FLUCHT

»Du spielst falsch, fürstliche Gemahlin.« Der sanfte Tonfall Des Naga war so trügerisch wie der verführerische Gesang einer Sirene.

Die Peri Banu, die auf dem Boden kniete und einem langhaarigen Kater das Fell bürstete, hielt inne. Der Kater maunzte ungnädig und öffnete ein bernsteingelbes Auge. »Wie meinst du das, mein Lieber?«

Der Schlangengott verzog den Mund zu einem humorlosen Lächeln. »So zuckersüß und freundlich, mein Herz? Das ist der Beweis, dass du etwas vor mir verbirgst.«

Die Fee senkte den Kopf und fuhr fort, den roten Kater zu striegeln. Er schnurrte und trat mit seinen Vorderpfoten genüsslich gegen ihr Bein. »Ich weiß nicht, was du willst«, sagte sie.

Der Naga begann, ruhelos auf und ab zu laufen. »Unsere Wette, meine ich«, sagte er scharf. »Du hast diesen Scharlatan Kobad dazu angestiftet, meine Lilya deinem schrecklichen Patensohn zum Fraß vorzuwerfen.«

Die Peri Banu schenkte ihm einen unschuldsvollen Augenaufschlag. »Habe ich das?«

Der Naga unterbrach seine Wanderung und blieb dicht vor ihr stehen, starrte sie finster an. Sie sah zu ihm auf und lächelte. »Er ist kein Scharlatan«, sagte sie. »Er ist ein sehr fähiger Mann, der Beg. Du solltest einmal zusehen, wenn er einen Toten beschwört. Es würde dir gefallen.«

Der Naga fluchte und ihr Lächeln wurde noch ein wenig süßer. »Ich kann mich nicht erinnern, dass mir eine Einmischung laut unseren Spielregeln verboten wäre. Du mischst dich ja auch andauernd ein.«

Er wandte sich brüsk ab und verschränkte die Arme. »Es hätte meinen Schützling beinahe das Leben gekostet«, sagte er.

Die Fee zuckte gleichmütig die Schultern. »Und?«

Er stieß empört Luft durch die Nasenlöcher. »Ich glaube, du hast nicht verstanden, warum ich das alles mache«, sagte er mit mühsam gezügeltem Zorn.

Die Peri Banu stand auf und klopfte ihre Hände und das zarte Gewand ab. »Katzenhaare«, sagte sie seufzend. »Hängen dir an wie ein Fluch.« Sie machte einen Schritt und legte dem zürnenden Schlangengott ihre Hand auf den Arm. »Lieber«, sagte sie sanft, »es ist doch nur eine Wette. Und die beiden süßen Kleinen sind Menschen. Es interessiert dich doch sonst nicht, welches Schicksal ein Menschlein erleidet.«

Er machte sich los. »In diesem Fall schon. Mein Volk hat genug unter Shâya Faridun und seinen Vorfahren gelitten. Es muss ein Ende haben mit der Drachenjagd. Dieser Prinz wird niemals zum König gekrönt werden!« Seine Augen sprühten vielfarbiges Feuer.

Die Peri Banu wich zurück. »Nun«, sagte sie begütigend. »Wenn mein kleiner Amayyas nicht König wird, dann wird es einer seiner Brüder, die allesamt rücksichtslose und brutale Burschen sind ‒ und große Jäger, ganz wie ihr Vater. Ich weiß nicht, ob du deinem Volk damit wirklich einen Gefallen tust.«

Der Naga spuckte aus. Die Peri Banu stieß einen empörten kleinen Schrei aus. »Nicht in meinem Haus, Naga. Das kannst du in der Wüste, in einer der Hütten deines so geliebten Volkes machen, aber nicht hier!«

Er zischte wie eine Schlange. »Dein Magush ist jedenfalls beim König in Ungnade gefallen, meine Liebe. Er hat versagt. Meine Lilya hat ihn ausmanövriert.«

Die Peri Banu reckte sich anmutig und gähnte. »Und mein kleiner Amayyas hat ihr dabei geholfen«, sagte sie träge. »Dummer Junge. Er hätte sie einfach fressen sollen, dann wäre jetzt alles gut.«

»Gut!«, rief Der Naga aus und klatschte ergrimmt in die Hände. »Weib, wenn du wüsstest, was ich jetzt am liebsten mit dir täte ...!«

Die Peri Banu blickte ihn erwartungsvoll an. »Ja?«, gurrte sie.

