DUNKELMONDMAGIE

Wider Erwarten fühlte Lilya sich nach wenigen Tagen schon so heimisch und wohl im Serail, als hätte sie niemals an einem anderen Ort gelebt. Sie streifte durch die Gärten und hielt sich ganz besonders gerne in dem kleinen Granatapfelhain auf. Dort saß sie den ganzen Tag im Schatten unter den dicht belaubten Bäumen und las.

Wenn der Abend nahte, wurde die Freude, die sie empfand, allerdings dadurch getrübt, dass sie nun wieder für lange, quälende Stunden ihrem Großvater zur Verfügung stehen musste. Kobad hatte sie in den Tagen, die sie nun hier waren, noch weitaus schlimmeren, schmerzhafteren Prozeduren unterworfen als je zuvor. Lilya wurde bewusst, dass es ihr inzwischen nur noch sehr widerstrebend gelingen wollte, in Kobad den liebevollen, besorgten Baba zu sehen, für den sie ihn ihr ganzes Leben lang gehalten hatte.

Sie klappte ihr Buch zu und blickte zum Himmel, voller Sorge, er könne sich bereits zu verfärben beginnen. Die Abenddämmerung war die Zeit, zu der der große Gong als Zeichen für die abendliche Audienz geschlagen wurde. Er bezeichnete gleichzeitig den Beginn ihrer Sitzung mit Kobad.

Sie schauderte und zog das Schultertuch enger. Die gestrige Nacht hatte zum ersten Mal auch körperliche Spuren hinterlassen. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie in ihre Gemächer und ihr Bett gelangt war, aber als sie am späten Vormittag erwacht war, hatte sie dumpfe Schmerzen verspürt und blaurote Spuren wie von Fesseln an ihren Knöcheln und Handgelenken gefunden. Hatte der Beg sie festgebunden? Sie wusste es nicht, und das machte ihr Angst.

Sie musste wieder an Yani denken. Ob es ihm gut ging? Sie vermisste ihn. Mit ihm hätte sie über das reden können, was mit ihr geschah. Er hätte sie zum Lachen gebracht, und dann wäre alles schon nicht mehr so schlimm gewesen.

Seelenbruder, dachte sie. Seit ich hier bin, kann ich dich nicht mehr spüren. Es ist, als wäre ich plötzlich ganz allein. Ich fürchte mich. Was geschieht mit mir? Die Zeichnungen werden mit jedem Tag, der sich dem Dunkelmond nähert, deutlicher. Ich weiß, dass es mit dem Mond zusammenhängt, weil ich fühlen kann, wie sein Licht auf meiner Haut kribbelt. Nachts, wenn seine schmale Sichel durch das Fenster scheint, klammere ich meinen Blick an ihm fest wie an einem Freund. Er hält mich, wenn Großvater an meinem Geist zerrt wie ein hungriger Wolf an einem Stück Fleisch.

Seelenbruder, ich brauche dich. Ich weiß, dass du nicht der Schlangengott bist, der sich in meine Träume stiehlt wie ein Dieb. Er lügt. Er will, dass ich für ihn tanze. Jeder will, dass ich für ihn tanze. Der Naga, mein Großvater ‒ der Shâya? Er hat uns ein zweites Mal empfangen, und ich habe seinen Blick gespürt, der bohrend war, saugend, fordernd. Er will etwas von mir, aber ich weiß nicht, was es sein könnte. Er spricht nicht mit mir, nur mit meinem Großvater.

Ihre Gedanken verloren sich. Sie musste an den Erzieher des unglücklichen Prinzen denken. Er war freundlich zu ihr gewesen, aber auch er hatte gewollt, dass sie tanzte ‒ für den Prinzen.

Lilya seufzte und stand auf. Ihr Blick irrte wieder zum Himmel. Noch stand die Sonne hoch, noch war Nachmittag. Sie sollte sich diese wenigen Stunden bis zum Abend nicht dadurch verderben, dass sie an Unangenehmes dachte.

