augen. »Noch nie in meinem Leben hatte ich eine so große Familie.« Sie stand auf und schwankte leicht. »Du hast mich geweckt«, sagte sie nicht ohne Vorwurf. »Jetzt muss ich wohl gehen.«

Der Naga hob die Schultern. »Du musst nicht. Bleib hier und sei glücklich.«

Lilya blickte in ihre Erinnerungen und seufzte. »Ich habe vergessen, dass jemand meine Hilfe braucht. Ich schäme mich.«

Der Naga erwiderte nichts. Er stand ebenfalls auf, und sein Schatten war größer und mächtiger als seine schlanke Gestalt. Der Schatten breitete Schwingen aus, die den Himmel zu verdunkeln schienen. Dann war er fort und sein Schatten mit ihm.

Lilya holte trotzig Luft und trottete zum Wasser hinunter, um Aghilas zu suchen.