RAKSHASA
Die Dunkelheit war sein Freund. Er hatte scharfe Augen, die bei Nacht ebenso gut sehen konnten wie am Tage; und bei Nacht störten ihn die Blicke der anderen nicht. Oder, besser gesagt: Sie trafen ihn nicht.
Er ging mit gemächlichen Schritten durch die engen Gänge, warf hier und da einen Blick in eins der Gewölbe, gab sich einen unbekümmerten Anstrich ‒ ein Flaneur, der die Auslagen betrachtet, müßig hier und da etwas in die Hand nimmt und prüft, dann weiterschlendert.
Seine Aufmerksamkeit war gespannt wie eine Bogensehne.
Der Prinz verlangsamte seinen Schritt noch weiter und blieb vor einem Gewölbe stehen, das einem dunkelhäutigen Wüstenmann gehörte. Der Händler dienerte heran und breitete einige seiner Waren vor ihm aus: Kräuterbündel, geschnitzte Glücksbringer, kleine Drachenfiguren aus gebranntem Ton und Halbedelsteinen, bewegliche Schlangen aus Silber. Er nahm das eine und andere prüfend in die Hand, wog es, führte es kritisch betrachtend an die Augen, aber seine Sinne richteten sich scharf wie geschliffene Messer auf eine Stelle hinter dem Rücken des Mannes.
»Warum zeigst du mir dieses wertlose Zeug?«, fragte er den Händler.
Der grinste und hob die Hände in einer seltsamen Mischung aus Achselzucken und Belustigung. »Vergebung, edler Agha«, sagte der Händler. »Ich wusste nicht, dass du das wahre Auge besitzt. Wenn du mir hineinfolgen möchtest ...« Er hob den Vorhang, der den Eingang zum Gewölbe verschloss. Das war durchaus nicht unüblich in diesem Teil des Basars, denn viele der hier angebotenen Dinge waren sehr empfindlich gegen Licht und Luftzug oder mochten es einfach nicht, betrachtet zu werden.
Der Prinz zögerte einen Sekundenbruchteil lang. Wenn er hineinging, verlor er die Verbindung zu dem, der ihn verfolgte. Aber möglicherweise wurde derjenige dadurch unvorsichtig und gab sich zu erkennen.
Amayyas nickte knapp und tauchte unter der niedrigen Türöffnung hindurch in das enge Gewölbe des Wüstenmanns.
Eine Öllampe erhellte den Raum nur notdürftig. In der Dunkelheit schimmerten Metall und polierter Stein. Der Prinz blieb stehen und sah sich um. Das war allerdings eine andere Ware als der billige Tand, den der Händler ihm draußen präsentiert hatte. Sollte der Zufall ihn zu einer Goldader geführt haben?
Er näherte sich nun mit echtem Interesse den Regalen und Tischen, auf denen die unterschiedlichsten magischen Gegenstände gelagert waren. Ein kleiner Korb mit polierten, vollkommen runden Steinen zog ihn an. Er nahm einen davon in die Hand. Er war leichter, als er aussah, füllte seine Handfläche zu einem Drittel aus und schimmerte in einem tiefen Bernsteinton, der von eidechsengrünen Fäden durchzogen wurde. »Ein Drachenauge?«, fragte der Prinz.
Der Händler bestätigte die Vermutung gleichmütig mit einem Nicken. Er schob ein getrocknetes Blatt zwischen die Zähne und begann es zu zerkauen. Blauvioletter Saft färbte seine Lippen.