Sie schlenderte an dem künstlichen kleinen Bachlauf entlang, der über glatt polierte Steine zu einem der vielen Teiche hinunterplätscherte. Dort unten war es schattig, und weil ihr heiß geworden war, lockte sie der Gedanke, die Füße in das kühle Wasser zu tauchen.

Es gab einen Platz unter den tief hängenden Zweigen eines Baumes, der ihr auf einem ihrer Rundgänge aufgefallen war. Er hatte so friedlich und still ausgesehen. Sie sehnte sich nach Stille und Frieden mehr als nach allem anderen; nach süßer, klarer Luft und dem sanften Geräusch, mit dem das Wasser gegen die Ufersteine gluckste.

Sie lief die letzten Meter zum Teich hinunter und prallte gegen eine große Gestalt, die reglos neben dem Baum stand. Er hielt sie fest, als sie ins Taumeln kam, und bewahrte sie davor, der Länge nach ins Wasser zu fallen.

»Du kommst gerade recht«, sagte der Obersteunuch und ließ sie los. »Der Prinz erwartet dich schon.«

Lilya schnappte nach Luft. Sie dachte, Aspantaman würde sie nun zum Serail zurückgeleiten, aber der Eunuch nickte ihr lächelnd zu und deutete auf jemanden, der mit ihm am Ufer des Teiches gestanden hatte und nun zu ihr hinsah.

Lilya erkannte den jungen Mann nicht sofort, aber plötzlich begann ihr Auge zu brennen, als wäre etwas hineingeflogen. Durch den Tränenschleier, der sich vor ihren Blick legte, sah sie einen großen, schwarzen Panther am Wasser stehen. Sein Kopf war stolz erhoben, seine gelben Augen fixierten sie, sein Schwanz peitschte nervös hin und her.

Lilya sagte »Ah« und tat staunend und ohne Angst einige Schritte auf die große Katze zu. »Du bist es. Amayyas, der Junge aus dem Basar.«

Und während sich ihr Blick erneut klärte und sie den jungen Mann mit den schwarzen Haaren vor sich stehen sah, begann sie zu begreifen, obwohl sie nichts verstand.

Der Prinz sah über ihren Kopf hinweg den Obersteunuchen an. »Das ist sie?«, fragte er.

»Das ist Lilya Banu«, bestätigte Aspantaman. »Die Enkelin des Begs Kobad. Das Mädchen, das du gesucht hast.«

Der Prinz senkte den Blick und betrachtete Lilya, die vor ihm stehen blieb und ihn ebenfalls staunend ansah. »Du bist kein Zwerg mehr«, sagte sie verblüfft. »Und du bist auch kein Panther ‒ jedenfalls nicht ganz und gar. Was bist du?«

»Massinissa«, erwiderte der junge Mann mit einem Seufzen. »Ab morgen wieder Amayyas, der Panther, und gestern noch Massin, der Zwerg. Frag mich nicht, was ich bin, denn ich weiß es selbst nicht.« Er griff nach Lilyas Hand, um sie ins Licht zu drehen. »Warum trägst du diese Maske?«, fragte er. Sein Gesicht kam näher, er musterte sie scharf. »Und was ist mit deinem Auge geschehen? Als wir uns im Basar begegnet sind, war es so ‒ seltsam. Aber jetzt sieht es ganz normal aus.«

»Ja«, erwiderte Lilya mit einem Lachen. »Ich weiß selbst nicht, wie das geschehen konnte.« Das Lachen erstarb in einem Schluchzen. Sie hob die Hand, willens, die Maske für ihn abzunehmen ‒ und sei es nur, um ihm zu zeigen, dass auch sie wie er versehrt war. Vielleicht würde er sich ja nicht angewidert abwenden. Er musste doch wissen, wie es war, anders zu sein.

Ihre Finger kratzten über das zarte, unnachgiebige Material. Sie stieß einen erbitterten Laut aus. Die Maske saß unverrückbar fest. Sie hatte es gewusst, es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie versuchte, sie zu lösen.

