TALISMAN
Alle Einkäufe lagen in der Sänfte, und Lilya betastete prüfend die Päckchen, während sie aufzählte, was sich darin befand. »Ein bestickter Gürtel und ein Ohrgehänge für Tante Gulzar«, sagte sie. »Ein Paar neue Pantöffelchen für Lilya, weil ihre alten zu klein geworden sind. Eine schöne, neue Dupatta für Ajja, damit sie dem Pastetenkoch den Kopf verdrehen kann.«
Sie betastete das Päckchen, in dem sich der zusammengefaltete breite und lange Schal befand. Die Dupatta war zartblau mit einer rosenfarben und grün bestickten Kante. Ajja würde schrecklich schimpfen und die Hände zusammenschlagen und behaupten, dass so ein schönes Kleidungsstück nicht zu einer alten Kinderfrau passe und Lilya das Geld ihres Großvaters nicht so zum Fenster hinauswerfen solle ‒ aber sie würde sich insgeheim freuen und die Dupatta stolz wie ein Pfau zum Frühlingsfest tragen.
Lilya nahm das nächste Päckchen in die Hand und drückte es vorsichtig. Das war das Konfekt, das sie Yani mitbringen wollte. Er hatte ihr erzählt, dass die Küchensklaven immer die Reste essen durften, er aber als Jüngster niemals etwas von den Süßigkeiten abbekam, die den älteren Sklaven zustanden. »Aber ich esse ohnehin nicht gerne Süßes«, hatte er dann behauptet, obwohl seine Augen etwas anderes sagten.
»Wir haben alles«, sagte sie. »Lass uns ... oh nein!« Lilya schlug die Hand vor den Mund. »Ajja, ich habe Großvaters Geschenk vergessen!«
Das Kindermädchen, das neben der Sänfte hockte und sich müde die staubigen Zehen massierte, blickte auf und sah Lilya fragend an. »Was wolltest du ihm denn mitbringen? Ich schicke Teto, damit er es holt.«
Lilya schüttelte energisch den Kopf. Sie sprang aus der Sänfte und sah sich um. »Dort muss ich hin.« Sie zeigte auf den düsteren Eingang zu einem labyrinthischen Gängegewirr, das sich zwischen den Schmuckmachern und dem Lederviertel erstreckte.
»Was willst du denn an diesem unheimlichen Ort finden?« Ajja stand auf und ächzte leise.
»Setz dich in die Sänfte«, befahl Lilya. »Ich nehme Teto mit. Ich habe mich ein wenig ausruhen können und bin gleich wieder zurück.«
Ajja widersprach halbherzig, aber das Gähnen, das ihr den Mund weitete, unterbrach ihren Protest. Lilya winkte dem dicken Teto, der eine ergebene Verbeugung machte, und durchquerte, ohne abzuwarten, ob er ihr folgte, den Durchgang.
Das Dämmerlicht in dem Gang stammte von Fackeln und Öllampen. Die Gewölbe waren finstere Höhlen, in denen der matte Glanz magischer Gerätschaften einen gespenstischen Schimmer aussandte. Gesichter und Hände schwammen wie Fische durch die Dunkelheit, hier und da glänzte ein heller Kaftan, ein weißes Gewand oder ein Turban. Murmelnde Stimmen, leise Schritte, der scharfe Geruch von Räucherwerk und glosenden Kräutern, leise plätscherndes Wasser. Unter ihren Sandalen glatte, kalte Fliesen, über ihrem Kopf ein von Säulen getragenes Dach, durch das kein Licht drang. Dieses Labyrinth war eine Welt für sich, die völlig abgeschieden zu sein schien von der Sonne, der Hitze und dem Gewimmel vor dem Eingang.
Lilya schob den Schleier aus ihrem Gesicht, um besser sehen zu können. Sie hatte vor einem Jahr einmal ihren Großvater hierher begleiten dürfen, und er hatte ihr vorher davon erzählt, was sie dort erwarten würde. Das war das Quartier der Magier. Hier konnte man all die Zutaten für magische Tränke und Zaubersalben kaufen, die in den Büchern verzeichnet waren: Krötenaugen und getrocknete Mäusebeine, Schlangenzungen und das Gift der Vogelspinne, eingelegte und geräucherte Insekten, die Leber des geheimnisvollen Karafischs. Kräuter aus dem fernen Okzident konnte man hier ebenso erwerben wie seltene Steine und Kristalle, die Magie speichern konnten, Heiltränke und Ingredienzen für Bannsprüche, Tonflaschen, die mit einem magischen Siegel versehen als Gefängnis für kleine Dämonen und Geister dienen konnten, Talismane und Amulette, Zauberkreiden und alchemistische Pulver, große Gerätschaften wie fliegende Teppiche und Zaubergeschirr, mit dem man ein Flügelpferd reiten konnte. Natürlich gab es auch Kristallkugeln und Wahrsagekarten, Zauberstäbe und allerlei alchemistische Gefäße, Brenner und Tinkturen, Rührgeräte und Mörser und außerdem Bücher und Schriftrollen über Zauber, Magie und Sterndeutung.