Der Naga zischte wieder und drehte sich auf dem Absatz herum. Nach einigen Schritten verschwand seine Gestalt in einem grünlichen Funkenschauer, der ein wenig nach Schwefel roch.

Die Peri Banu rümpfte ihre Nase. »Flegel«, sagte sie.

Trenner

Lilya drückte ihr Bündel an sich und beobachtete den Eingang zum Basar der Magier. Sie hockte eng an die Hauswand gedrückt und genoss die Wärme, die die Steine abstrahlten. Die Sonne war schon hinter den Häusern verschwunden, die Schatten zogen sich lang und blau über die Straße und hier und da flammten kleine Feuer auf. Der Abendwind wurde frischer und brachte den Geruch der Wüste mit sich.

Lilya zog den Schleier dicht vor ihr Gesicht und sah auch nicht auf, als jemand beinahe über sie stolperte und sie rau beschimpfte. Sie hielt ihr Bündel krampfhaft umklammert und starrte auf den Eingang, als führte er geradewegs in die unterste der neun Höllen. Sie hatte keine andere Wahl, als entweder dort hineinzugehen ‒ oder zu ihrem Großvater zurückzukehren.

Noch ein Weilchen, dachte sie und zog ihre Füße unter den Saum ihres geflickten Djilbabs. Sie sah aus wie eine Bettlerin oder eine kürzlich freigelassene Sklavin, und deshalb schenkte ihr auch niemand einen genaueren Blick.

Aspantaman hatte sie ein paar Tage in seinem Quartier versteckt gehalten. Lilya war überrascht gewesen, wie karg und beengt der Weiße Obersteunuch wohnte.

Aspantaman, der ihren verwunderten Blick auffing, lächelte trotz seiner spürbaren Anspannung. »Es gefällt dir nicht?«

Lilya hob verlegen die Schultern. »Es erscheint mir nicht angemessen«, erwiderte sie. »Du bist der Erzieher des Prinzen und ein hoher Hofbeamter. Das hier sieht aus wie die Kammer eines, eines ...« Sie suchte nach der rechten Beschreibung für die ärmliche Umgebung.

»Das Quartier eines Sklaven?«, sagte der Eunuch.

Lilya gluckste. »Ein Sklave hat doch kein eigenes Quartier.«

Aspantaman nickte ernsthaft. »Dieser hier schon«, erwiderte er.

Lilya verstand ihn nicht sofort. Dann riss sie die Augen auf. »Aber du bist der Erzieher des Prinzen!«

»Ich gehöre dem Prinzen«, entgegnete der Obersteunuch mit einem winzigen Lächeln. »Seit er laufen kann.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Du willst wirklich behaupten, du seist ein Sklave?«

Der Obersteunuch richtete sich auf und verschränkte die Arme. »Das stört dich?«

Lilya schluckte eine impulsive Antwort hinunter. »Nein«, sagte sie dann. »Aber ich finde, der Shâya hätte dir ein besseres Quartier geben müssen.«

Aspantaman lachte auf und lud sie mit einer Handbewegung ein, sich auf ein zerschlissenes Kissen zu setzen. Er kratzte sich am Kopf und sah sich ratlos um. »Es ist kein angemessener Aufenthaltsort für eine junge Banu«, sagte er mit einem Seufzen. Er hockte sich mit untergeschlagenen Beinen auf das Strohlager, auf dem eine saubere, mehrfach geflickte Decke lag, und faltete die Hände unter dem Kinn. »Ein paar Tage wird es gehen müssen. Ich wage es nicht, dich aus dem Serail zu schmuggeln, solange der Beg noch in diesen Mauern weilt.«

Lilya sah sich um und runzelte die Stirn. »Wie kann der Prinz nur zulassen, dass du so lebst?«, fragte sie anklagend.