Der Prinz rieb unwillkürlich die Finger an seiner Hose. Das Auge war aus Stein, aber dennoch hatte es etwas seltsam Lebendiges an sich. »Ich suche einen Daeva«, sagte er. »Hast du so etwas?«
Der Wüstenmann riss die Augen auf. Die blauen und grünen Tätowierungen auf seinen Wangen und der Stirn bildeten verwirrende Schnörkel, die seinen Gesichtsausdruck seltsam verzerrten. »Ich denke nicht, dass du damit etwas anfangen kannst, Agha«, erwiderte er vorsichtig. »Du musst dich irren. Du suchst einen dienstbaren Geist? Ich führe einige Lampen, die ...«
Der Prinz schnitt ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. »Einen Daeva«, wiederholte er. »Und ich weiß sehr wohl, was ich suche.«
Der Händler neigte den Kopf. »Ich verstehe«, sagte er. »Ja, ich habe einen Daeva. Aber wenn du diese Wesen kennst und weißt, was man mit ihnen beginnen kann, dann weißt du auch, dass ich ihn dir nicht geben darf.« Sein Blick, nüchtern und sezierend, traf zum ersten Mal direkt auf den des Prinzen. Er erschrak und senkte hastig den Blick. »Oh«, sagte er. »Ich habe Euch nicht erkannt. Vergebt mir, Edler.« Er legte die Hände vor der Stirn zusammen und verneigte sich tief.
Amayyas sah ihn verwirrt und voller Unbehagen an. Wie konnte dieser unwissende Händler ihn kennen? Er verließ das Serail so gut wie nie, er trat nicht in der Öffentlichkeit auf, seit ... seit es geschehen war.
»Erhebe dich«, sagte er scharf. »Ich bin nicht der, für den du mich hältst.«
Der Händler bemühte sich, ihm nicht direkt in die Augen zu blicken. Mit abgewandtem Gesicht griff er nach einem Schlüssel, der auf dem Tisch lag. »Ich sehe, was ich sehe«, sagte er. »Eure Augen sind die eines Rakshasa. Ihr müsst Eure Natur nicht verleugnen, denn mein Volk und das Eure sind einander niemals feind gewesen.« Er deutete zum Hintergrund des Gewölbes. »Wenn Ihr mir folgen wollt ‒ ich halte den Dämon dort hinten im Eis.«
Der Prinz folgte ihm verwundert. Rakshasa, das war ein Wort aus der Sprache des Wüstenvolkes. Der Händler hielt ihn also für einen Yuzpalang, einen dieser Leopardendämonen, die die Steppe bevölkerten, die mal Mensch waren und mal Raubkatze. Ob der Händler von dem Fluch gehört hatte, unter dem er zu leiden hatte, seit er ein Kind war?
Wieder wurde ein Vorhang beiseitegeschoben. Der höhlenähnliche Raum, der dahinterlag, war finster wie die Nacht des Toten Winters. Selbst der Nachtblick des Prinzen versagte. Er blieb stehen und wartete, bis seine Augen einen geisterhaften Schimmer ein paar Schritte voraus erkannten. »Dort?«, fragte er. »Drei Schritte rechts von uns?«
Der Händler, dessen leisen Atem er an seiner Seite hören konnte, sagte: »Ihr seht ihn also?« Er klang befriedigt. »Es verwundert mich nicht, dass ein Rakshasa einen schlafenden Daeva sehen kann.«
Amayyas schnaubte und ging auf das Glühen zu, das in allen Farben des Regenbogens schillerte. In der Mitte des Lichtes schwebte eine formlose Dunkelheit. Er hob die Hand und berührte den Eisblock, in den der Dämon eingesperrt war. »Ich will ihn haben«, sagte er.
»Er hat auf Euch gewartet«, erwiderte der Händler. »Weckt ihn, Rakshasa.«
Der Prinz schluckte. Er wusste nicht, wie das zu bewerkstelligen war. »Kann ich ihn nicht einfach so mitnehmen?«
Der Händler lachte. »Versucht es.«
Wieder griff Amayyas nach dem Eisblock und versuchte, ihn anzuheben. Seine Finger glitten an dem Eis ab. Der Block bewegte sich nicht. Er knurrte und griff nach dem Dolch an seinem Gürtel. Aber auch das Eisen glitt ab, ohne dem Eis auch nur einen Kratzer zugefügt zu haben. Wieder knurrte der Prinz, und das Knurren wurde zu einem lauten, erbosten Fauchen. Er spürte, wie der Händler zurückwich.