Der Prinz beobachtete ihre Bemühungen. »Wie ist das befestigt?«, fragte er.

»Magie«, sagte sie bitter. »Es ist ein Zauber, den ich nicht zu brechen vermag. Mein Großvater ist der Einzige, der das kann.«

»Der Beg.« Massinissa nickte. »Er ist ein großer Magush. Ich vertraue sehr darauf, dass er mir helfen kann.« Er runzelte die Stirn. »Aber warum verdeckt er dein Antlitz auf so seltsame Weise? Was soll das bewirken?«

Lilya wandte das Gesicht ab. »Es soll bewirken, dass man mich nicht sieht«, erwiderte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Dass man nicht sieht, wodurch ich gezeichnet bin.« Sie zögerte, dann streifte sie mit einer schnell entschlossenen Bewegung den Ärmel ihres Obergewandes hoch und hielt den Arm ins Licht.

Massinissa schüttelte den Kopf. »Ich sehe nicht ‒ oh. Doch.« Er griff aufgeregt nach ihrem Handgelenk und zog sie zu sich, um sich über ihren Arm zu beugen. »Was ist das? Es sieht hübsch aus.« Er rieb vorsichtig über die Zeichnung. Lilya schauderte ein wenig unter seiner Berührung. Er hatte sanfte Finger. Seine Hände waren die des Zwergs, zierlich, schlank und fein.

»Das ist nicht aufgemalt und auch nicht eingestochen.« Der Prinz sah sie fragend an.

»Nein«, erwiderte sie. »Das ist eines Tages so auf meiner Haut erschienen und wird nun immer deutlicher und breitet sich immer mehr aus. Ich trage diese Zeichnung auch im Gesicht.« Sie hätte die Worte am liebsten zurückgeholt. Noch lieber hätte sie nicht die Dummheit begangen, dem Prinzen ihre Male zu zeigen. Sie kannte ihn nicht und hätte das nicht tun dürfen.

Lilya befreite ihren Arm aus seinem Griff und zerrte den Ärmel wieder hinab. »Ich weiß nicht, warum ich das getan habe«, sagte sie laut und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.

Der Prinz sah sie unverwandt an. Seine Augen waren grün wie die einer Katze, sein Haar schwarz, er war schlank und feingliedrig, in seiner ganzen Erscheinung ein wahrer Königssohn.

Lilya ertappte sich bei einem Lächeln, das Massinissa zu ihrer Überraschung erwiderte. »Du glaubst mir, dass ich nicht mit Dem Naga paktiere?«, wagte sie zu fragen.

Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht. Er zögerte, dann nickte er widerstrebend. »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich hatte gehofft, dass du mich zu ihm führen kannst. Ich will mit ihm kämpfen. Er soll den Fluch von mir nehmen, und wenn ich ihn töten muss, damit sein Fluch mit ihm stirbt.«

Lilya schüttelte sich. »Niemand kann ihn töten«, sagte sie entsetzt. »Er ist ein Gott. Seine Kräfte übertreffen die eines jeden Sterblichen und seine Macht ist die der Geister. Du würdest ganz und gar vernichtet, wenn du das versuchtest.«

Misstrauen färbte seinen Blick. »Woher weißt du das?«, fragte er.

»Von meinem Großvater. Er gibt mir Bücher zu lesen«, erwiderte Lilya, aber sie runzelte die Stirn. Woher wusste sie das wirklich? Sie hatte nichts über Den Naga gelesen, nur sein Bildnis gesehen.

Massinissa nickte, aber das Misstrauen verschwand nicht aus seiner Miene. »Ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann«, sagte er. »Etwas in mir mahnt zur Vorsicht.« Er hob die Schultern und sah seinen Erzieher an. Der zuckte ebenfalls die Achseln.