Aspantaman machte eine abwehrende Geste. »Es ist mein Wunsch. Wenn ich vergesse, was ich bin, und mich an einen Luxus gewöhne, der mir ebenso leicht entzogen werden kann, wie er gewährt wurde, wäre das fatal. Hofbeamten dürfen sich nicht zu bequem einrichten oder sie fallen eines Tages sehr hart.« Er schloss den Mund mit einem endgültigen Nicken. »Ich werde die nächsten Tage in der Gesellschaft des Prinzen verbringen, dann hast du das Quartier für dich. Das ist nicht ungewöhnlich und wird niemandem auffallen. Wenn der Mond sich rundet, werde ich allerdings meinen Schlafplatz brauchen. Bis dahin müssen wir überlegen, was mit dir geschehen soll.«

Lilya nickte unglücklich. »Ich danke dir für deine Hilfe«, sagte sie. »Du musst mich doch hassen, weil ich den Prinzen nicht ‒ nun ja ...« Sie suchte nach Worten.

»Weil du dich Amayyas nicht zum Fraß vorgeworfen hast?« Der Obersteunuch blickte sie finster an.

Lilya schlug die Augen nieder. »Ja«, flüsterte sie.

»Du solltest so nicht denken. Amayyas tut es auch nicht«, fuhr Aspantaman sie an. »Er hätte es sich nie verziehen, wenn es dazu gekommen wäre! Natürlich wären wir über alle Maßen glücklich, wenn es jemandem gelänge, den Fluch zu brechen ‒ aber doch nicht um einen solchen Preis!«

Lilya sah ihn fassungslos an und hätte vor Erleichterung fast angefangen zu weinen.

Ein Eseltreiber schimpfte, sie versperre ihm den Weg. Lilya zuckte zusammen. Es war dunkel geworden. Flackernde Feuer und Fackeln beleuchteten den düsteren Eingang zum Magierquartier.

Sie gab sich einen Ruck und stand auf. Wenn sie noch länger hier hocken blieb, würde sie sich überhaupt nicht mehr dort hinein trauen, also musste es jetzt sein.

Lilya hielt ihr Bündel fest in der Hand, den Riemen zweimal ums Handgelenk geschlungen (das hatte Aspantaman ihr geraten). Er hatte ihr die Kleider besorgt, die sie trug, und auch etwas Geld zugesteckt, damit sie in der ersten Zeit nicht vollkommen mittellos war.

»Wohin soll ich nur gehen?«, hatte sie ihn gefragt. »Ich kenne doch niemanden außer meiner Familie und Ajja.«

Der Eunuch hatte sie mit einem seltsamen Ausdruck in den hellen Augen gemustert. »Hast du keine Verwandtschaft bei den Wüstenleuten?«, hatte er gefragt. »Sie lassen Mitglieder ihrer Sippe nicht im Stich.«

»Ich bin eine Sardari«, hatte sie empört entgegnet, aber Aspantaman hatte den Kopf geschüttelt und einen Finger behutsam auf ihr Handgelenk gelegt, auf den zarten Schnörkel, der aussah wie eine Blume. »Du irrst dich. Du bist ein Wüstenmädchen«, hatte er gesagt. Und dann hatte er ihr den Namen eines Kaufmanns genannt, Zubin, der mit dem Wüstenvolk Handel trieb und ihr sicherlich helfen würde, wenn sie ihm sagte, dass der Obersteunuch sie zu ihm geschickt hatte.