»Zu früh«, fauchte der Prinz. »Noch ist Dunkelmond.« Er spürte die Veränderung in seinen Händen. Sie zerrte und zog und schmerzte, wie es die Veränderung immer tat. Seine Knochen verschoben sich, wurden länger oder kürzer, knackten und knarrten, dehnten die Sehnen und Muskeln. Er stöhnte.
Der Händler, der sich ein Herz gefasst hatte, sprang vor und griff blind nach Amayyas’ Ellbogen. »Kommt hier heraus, Herr«, sagte er. »Es ist sicher der Dämon, der das bewirkt. Ihr solltet nicht hier im Basar Eure wahre Gestalt annehmen, das ist zu gefährlich für Euch.«
Amayyas stöhnte und riss sich vom Anblick des Glühens los, das vor seinen Augen heller und strahlender wurde. »Er erwacht«, rief der Händler. »Kommt, Herr. Folgt mir hinaus. Ich kann Euch nicht schützen. Ich konnte doch nicht wissen, was geschieht, wenn Ihr den Daeva weckt!«
Der Prinz wusste nicht, wie er durch den Vorhang gelangt war. Er fand sich im vorderen Gewölbe auf dem Boden kauernd wieder. Sein Atem ging schnell und flach. Der Händler war zum Eingang gerannt und hatte die Holztür geschlossen, die das Gewölbe in der Nacht vor Einbrechern schützte.
Amayyas kämpfte darum, sein Bewusstsein zu bewahren. »Nicht«, zischte er durch die zusammengepressten Zähne. »Lass es offen! Lauf!« Er krümmte sich, und wieder ging dieses schreckliche, knochenbrechende Reißen durch seinen Leib, bog seinen Rücken, krümmte seine Glieder. Er hob den Kopf und stieß ein lautes Heulen aus. Das Dämmerlicht des Gewölbes schmerzte in seinen Augen, die lichtempfindlich waren wie die eines Daevas. Er knurrte und grub seine Krallen in den Boden, kratzte tiefe Furchen in den Stein. Sein Schwanz peitschte hin und her und fegte Dinge von den Regalen. Das Scheppern und Klirren peinigte seine Ohren und er fauchte.
Der Händler wich langsam zurück, bis er an der Wand stand. Er sank langsam auf die Knie und hob flehend die Hände. »Herr«, rief er, »Edler, großmütiger Rakshasa. Verschone mich, der ich dein unwürdigster Sklave bin.« Er presste die Stirn auf den Boden. Amayyas sah sein Zittern, roch seine Angst und beides weckte seinen Durst auf Blut. Wieder brüllte er, machte sich zum Sprung bereit. Er wollte zerfetzen, Fleisch von den zuckenden Knochen reißen, Knochen splittern hören, das heiße Blut trinken.
Lautes Geschrei und Füßetrappeln ließen ihn innehalten. Er warf sich zu der geschlossenen Tür herum. Wenn sie kamen, mit Fackeln, Spießen, Netzen und blanken Schwertern, war er hier gefangen wie ein Kaninchen in der Falle. Er musste das Gewölbe verlassen. Es gab dort draußen noch mehr Wild wie dieses, das er reißen konnte. Wehrlose, dumme Menschen, die ihn erst sahen, wenn es zu spät für sie war. Er leckte sich über die Lefzen. Mit einem tiefen Knurren warf er sich gegen die Tür und brach sie aus den Angeln. Starke Muskeln und kräftige Knochen ließen das Holz splittern wie dünne Zweige. Dann war er im Freien und rannte durch den schmalen Gang. Ringsum erschollen Schreie, Menschen brachten sich in Sicherheit, Stände stürzten um, Türen knallten zu. Lampen fielen zu Boden und setzten Stroh, Stoff und Holz in Brand. Eine Auslage mit getrockneten Kräutern und Getier explodierte in Funken und aromatischen Rauchwolken. Dies war ein unguter Ort, die Luft war dick von Magie und schützenden Zaubern. Er musste einen Weg hinaus finden, ehe einer der Zauber ihn traf und bannte.