Der Prinz lächelte Lilya zu ihrer Überraschung zu. »Schau nicht so traurig drein«, sagte er. »Ich bin es nicht gewöhnt, mich mit hübschen jungen Mädchen zu unterhalten, und war ganz gewiss schrecklich schroff und unhöflich zu dir. Verzeih mir.« Er hielt Lilya die Hand hin. Sie ergriff sie nach kurzem Zögern und erwiderte den Druck. »Vielleicht bist du ja wirklich, was du zu sein behauptest, und keine Schlangen-Daeva, die den Auftrag hat, mich zu quälen.« Der Prinz ließ ihre Hand los. »Aber falls du doch eine Dämonin bist: Richte deinem Herrn, Dem Naga, aus, dass ich ihn sehen will. Um ihn zu töten.« Er nickte ihr ernst zu und wandte sich um. Die Zweige des Baumes raschelten, er war fort.

Lilya spürte, wie ihre Knie nachgaben. Sie lehnte sich an den rauen Baumstamm und klammerte sich haltsuchend daran fest. Eine Daeva. Sie war kein Dämon, das wusste sie. Daevas waren es, die sie nachts quälten und folterten und die ihrem Großvater aus den Augen blickten. Ein leiser Jammerlaut entfloh ihren Lippen. Der Abend kam unaufhaltsam näher.

Und während sie das dachte, ertönte in der Ferne der tiefe Gong.

»Wo warst du? Wie kannst du mich warten lassen?« Ihr Großvater war so wütend, wie sie ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie, er würde sie schlagen. Lilya stammelte etwas, in dem das Wort »Prinz« vorkam.

Der Beg wurde plötzlich ganz ruhig und kalt. »Du hast den Prinzen getroffen?«, fragte er. »Wie das?«

»Im Garten, am Teich«, erwiderte sie. »Er hat mit mir gesprochen.«

»Worüber?« Kobads Blicke spießten sie auf.

»Ah, über ... darüber, dass er auf deine Hilfe hofft«, sagte sie. »Er hält dich für einen großen Magush.«

Zu ihrem Erstaunen gab sich Kobad mit dieser Antwort zufrieden. Ein selbstgefälliges Lächeln spielte um seinen Mund. »Nun ja«, sagte er. »Ich denke, dass ich auf einem guten Weg bin.« Dann ließ er das Thema fallen und klatschte ungeduldig in die Hände. »Auf jetzt, die Nacht ist schnell vorüber.«

Lilya fühlte, wie ihr Mut sank. »Baba«, sagte sie zaghaft, »ich würde so gerne heute einfach nur schlafen. Können wir nicht eine Nacht darauf verzichten ...«

Er ließ sie nicht ausreden. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Hör auf zu jammern.« Mit einer befehlenden Geste hieß er Lilya auf dem Hocker in der Mitte des Zimmers Platz nehmen und warf sich den weiten, dunklen Mantel um, dessen Kapuze sein Gesicht vor ihrem Blick verdeckte.

Sie sank auf die harte Sitzfläche und legte die Hände ergeben in den Schoß. Das Gemach, in dem Kobad ihre nächtlichen Sitzungen abhielt, war ein dunkles, fensterloses Gelass, in dem nur ein großer Tisch, einige Wandborde und zwei Hocker standen, sonst nichts. Kobad hatte einige seiner Gerätschaften und Bücher aus seinem Haus herbringen lassen, und Lilya war glücklich, wenigstens einige vertraute Dinge vor Augen zu haben, an die sie ihren gepeinigten Geist klammern konnte, wenn es wieder allzu schlimm wurde.

Kobad vollzog die vorbereitenden Rituale. Er stellte Kerzen auf und entzündete sie, verbrannte Weihrauch, streute ein violettes Pulver aus einem kleinen Ledersäckchen rund um Lilyas Hocker und murmelte dazu Worte in einer hässlich klingenden Sprache.

Lilya faltete ihre Hände fest ineinander, denn ihre Finger begannen zu zittern. Gleich würde das blaue Feuer hochspringen und sie einschließen mit all diesen schrecklichen Wesen und Bildern.

Der Beg beugte sich vor und nahm Lilyas Maske mit einem beiläufigen Schnippen seiner Finger ab. Sie wurde zu einem Atemwölkchen, das in der Luft über Lilyas Kopf zerfaserte.