Lilya hatte sich wütend und aufgewühlt auf das Strohlager geworfen, das er ihr überlassen hatte, und sich die Hände vor die Ohren gelegt, damit sie seine Worte nicht mehr hören musste. Aspantaman hatte kopfschüttelnd geschwiegen, aber seine Worte hallten seitdem in ihrem Kopf: »Du bist ein Wüstenmädchen.«

Und wegen dieser Worte stand sie jetzt hier vor dem Tor, das in das labyrinthische Dunkel des Magierquartiers führte. Hier waren all die Tätowierten, vor denen sie sich so gefürchtet hatte, wie die alte Frau, die ihr solch einen Schrecken eingejagt hatte. Hier zeigten die Wüstenleute ihre dunklen Gesichter, die sich sonst in der Stadt hinter einem Schleier versteckten und eng an die Hauswände drückten ‒ wie sie. Wie Lilya Banu, die Enkelin des Begs Kobad.

Sie biss sich auf die Lippe, um ihre Tränen zurückzuhalten, und trat durch das Tor.

Sie hatte einen anderen Eingang gewählt als bei ihrem letzten Besuch. Viel zu groß war ihre Sorge, sie könne Kobad oder einem Bekannten ihres Großvaters über den Weg laufen. Natürlich war es unwahrscheinlich, dass sie überhaupt jemand erkennen würde, so, wie sie jetzt gekleidet war, aber sie wollte ganz und gar sichergehen.

Sie hatte auch darüber nachgedacht, wieder nach Hause zu gehen. Lange, einsame Stunden hatte sie auf dem Hocker in Aspantamans Zimmerchen gesessen oder auf seinem Strohlager gelegen und gelauscht, wie draußen jemand vorbeiging, Stimmen schimpften und lachten, in der Ferne Geschirr klapperte, jemand sang, ein Besen über Steine kratzte oder Pferde wieherten. Sie war allein mit sich, ohne ein Buch, um sich abzulenken, oder die Möglichkeit, ihre Gedanken aufzuschreiben und sie dadurch ein wenig zu ordnen. Zurück nach Hause? Sie musste ja nur eine Geschichte erfinden, die sie Kobad erzählen konnte. Den Dämon, der sie gelenkt hatte wie eine Marionette, hatte Der Naga vertrieben, aber das wusste Kobad nicht. Sie könnte ihm ja erzählen, dass der Dämon sie aus Massinissas Gemächern geführt habe, bevor der Prinz sie fressen konnte.

Natürlich würde Kobad ihr das nicht glauben. Und selbst wenn ‒ er würde es erneut versuchen. Er würde sie ein zweites Mal dem Pantherprinzen zum Fraß vorwerfen und hoffen, dass der Fluch dadurch gelöst würde. Lilya schauderte. Sie wusste, dass es funktionieren würde. Warum sie das wusste, konnte sie nicht sagen. Massinissa wäre frei und könnte fortan sein Leben als ganz normaler Mensch leben.

Sie schüttelte die düsteren Gedanken ab und sah sich um. In diesem Teil des Basars herrschte auch um diese Tageszeit lebhafter Verkehr. Sie hatte gehofft, hier auf einen Wüstenmenschen zu stoßen und ihn um Hilfe zu bitten ‒ aber in den Gewölben und vor den Buden standen und flanierten ausschließlich hellhäutige Sardar, priesen Waren an und feilschten, schwatzten, handelten, riefen von Gewölbe zu Gewölbe, trugen Lasten oder warteten an einer Garküche auf eine Mahlzeit. In den Buden und Auslagen der Gewölbe lag vielerlei nützliches Zeug, aber vor allem billiger magischer Tand und alltägliche kleine Zaubergegenstände und Amulette ‒ gegen böse Geister und Krankheiten der Tiere, Schutzrunen und Abwehrzauber, Talismane und harmlose Tränke. ›Küchenzauber‹ pflegte ihr Großvater diese Art von magischem Werk abfällig zu nennen.

Lilya arbeitete sich weiter ins Innere des Basars vor. Weniger Menschen, größere Dunkelheit. In den Gewölben schimmerte nun immer öfter das magische Licht von Zauberlampen und Kraftkristallen. Hier und da roch es nach den schwefligen Ausdünstungen bestimmter Beschwörungen, die machtvollere Magie begleiteten.