Lilya tastete sich vorwärts. Sie erinnerte sich an das Gewölbe, in dem ihr Großvater die meiste Zeit verbracht hatte, und dort wollte sie sich nach einem Geschenk umsehen.
»Psst«, machte eine Stimme, als sie an einem der kleinen Gewölbe, kaum größer als ein Verschlag, vorbeistreifte und dabei ein Kräuterbündel zu Boden riss. »Psst, junge Banu. Was immer du suchst, ich habe es.«
Sie blieb fast gegen ihren Willen stehen und strengte die Augen an, um in der Düsternis etwas zu erkennen. Ein Hemd schimmerte bleich, bewegte sich, aber niemand schien darin zu stecken. Dann kam das Hemd näher, und Lilya erkannte, dass der Mensch darin so dunkelhäutig war wie sie selbst. Nein, sogar noch dunkler, so dunkel wie Ajja. Ein Wüstenmann.
Dann stand der Mensch vor ihr und griff nach ihrer Hand, zog Lilya dicht an sein Gesicht. Sie sah die Augen und das geflochtene, graue Haar, die runzlige Haut, die über und über mit feinen, hellbraunen und roten Tätowierungen bedeckt war, die klimpernden Ohrgehänge, die Ringe an den faltigen Fingern. Es war eine Frau, kein Mann. Eine alte Wüstenfrau. Sie hatte noch nie eine alte Wüstenfrau gesehen, die keine Sklavin war.
»Nein«, sagte sie und versuchte, ihre Hand aus dem festen Griff der dunklen Finger zu lösen. »Ich bin nicht auf der Suche nach etwas Bestimmtem. Lass mich los.«
Der Klammergriff wurde sogar noch fester. »Du wirst es nicht finden, wenn du nicht zuerst bei mir schaust«, sagte die alte Frau. Ihre Augen hatten eine erstaunlich helle Farbe und ihr Blick musterte Lilya scharf und ausdruckslos aus den Schnörkeln und Kringeln der Tätowierung heraus. »Komm herein, sieh dich um, Drachenkind.«
Ein unerklärliches Gefühl der Beklemmung und Angst verlieh Lilya Kraft. Sie wich zurück und riss sich los. »Was soll das!«, fauchte sie und wandte den Kopf, um Teto zu ihrem Beistand zu rufen. Aber ihr Beschützer war nirgends zu sehen.
Die Händlerin machte eine besänftigende Handbewegung. »Ich halte dich nicht«, sagte sie. »Aber sei klug, kleine Schwester. Komm zu mir, wenn du Rat benötigst.« Sie hob blitzschnell die Hand und berührte Lilyas Schläfe, ehe diese den Kopf abwenden konnte. Lilya stand wie gelähmt. Feuerfunken tanzten vor ihrem Auge und ein Schmerz wie von tausend glühenden Nadelstichen prickelte auf der Haut ihrer bösen Seite. Sie blinzelte heftig und hob die Hand, um nach der Frau zu schlagen, aber als sie wieder sehen konnte, war das Gewölbe leer und die Wüstenfrau verschwunden.
Lilya rieb sich heftig über die Schläfe, um das Gefühl der Berührung zu vertreiben. Was hatte die alte Frau mit ihr angestellt? Sie machte ein paar schnelle Schritte von dem Gewölbe fort und zog den Schleier schützend vor ihr Gesicht. Wo war der pflichtvergessene Teto? Wie konnte er sie hier im Stich lassen? Sie musste dafür sorgen, dass er ausgepeitscht wurde, wenn sie wieder zu Hause war.
Sie ging weiter und drehte suchend den Kopf. Dort, das große Gewölbe mit dem ausgestopften Krokodil ‒ das war der Händler, den sie gesucht hatte. Lilya ging darauf zu, ein Gefühl der Dringlichkeit ließ sie schneller werden. Sie wollte wieder ans Tageslicht, in ihre Sänfte, nach Hause, in ihr Zimmer. In ihr Bett.
Der Händler erkannte sie und verbeugte sich tief. »Dein Großvater ist nicht hier«, sagte er. »Habt ihr euch verloren, Banu? Soll ich einen Sklaven schicken, der ihn sucht?«
Lilya dankte und atmete erleichtert auf. Dieser Mann war in keiner Weise unheimlich oder geheimnisvoll, er war einfach nur ein kleiner, untersetzter Kaufmann in einer bestickten Weste und ausgetretenen Pantoffeln, der sie freundlich einlud, sein Gewölbe zu betreten und sich auf einen Stuhl zu setzen, während er ihr ein Glas Tee brachte und dann mit gefalteten Händen aufmerksam ihren Wünschen lauschte.