Lilya verzog unwillkürlich das Gesicht und hob die Hand zu ihrer Wange, die sich kühl und fremd anfühlte.

Kobad schob unsanft ihre Finger beiseite. »Lass mich sehen«, sagte er. Er musterte sie aus allernächster Nähe, nickte.

»Baba ...«, sagte Lilya, die das Gefühl hatte, dass mit dem Verschwinden der Maske ein dämpfender Schleier von ihren Gedanken gezogen worden war. Alles erschien viel schärfer und deutlicher, ihr Kopf war nicht mehr so voller wattiger Müdigkeit.

Das ist der Zauber, dachte sie mit erschreckender Klarheit. Es geht nicht nur um mein Gesicht. Er hält mich dumm und folgsam, still und gefügig!

»Baba«, sagte sie noch einmal, energischer als zuvor. »Ich will das nicht. Ich möchte, dass du mich gehen lässt. Du darfst mich nicht gegen meinen Willen so behandeln!« Sie machte Anstalten, sich zu erheben. Noch nie zuvor hatte sie so mit ihrem Großvater gesprochen. Sie erschrak beinahe über den Klang ihrer eigenen Worte.

Der Beg hob den Kopf. »Was redest du da?« Er gab ein Schnauben von sich, das eher amüsiert als aufgebracht klang. Seine Hand legte sich schwer wie Stein auf ihre Schulter und drückte sie auf den Hocker zurück. »Du bleibst hier sitzen«, sagte er.

Sein Griff hielt sie ohne große Mühe fest. Lilya fühlte, wie ein Bann ihre Glieder lähmte. »Großvater«, sagte sie mühsam. »Nicht!«

Er beachtete ihren Protest nicht. Mit einer konzentrierten Handbewegung schloss er den Kreis und beschwor das blaue Zauberfeuer. Lilya schrie auf. Sie wehrte sich mit aller Kraft gegen den Bann, der sie auf ihrem Platz hielt, aber alle Anstrengung brachte nichts.

»Hör auf«, hörte sie ihren Großvater in mildem Ton sagen. »Du schadest dir nur. Je weniger du dich sträubst, desto weniger wird es dich verletzen.«

Er ragte vor ihr auf wie ein Baum. Sie hatte Mühe, ihren Blick geradeaus zu richten. Ihre Zunge war schwer. »Großvater«, flehte sie und wusste nicht mehr, worum sie hatte bitten wollen. Es war wichtig, so ungeheuer wichtig, aber sie war so müde ...

Ihr Blick hing an Kobads Gesicht. Er stand über sie gebeugt, und auf seiner Schulter, über seinem Kopf sah sie die Fratzen seiner Daevas, die sie mit gebleckten Zähnen angrinsten. Seine Augen, die im Schatten der Kapuze nur als schwacher Schimmer zu sehen waren, begannen zu glühen. Dunkelrotes Feuer schlug ihr aus ihnen entgegen. Daeva, dachte sie. Es sind keine Daevas in seinen Augen. Er selbst ist der Dämon ...

Aber auch dieser Gedanke zerfaserte wie kurz zuvor ihre Zaubermaske. Sie duldete, dass seine Finger kalt ihr Gesicht berührten, die Zeichen unter ihrem Auge, an ihrer Schläfe, auf ihrem Hals nachzeichneten. Es kitzelte zuerst nur, aber dann begann die Berührung zu schmerzen. Feuer brannte in den Zeichnungen auf ihrer Haut. Sie keuchte und bäumte sich auf. Der Schmerz war zu groß, es gelang ihr, den Bann zu lockern und eine Hand zu heben, mit der sie ihren Peiniger von sich stoßen wollte.