»He, Mädchen.«

Lilya drehte sich nicht um. Sie hörte, wie Schritte ihr folgten. Die Männerstimme wiederholte: »He, Mädchen. Du da, Hübsche. Suchst du nach jemandem? Vielleicht sogar nach mir?« Das Lachen, das diesen Worten folgte, ließ Lilya ihre Schritte beschleunigen. Sie presste die Lippen zusammen und suchte nach einer Möglichkeit, den zudringlichen Kerl abzuschütteln.

Dann war er an ihrer Seite, griff nach ihrem Arm.

»Was soll das«, rief sie und riss sich los. Sie sah sich um, ob jemand in der Nähe war, den sie um Hilfe bitten konnte, aber dies war eine dunkle, unübersichtliche Ecke des Basars, und die Gewölbe, die rechts und links lagen, standen leer.

Der Mann, ein vierschrötiger Kerl, der wie ein Lastenträger aussah, grinste sie zahnlückig an und drängte sie Schrittchen für Schrittchen tiefer in die Schatten zwischen den verlassenen Geschäften. Er schnalzte mit der Zunge, fasste nach ihr und fluchte, als Lilya sich flink unter seinem Griff hindurchwand und ihm dabei noch fest auf den Fuß trat.

»Miststück. Warte, wenn ich dich erwische!« Er rannte hinter ihr her und packte mit seinen groben Händen ihre Schulter. Er riss Lilya herum und schleuderte sie gegen einen Stapel leerer Kisten.

Das raue Holz scheuerte Lilyas Wange auf. Sie schlug nach der Hand, die sich durch ihre Kleider wühlen wollte, und trat dem Mann gegen die Beine, aber er grunzte nur und versetzte ihr eine heftige Ohrfeige, die ihr einen Moment lang den Atem und die Sicht nahm.

Er war über ihr, drängte sie auf den Boden. Sein schnaufender, übel riechender Atem strich über ihr Gesicht. Lilya würgte und wehrte sich trotz ihrer Benommenheit verbissen gegen ihn, aber er drückte sie mit Gewalt zu Boden.

Dann hörte sie, wie jemand herangelaufen kam. Das Gewicht des Körpers, das sie beinahe erstickte, verschwand. Sie blinzelte und sah, wie ein Mann den Kerl von ihr fortzerrte und dabei leise und bedrohlich fluchte. Lilya richtete sich auf und beobachtete die beiden.

Ihr Retter trug die weite Kleidung der Wüstenleute und ihre schalartig über die Schultern fallende, lose Kopfbedeckung. Er hatte einen Dolch in der Hand, mit dem er dem Kerl jetzt einen drohenden Wink gab.

Der Lastenträger, der aus einem langen Schnitt blutete, der sich quer über seine Wange zog, fluchte und machte wütende Gebärden, aber er zog sich zurück. Lilya stützte sich an der Wand ab und stand auf, während der Wüstenmann mit dem Rücken zu ihr dastand und zusah, wie ihr Angreifer das Weite suchte.

Dann drehte er sich um und musterte sie flüchtig. Er nickte, als er sah, dass sie lächelte, deutete eine Verbeugung an und wollte sich abwenden.

»Darf ich mein Wasser mit dir teilen?«, rief Lilya hastig in der Sprache der Wüstenleute. Diesen Satz hatte Ajja ihr einmal widerstrebend beigebracht, weil Lilya sie bedrängt hatte. Sie wusste selbst nicht mehr, warum ‒ sie hatte wohl einfach wissen wollen, wie die Sprache der dunklen Leute sich anhörte und anfühlte, wenn sie selbst sie sprach. Dieser Satz war ein traditioneller Gruß unter Fremden, hatte Ajja ihr erzählt. Ihn musste man sagen, wenn man sich in der Wüste begegnete ‒ und die Antwort darauf lautete ...