Er ging und suchte nach den Dingen, die Lilya ihm genannt hatte. »Sieh dich ruhig um«, sagte er freundlich. »Du darfst alles anfassen. Die gefährlichen Dinge sind mit einem Schutzbann versehen.«
Lilya ließ sich nicht lange bitten. Sie ging zu einem der Gestelle, die sich an der Längswand des Gewölbes entlang bis in die hinterste Tiefe zogen, und nahm Dinge in die Hand, von denen sie auch nicht ansatzweise vermuten konnte, wozu sie dienen mochten.
Die Teppiche, die aufgerollt an der Wand lehnten ‒ waren das etwa fliegende Teppiche? Und die großen, verkorkten und versiegelten Tonkrüge, auf denen geheimnisvolle Zeichen glitzerten, die kleinen Messinglampen ‒ wurden sie von Geistern und Djinns bewohnt?
Sie fragte den Gehilfen des Kaufmanns, der gerade mit einem Korb in den Händen aus dem hinteren Lagerraum kam. »Fliegende Teppiche, ja«, sagte der Junge und stellte den Korb auf einem der Tische ab. Er wischte seine Hände an der Schürze sauber, die er über seinen weiten Hosen trug, und rollte einen der Teppiche für sie auf. Dunkle, aber dennoch leuchtende Farben bildeten ein augenverwirrendes Muster. Lilya blinzelte. Ihr böses Auge zeigte ihr einen großen Vogel, der weit seine Schwingen ausbreitete und den gebogenen Schnabel wie zum Singen geöffnet hielt. Das gute Auge sah nur verschlungene Zeichen und Muster. Lilya seufzte. »Der ist wunderschön«, sagte sie und berührte den Teppich mit den Fingerspitzen. »Was ist das für ein Vogel?«
»Was für ein Vogel?«, erwiderte der Gehilfe und rollte den Teppich wieder zusammen.
Lilya zuckte die Achseln. »Schon gut«, sagte sie. »Was kostet so ein Teppich?«
»Oh, die sind teuer«, sagte der Gehilfe. »Der Teppich kostet drei Golddrachen. Und der Zauberspruch, der ihn fliegen lässt, noch mal fünf Dirhem.« Er hielt eine Schriftrolle hoch und legte sie wieder in einen Korb mit anderen Rollen.
Lilya nickte. Das war ohnehin kein geeignetes Geschenk für ihren Großvater, er hielt nicht viel von Zauberteppichen und Wunderlampen.
Der Händler kehrte zurück und legte ihr die Dinge vor, nach denen sie ihn gefragt hatte: zwei ledergebundene Bücher aus dem fernen Okzident, die sich mit der Sterndeutung und Numerologie beschäftigten, und ein feines, kalbsledernes Etui, in dem kleine Glasröhrchen in Lederschlaufen verwahrt wurden ‒ darin konnten Tränke und Ingredienzen sicher transportiert werden. Ein kleiner silberner Handspiegel in einem Samtbeutelchen, der mit einem Findezauber belegt war. Ein Sortiment seltener Kräuter und getrockneter Insekten. Ein Paar dünne, weiche Handschuhe, die dennoch absolut feuerfest waren und sogar dem Biss eines Werpanthers widerstehen konnten. Eine Gedächtniskette mit dreiundzwanzig schimmernden Kugeln aus Halbedelsteinen. Grüne Zaubertinte, deren Schrift nur der lesen konnte, der den Zauberspruch dazu kannte. Eine Wasserpfeife ‒ ganz und gar unmagisch, aber sehr hübsch gearbeitet.
Lilya seufzte. Die Entscheidung fiel ihr wirklich schwer. Sie bat den Händler, ihr schon einmal die Handschuhe und das Etui einzupacken und sie noch ein wenig überlegen zu lassen. Der Händler verbeugte sich und zog sich zurück. Lilya drehte die Gedächtniskette in der Hand und genoss die undeutlichen kleinen Erinnerungsfunken, die sie hervorrief. Sie kitzelten irgendwo tief in ihrem Kopf. Da sie die Kette nicht bewusst mit Erinnerungen geladen hatte, konnte sie auch nichts davon klar abrufen, aber es war deutlich zu fühlen, dass der Zauber gut gewirkt war.
Sie befühlte die Kette und das kleine Amulett, das daran hing. Hiervon ging der Zauber aus. Sie hob es an die Augen und betrachtete es. In Silber gefasstes dünnes Leder oder Pergament, darauf einige verschlungene Schnörkel einer Schrift, die sie nicht lesen konnte. Ausgeblichenes Grün und Orange. Anscheinend war das Amulett sehr alt.