Er achtete nicht auf die Zerstörung, die seinen Weg säumte, sondern hetzte mit gebleckten Zähnen in weiten Sprüngen die engen Gänge hinunter. In die unartikulierten Angstschreie der Menschen mischten sich Rufe: »Yuzpalang«, hörte er einen Mann schreien, und andere nahmen den Ruf auf. »Dämonenpanther!« Er sah, wie Männer sich aus ihrer Erstarrung lösten und ihm zu folgen begannen. Männer mit Schwertern, mit Fackeln, Männer mit Utensilien aus Silber, die mit machtvoll glühenden Beschwörungsformeln belegt waren. Er musste sich verbergen, warten, bis der Aufruhr sich gelegt hatte. Zwar liebte er die Jagd ‒ aber nicht, wenn er der Gejagte war.
Hinter ihm schlug ein blendend grüner Blitz ein, dem eine große, dunkelrote Qualmwolke folgte. Dann knallte es erneut, der Blitz traf dicht neben seiner Schulter in eine Wand. Steine, Staub und Mörtel fielen auf ihn herab, während er sich gehetzt herumwarf und in einen unbelebten Seitengang rettete. Eine dritte Entladung streifte seinen Rücken und versengte einen Streifen seiner Haut. Dies war ein Basar voller Magiya. Er war in ein Wespennest gefallen, und nun stachen die lästigen kleinen Biester mit allem, was sie hatten.
Der Gang lief auf ein leeres Gewölbe zu. Eine Sackgasse. Amayyas hörte das Grollen tief in seiner Kehle. Er hatte einige seiner Verfolger abgeschüttelt, aber immer noch waren Schritte und Schreie hinter ihm zu hören und er sah den Widerschein von Fackeln über die dunklen Wände tanzen.
Sein Atem ging schwerer. Er kauerte sich nieder, sammelte Kraft für einen gewaltigen Sprung. Wenn die Meute nahe genug heran war, würde er die ersten von ihnen töten und dann versuchen, die Verwirrung und Panik auszunutzen und auszubrechen. Wahrscheinlich würden sie ihn verwunden, aber das sollte ihn nicht kümmern, wenn es ihm nur gelang zu entkommen.
Die Fackeln kamen langsam näher. Er drückte sich tief auf den Boden, gespannt wie eine Feder. Sein Herz trommelte schnell und hart gegen seine Rippen, und seine Flanken hoben und senkten sich mit seinem hastigen Atem. Das Grollen in seiner Kehle wurde lauter, drohend.
Die Männer kamen heran und verharrten außer Reichweite. Er konnte ihre Angst riechen. Das Licht der Fackeln reichte nicht aus, um die Dunkelheit zu durchdringen, in der er kauerte. Er war sich sicher, dass sie ihn nicht sehen konnten ‒ außer, einer der Magiya war ein Nachtsichtiger oder Geistseher.
Amayyas konnte das Zaubersilber spüren, das sie bei sich trugen, und er roch den Gestank von Schutzzaubern. Seine Tasthaare kribbelten. Wahrscheinlich hatten sie kleine Schutzdaevas beschworen, die seine Kraft ablenken und einsaugen sollten. Er zitterte vor Anspannung. Noch waren sie zu weit weg für einen Überraschungsangriff. Noch ein paar Schritte, und er konnte es wagen, die ersten von ihnen niederzureißen und sich dann einen Weg durch seine Verfolger zu kämpfen.