»Ich fühle mich geehrt, Wasserschwester«, sagte der Fremde und legte die Hände an die Stirn. Dann erst sah er sie das erste Mal richtig an, höfliche Neugier im Blick. Lilya hob die Hand und nahm mit einer fahrigen Geste ihren Schleier vom Gesicht.

Der Fremde atmete scharf ein und legte seine große Hand um ihr Handgelenk, zwang sie, den Schleier wieder fallen zu lassen. Er sagte leise und hastig einige Worte, die Lilya nicht verstand.

Sie zuckte hilflos die Achseln und sagte: »Ich spreche eure Sprache nicht, Wüstenmann. Es tut mir leid. Ich suche einen Kaufmann namens Zubin. Kannst du mir den Weg zu ihm weisen?«

Der Mann sah sie verblüfft an, bevor er ihr einen Wink gab. »Komm mit«, sagte er auf Sardara. »Zubin ist ein ehrenwerter Mann, aber du trägst die Zeichen meines Volkes. Wenn du mir vertraust, werde ich dich zu jemandem bringen, mit dem du sprechen kannst.«

Lilya fühlte ihr Herz klopfen, während sie ihm folgte. Er trug nicht die wilde Bemalung der anderen Wüstenleute. Sein Gesicht war schmal und scharf geschnitten wie das eines wilden Falken. Er glich weder in seiner Haltung noch seinem Erscheinungsbild den Wüstenmännern, die hier in der Stadt lebten.

»Darf ich deinen Namen wissen, Wasserbruder, damit ich weiß, wem ich für meine Rettung danken darf?«, fragte sie atemlos. Wasserbruder. So nannten sich Wüstenleute, die nicht miteinander versippt waren. Durfte sie als Sardari ihn überhaupt so ansprechen?

Der Mann sah auf sie hinab. Seine lackschwarzen Augen lächelten, auch wenn das dunkle, strenge Gesicht ernst blieb. »Ich werde Gwasila genannt, kleine Schwester.« Er fragte sie nicht nach ihrem Namen und Lilya nickte deshalb nur.

Gwasila führte sie über verschlungene Wege in einen Teil des Magiya-Basars, den Lilya nicht kannte. Sie hatte vollkommen die Orientierung verloren, aber das störte sie nicht. Es gab ja ohnehin für sie keinen Rückweg mehr, den sie finden musste.

Sie hielten vor einem Gewölbe an, dessen niedriger Eingang mit einem dichten Vorhang vor Blicken geschützt war. Gwasila raffte den Vorhang einen Spaltbreit und ließ Lilya zuerst eintreten. Sie bemerkte, dass er sich noch einmal sichernd umschaute, ehe er den Kopf einzog und hinter ihr in das Gewölbe trat.

»Tedus«, rief er laut und ließ noch ein paar Worte in seiner Sprache folgen.

Aus dem rückwärtigen Teil des lang gestreckten, höhlenartigen Raumes erscholl eine Antwort. Die Stimme war rau und tief und ein Lachen klang in ihren Worten. Lilya mochte diese Stimme auf Anhieb.

Der Mann, Gwasila, nickte ihr zu, und wieder las sie Verblüffung in seinem Blick. »Geh«, sagte er. »Tedus erwartet dich.« Er blieb mit locker herabhängenden Armen dicht hinter dem Eingang stehen. Lilya erkannte, dass er ihn zu bewachen dachte. Sie zögerte kurz, dann nickte sie ergeben und bahnte sich ihren Weg an Kisten und Regalen vorbei.

Sie passierte eine zweite Türöffnung, die in einen kleinen, mit Teppichen und Kissen möblierten Raum führte. Auf einem Polster an der Rückwand thronte eine füllige Gestalt, die ihr freundlich zuwinkte. »Komm zu mir, kleine Schwester«, sagte die Frau. »Ich freue mich, dass du endlich da bist. Der Drache hat mich schon vor zwei Tagen auf deine Ankunft vorbereitet.«

Lilya ließ sich sprachlos auf ein Kissen fallen und nahm den Becher Tee entgegen, den die Frau mit der tiefen Stimme ihr reichte.