Ein eisenharter Griff umschloss ihr Handgelenk und ließ sie aufstöhnen. Das Feuer kroch weiter über ihre Haut und breitete sich aus. Am Rande ihres sich verdunkelnden Blickfeldes sah sie die Glut, die sich unter ihrer Haut voranschob und die Linien und Kringel grellrot aufflammen ließ. Die Schmerzen raubten ihr fast den Verstand. Sie stöhnte erneut, riss die Hand empor, die nicht festgehalten wurde, und krallte nach dem Gesicht des Dämons.

Er fuhr zurück und zischte einige Worte, die wie schwere Schläge auf ihren Körper niederfielen und sie auf den Hocker zurückwarfen. Auch ihre zweite Hand steckte nun in einer eisernen Fessel und dann wurden ihre Fußgelenke unbarmherzig in Eisen geschlagen. Lilya blickte hinab und sah die körperlosen Dämonenhände, die sie umklammert hielten. Lange, blauschwarze Nägel bohrten sich in ihr Fleisch.

Lilya ächzte, denn der Schrei, der sich in ihrer Kehle bildete, wurde von dem Zauberbann erstickt. Mit sich trübendem Blick starrte sie in die Feueraugen des Dämons. Sie wollte ihn anflehen, sie zu verschonen, aber kein Laut gelangte über ihre Lippen.

Dann war Dunkelheit um sie. Sie sah nichts mehr, hörte nur noch entferntes, dumpfes Murmeln. Schmerz war allgegenwärtig. Sie glaubte, die widerwärtigen Berührungen von Dämonenfingern zu spüren. Jemand hob sie hoch, trug sie durch die Luft und legte sie auf eine harte Fläche. Unangenehm kalte Luft umspielte ihren Körper. Sie fror und hätte gerne um eine Decke gebeten, um irgendetwas, mit dem sie sich hätte schützen können.

Blicke waren auf ihr, Berührungen. Der Feuerschmerz in den Zauberzeichen war verschwunden und hatte einer dumpfen, schweren Betäubung Platz gemacht. Sie konnte wieder etwas sehen. Gesichter, die sich ihr zuwandten. Über sie gebeugt waren, sie anstarrten.

Nicht, wollte sie rufen. Seht mich nicht so an! Sie wollte die Hände schützend vors Gesicht legen, vor ihren Körper. Seht mich nicht an, ich bitte euch ...!

»Der Drache ist noch nicht vollkommen ausgereift«, hörte sie den Magush mit den Dämonenaugen sagen. »Aber er nähert sich seiner Vervollkommnung. Ich denke, dass wir ihn in ein paar Tagen zum Einsatz bringen können.«

»Was musst du dafür noch vorbereiten?«, fragte eine Stimme, die ihr fremd und bekannt gleichzeitig war.

»Ich würde ihn gerne hier in Verwahrung halten. Er gewinnt an Stärke ‒ das wollen wir ja auch erreichen. Ich möchte aber vermeiden, dass er unkontrollierbar wird. Ich kann ihn nicht während der ganzen Zeit nur mit meinem Willen allein im Zaum halten, aber dafür habe ich auch schon eine Lösung gefunden.«

Lilya versuchte zu verstehen, wovon die Stimmen sprachen, aber noch während sie darüber nachdachte, schreckte sie eine kalte Berührung auf.

Jemand betastete ihre Schulter und ihren Arm. Sie erkannte voller Panik, dass sie auf einem Tisch lag und so gefesselt war, dass sie sich nicht bewegen konnte. Es blieb ihr nichts, als voller Angst die Augen zu schließen und darauf zu hoffen, dass es vorbeiging ‒ was auch immer gerade mit ihr geschah.