»Gefällt dir die Kette?« Der Gehilfe lehnte mit verschränkten Armen an einem Regal und hatte offensichtlich Lust, sich zu unterhalten.
Lilya legte die Kette auf das Tablett und wiegte den Kopf. »Sie ist schön, aber zu teuer.« Sie berührte das Amulett mit den Fingerspitzen. »Habt ihr noch mehr davon?«
Der Gehilfe nickte und löste sich ohne Hast aus seiner entspannten Haltung. Er griff über seinen Kopf ins Regal und zog ein weiteres Tablett heraus, auf dem eine Reihe solcher Amulette und Talismane lag.
Lilya griff nach einer Silberkapsel, die sich aufschrauben ließ. Darin lag ein Fetzen beschriebenes Pergament. »Was steht da?«, fragte sie.
Der Gehilfe zuckte die Achseln. »Das kann niemand lesen. Aber es ist ein Schutzzauber.« Er legte das Pergament wieder in die Silberkapsel und umschloss sie mit der Faust. Er deutete auf ein Messer, das auf dem Tisch lag. »Stoß es mir in die Hand«, sagte er.
Lilya sah ihn entsetzt an und schüttelte den Kopf.
»Nun mach schon«, lachte der Gehilfe. Er wirkte so sicher, dass Lilya sich ein Herz fasste, das Messer nahm und zaghaft, dann energischer gegen seine Hand führte. Die Klinge sang, als wäre sie auf etwas Metallisches getroffen, und sprang vor der Hand zurück.
»Siehst du?« Der Gehilfe öffnete die Faust und legte das Amulett auf das Tablett zurück.
»Was kostet es?«, fragte Lilya fasziniert.
»Das ist Drachenhaut«, sagte er. »Selten und teuer. Zehn Dirhem.«
Das war nicht teurer als der Korb mit Konfekt. Lilya nickte und deutete auf zwei in Silber gefasste Anhänger und eine Brosche. Der Gehilfe erklärte ihr geduldig, wozu sie dienten. Ein Abwehrzauber gegen den bösen Blick und einer gegen das Beulenfieber. Ein Liebeszauber. Lilya spürte, dass sie errötete. Ein Zauber, der wilde Tiere dazu brachte, zahm und friedlich zu werden. Ein Heilzauber für kränkelnde Kinder.
Sie lauschte der Aufzählung und unterbrach den jungen Mann nach einer Weile, weil sie merkte, dass es sie ermüdete. »Ich nehme den Schutzzauber und den, der Tiere zähmt«, sagte sie. »Danke. Pack es mir zu den anderen Sachen. Ich schicke gleich einen Träger, der sie bezahlt und abholt.«
Der Gehilfe verneigte sich und nahm die gewünschten Amulette vom Tablett.
»Warte«, sagte Lilya. »Ich nehme diese beiden schon mit. Wenn dein Herr das erlaubt.«
Der Händler, der gerade einen älteren Mann aus dem Gewölbe begleitet und verabschiedet hatte, hörte ihre Worte und lachte. »Du bist die Enkelin des Begs. Du kannst alles mitnehmen, was dir gefällt.« Er zwinkerte ihr zu.
Lilya nickte ernst. »Danke. Dann diese beiden Amulette. Und leg bitte das Buch über Sterndeutung noch zu den Dingen, die ich abholen lasse.« Sie stand auf und zog ihren Schleier zurecht. Der Händler komplimentierte sie zur Tür und auf den Gang, bevor er sich wieder in sein Gewölbe zurückzog.
Lilya orientierte sich kurz. Wenn sie den gleichen Weg zurück nahm, war sie schnell wieder an der Sänfte, aber dann musste sie noch einmal am Gewölbe der Wüstenfrau vorbei, und der Gedanke flößte ihr seltsamerweise Furcht ein.
Sie wandte sich kurz entschlossen in die entgegengesetzte Richtung, die tiefer in den Basar hineinführte. Es gab überall Ein- und Ausgänge. Sie musste nur die nächste Abzweigung nach rechts einschlagen, dann würde sie schon wieder aus dem Labyrinth herauskommen und von da aus die wartende Sänfte wiederfinden. Kein Problem. Sie war ja kein kleines Kind mehr, das sich nicht zu helfen wusste.
Wenn es hier nur nicht so schrecklich dunkel wäre. Lilya hob den Schleier und warf ihn über den Kopf zurück. Niemand konnte in der Dunkelheit ihr Gesicht genau sehen, also erschien es ihr klüger, sich für die eigene Sicht zu entscheiden, während sie tiefer in den Basar eintauchte.