Der Tee war heiß und tat ihr wohl. Sie hatte seit dem Verlassen des Serails nichts mehr gegessen, und der Tee füllte ein wenig die Leere, die sie empfand und die mehr als nur Hunger oder Durst war.

Sie betrachtete Tedus über den Rand ihres Bechers. Ihr Blick wurde freundlich und prüfend zugleich beantwortet. Die Frau hatte dunkelbraune Augen und ein flächiges Gesicht, das durch die dunkelblauen, grünen und orangefarbenen Tätowierungen etwas Maskenhaftes bekam. Als Tedus sich vorbeugte, um ihren Becher auf dem niedrigen Tisch abzustellen, fielen die Tücher auseinander, die sie um Kopf und Schultern drapiert hatte, und enthüllten einen Hals und ein Stück der Schultern, die ebenso gezeichnet waren, und auch auf den Händen und Handgelenken verschlangen sich farbige Zeichnungen zu augenverwirrenden Mustern.

Lilya seufzte und ließ ihren Schleier vollständig auf die Schultern gleiten. Die Wüstenfrau nickte lächelnd. »Du bist die, auf die wir gewartet haben«, sagte sie in dem singend gefärbten Sardara, das die Wüstenleute sprachen. Sie hielt Lilya die Hand hin.

Lilya ergriff sie und duldete, dass die Finger der Wüstenfrau über ihre Haut glitten und die Zeichnungen betasteten. Im Halbdunkel des kleinen Zimmers schienen sie zu schimmern wie helle Narben.

»Wir müssen dich aus der Stadt bringen«, sagte Tedus. »Du musst lernen, deine Kräfte zu benutzen. Noch weißt du nicht viel darüber, habe ich recht?«

Lilya schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, was die Frau meinte, aber sie ahnte es. »Ich habe einmal etwas beschworen«, sagte sie und machte eine Bewegung, als wollte sie etwas in die Luft zeichnen. »Es hat etwas bewirkt. Aber ich habe nur eine dunkle Ahnung davon, was die Zeichen vermögen. Ich beherrsche ihre Kraft nicht.«

Tedus lächelte. Die Fältchen in ihrem Gesicht ließen die Tätowierungen tanzen. Lilya beugte sich nun ihrerseits vor, denn ihre Augen schienen ihr einen Streich zu spielen. Schimmerten die Zeichnungen im Gesicht der Wüstenfrau heller?

Tedus ergriff schweigend ihr Handgelenk und zog Lilya nah an sich heran. »Sieh hin«, flüsterte sie.

Lilya kniff die Augen zusammen. Sie hatte sich geirrt. Das waren keine Tätowierungen auf Tedus’ Gesicht. Sie konnte die Pigmente sehen, die sich in den Fältchen des Gesichtes und den Poren abgesetzt hatten. Da und dort waren Teile der feinen Zeichnungen ein wenig verwischt, wo Schweiß oder eine unachtsame Berührung sie zerstört hatten. Gesicht und Hals und auch die Hände und Arme der Frau waren sorgfältig bemalt worden, damit sie aussah wie eine der Tätowierten.

Lilya hob den Blick und sah Tedus fragend in die Augen. »Warum?«

Die Frau nickte. Sie befeuchtete einen Finger mit der Zunge und wischte sich über einen ihrer hohen Wangenknochen. Die farbigen Zeichnungen verschwanden, aber darunter kamen andere zum Vorschein. Blasser, weniger auffällig ‒ schimmernd wie Narben.

Lilya schnappte nach Luft und wich zurück. »Du bist wie ich«, sagte sie.

»Ich bin wie du«, bestätigte Tedus. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die runden Arme unter den Brüsten. Sie lachte mit weißen Zähnen. »Wir sind Drachen, kleine Schwester. Und wir sitzen hier bequem mitten im Lager der Drachentöter.«