»Das sind wirklich interessante Muster«, sagte die fremde Stimme. »Werden diese lächerlichen Zaubergegenstände diesen hier nachgebildet?«

Der andere antwortete nicht sofort. »Nein, Großedler«, sagte er dann zögernd. »So kann man es nicht sagen. Sie werden hieraus vielmehr gewonnen.«

»Ah«, machte der andere. »Ich glaube, ich verstehe. Woher ‒ hm ‒ hast du dieses hier?«

Der Magush räusperte sich. »Man kann sie gelegentlich auf Sklavenmärkten erstehen, wenn man weiß, an welche Händler man sich zu wenden hat. Du hast die Jagd auf Drachenhäute für legal erklärt, mein König. Ich hätte mir also noch nicht einmal etwas zuschulden kommen lassen, wenn ich es einem Drachentöter abgekauft hätte.«

»Und ‒ hast du das getan?«

»Nein, Großedler«, erwiderte der Magush kalt. »Dieses Exemplar ist auf anderem Wege in meine Hand gelangt. Ich habe viel Zeit, Mühe und Geld in seine Aufzucht gesteckt. Es ist ein wirklich schönes, starkes Exemplar, und ich schätze mich glücklich, dass es zum Wohle deines Sohnes dienen wird, statt einem anderen, profaneren Zweck zugeführt zu werden.«

Der andere lachte leise. »Habe ich dich beleidigt, Kobad? Du bist zu empfindlich.« Er beugte sich wieder über Lilya. Erneut fühlte sie die Berührungen, die ihr so widerwärtig waren. Finger fuhren den Linien auf ihrer Haut nach und betasteten sie wie ein Stück Fleisch, das zum Verkauf auslag.

»Sehr hübsch«, sagte der Shâya. »Versteht es etwas von dem, was hier geschieht? Es macht einen durchaus verständigen Eindruck auf mich.«

»Es ist in einem gewissen Rahmen vernunftbegabt«, erklärte der Magush. »Aber du solltest dich nicht vom äußeren Anschein täuschen lassen. Diese Wesen besitzen keine menschliche Seele und kennen keine wahren Gefühle. Allerdings sind Drachen in der Lage, menschliches Verhalten täuschend echt nachzuahmen. Du hast doch sprechende Papageien und dressierte Affen in deiner Menagerie, Shâya. So ähnlich musst du dir dies hier denken. Es ist nur etwas raffinierter und weiter entwickelt als andere Tiere.«

Wovon reden sie nur, dachte Lilya und rang verzweifelt darum, ihre trägen Gedanken zu beschleunigen. Ich muss unbedingt verstehen, wovon sie reden. Es scheint etwas mit mir und der schrecklichen Lage zu tun zu haben, in der ich mich befinde.

Sie hörte die nächsten Worte nicht, weil sie mit sich und ihrem widerspenstig-trägen Bewusstsein kämpfte, und merkte erst auf, als der Magush sagte: »... mit deiner Erlaubnis den Prinzen aufsuchen, um ihn auf das Kommende vorzubereiten.«

»Du hast die Erlaubnis, dich frei zu bewegen«, erwiderte der Shâya. »Ich werde Aspantaman anweisen, dir in jeder Hinsicht zu Diensten zu stehen.«

Die Stimmen entfernten sich, eine Tür ging auf und schlug wieder zu. Nach einem kurzen Moment der Stille näherten sich erneut Schritte dem Tisch. Sie hörte die Stimme des Magush. Er sprach in dieser hässlichen, rauen und zischenden Sprache, mit der er auch die Beschwörung gewirkt hatte. Dieses Mal erhielt er eine Antwort: Eine grässliche Stimme, die in ihren Ohren schmerzte wie das Kreischen von Nägeln auf einer Schiefertafel, antwortete in derselben Sprache. Es entspann sich ein schneller Wortwechsel, der sich wie ein Streit anhörte. Lilya krallte die Nägel in das weiche Holz der Tischplatte. Kälte kroch in ihre Knochen, schüttelte ihre Glieder, machte ihre Zähne klappern.

Der Streit endete mit einem dumpfen Geräusch, als würde ein Korken aus einer Flasche gezogen. Dann wieder Schritte, eine Berührung. »Ich lasse dich jetzt in dein Bett gehen«, sagte Kobad.

Lilya blinzelte in sein Gesicht, das hager und blass im Schatten der Kapuze lag. Die Auseinandersetzung schien ihn erschöpft zu haben.

Der Magush löste den Fesselbann und half ihr, sich aufzusetzen und vom Tisch zu steigen. Lilya schlotterte vor Kälte. Sie fühlte sich schwach und ausgelaugt. Wie sollte sie nun zurück in ihr Zimmer kommen?

»Heule nicht herum«, sagte der Beg nicht unfreundlich. »Hier, das wird dich wärmen.« Er warf ihr einen dunklen Djilbab mit Kapuze zu, in den sie erleichtert hineinschlüpfte wie in ein Versteck. Das lange Gewand war weich und warm und etwas zu groß. Es sah aus wie eins der Mantelkleider, wie sie von Dienerinnen getragen wurden, wenn diese aus dem Haus gingen.

Lilya raffte den Saum und zog hastig ihre Sandalen an, denn der Steinboden ließ ihre Füße zu Eis erstarren. Sie zitterte vor Kälte und Müdigkeit.

»Wir sind noch nicht ganz fertig«, hörte sie den Magush sagen. Sie blickte erschreckt auf. Er hatte doch gesagt, sie könne gehen!

Der Magush warf die Kapuze seines Mantels in den Nacken und näherte sich ihr. Seine Hand packte ihr Kinn. Er musterte sie aus nächster Nähe. »Du wirst tun, was ich dir sage.«

Lilya nickte eingeschüchtert, aber sie konnte seinen Blick nicht erwidern und schlug die Augen nieder. Sie musste etwas schlafen, um zu Kräften zu kommen. Aber sie wollte nicht hierbleiben, nicht in der Nähe dieses grausamen Magiers, der ihr so schreckliche Dinge antat. Sie musste davonlaufen ...

Lilya schrie auf und zuckte zurück, denn der Magush hatte ihr eine Ohrfeige gegeben. »Du wirst mich ansehen, wenn ich mit dir rede«, sagte er scharf. »Ich weiß, was du denkst. Glaube nicht, dass du mir einfach so davonlaufen kannst.« Er zog finster die Brauen zusammen. »Ich muss sichergehen«, murmelte er. Ehe Lilya sich wehren konnte, hatte er erneut ihr Kinn gepackt und näherte sein Gesicht dem ihren. Sie keuchte und schlug nach ihm, aber er knurrte nur und hielt sie weiter fest. Seine Lippen pressten sich auf ihren Mund, und mit einem schmerzhaften Druck auf ihr Kiefergelenk zwang er sie, die Lippen zu öffnen. Sie wollte schreien, aber etwas drang in ihre Mundhöhle, lag schwer auf ihrer Zunge, füllte den Mund mit Hitze und dem Geschmack nach Blei und Feuer. Das, was aus dem Mund des Magiers kam, drang in sie ein, zwang ihren Mund, sich weiter und noch weiter zu öffnen, rann mit glühender Kälte und eisiger Hitze durch ihre Kehle und füllte sie ganz und gar aus. Das, was noch Lilya war, schrie gellend um Hilfe, aber kein Laut davon drang aus ihrem Mund. Der Beg ließ sie los und trat einen Schritt zurück.

Er musterte sie scharf und nickte dann. »Gut. Du weißt, was du zu tun hast. Halte sie in der Nähe, hindere sie daran fortzulaufen und bringe sie heute Abend wieder zu mir.« Mit einer ungeduldigen Handbewegung schuf er eine neue Maske aus Spinnweben, Dunkelheit und Schmerzensschreien, die schimmerte wie schwarze Diamanten und dunkles Blut, und fixierte sie auf ihrem gefühllos gewordenen Gesicht.

Lilya starrte ihn hilflos an. Ihr Kopf nickte, ihre Stimme sagte: »Ich gehorche, Magush.« Lilya wollte sich wehren, aber ihr Körper drehte sich um und trug sie zur Tür. Sie sah zu, wie ihre Hand den Riegel öffnete, sie sah, wie ihre Füße über die Schwelle schritten, und sie schrie, bis sie das Bewusstsein verlor, während ihr Körper mit gesenktem Kopf still in seine Gemächer zurückkehrte.