Er hörte sie murmeln. »Hier ist nichts«, sagte eine tiefe, angstbebende Stimme. »Gehen wir zurück.«
»Aber wir haben ihn doch hier hineinlaufen sehen«, wandte ein zweiter Sprecher zweifelnd ein. »Er muss hier irgendwo sein. Dort hinten, in dem leer stehenden Gewölbe. Der Gang ist dort zu Ende.«
Schweigen. Unruhige Bewegungen. Sie kamen nicht näher, wichen sogar ein Stück zurück. Amayyas wagte nicht, sich zu entspannen.
»Wer will nachsehen?«, fragte ein Dritter. »Du, Jandal?«
»Wir brauchen einen Beschwörer«, sagte der Erste, Ängstliche. »Es ist ein Yuzpalang. Wie sollen wir gegen einen Dämonenpanther etwas ausrichten?«
Amayyas hörte, dass einige begannen, sich Schritt für Schritt rückwärts aus der Sackgasse zu entfernen. »Ein Beschwörer«, hörte er murmeln. »Lass uns jemanden holen, der ihn ...« Die ersten flohen aus dem Gang und nur ein mutiges (oder tollkühnes) Häuflein verharrte und schob sich sogar einen Schritt näher. Das Fackellicht tanzte über die Wände, streifte seine Flanke. Er atmete lautlos und tief ein. Jetzt musste er sie angreifen, sonst war es zu spät. Aber sie waren immer noch ein paar Schritte zu weit entfernt. Selbst mit einem mächtigsten Satz würde er kurz vor ihnen aufkommen und genau in ihre Waffen springen. Er zwang sich, tief geduckt zu verharren.
»Geh du voran, Jandal«, hörte er einen von ihnen sagen. »Du hast den Spieß. Ich folge dir mit dem Bannsilber.«
»Umgekehrt«, widersprach ein anderer. »Erst das Bannsilber. Geh du zuerst, Murdad.«
Keiner bewegte sich.
Amayyas erhob sich lautlos und langsam. Wenn sie nicht zu ihm kommen wollten, dann musste eben er zu ihnen gehen. Im dunklen Schatten machte er einige Schleichschritte auf die zaudernden Männer zu. Möglicherweise reichte dies ja: Er holte Luft und brüllte.
Erschreckte Schreie antworteten ihm. Er sah, dass die Männer bis auf einen kehrtmachten und davonrannten. Der letzte stand erstarrt genau vor ihm und zitterte am ganzen Leib. Amayyas erhob sich, sprang auf ihn zu und riss das Maul auf, um seine Fangzähne zu zeigen. Der Mann kreischte in den höchsten Tönen, ließ seinen Spieß fallen, fuhr herum und flüchtete hinter den anderen her.
Amayyas lauschte und spürte mit zitternden Tasthaaren. Die Luftbewegungen hörten auf. Er war allein in diesem verfluchten Gang. Langsam, behutsam, vorsichtig machte er sich auf den Weg zurück. Er musste dieses Labyrinth verlassen, wenn er den Tag überleben wollte.
Dunkelmond. Es war zu früh, viel zu früh!
Er lief geduckt, lautlos, nutzte die Schatten und sich leerenden Gänge. Es musste wie ein Lauffeuer durch den Basar gegangen sein, dass ein Yuzpalang durch die Gänge streifte. Viele der Gewölbe waren verschlossen, mit Kisten verstellt, die Auslagen hastig eingeräumt, die Lampen gelöscht. Dies war die Gelegenheit, noch einen Fang zu machen, um seinen brüllenden Hunger zu stillen, seinen bohrenden Durst nach Blut zu befriedigen. Ein einsames, einzelnes Opfer, wehrlos, ohne Schutz und Beistand. Jetzt und hier. Er stellte die Ohren auf, richtete zitternde Tasthaare in die kaum spürbaren Luftströmungen. Dort vor ihm bewegte sich jemand, und es waren unsichere, zögernde Schritte, die er spürte. Er roch Furcht. Seine Schritte beschleunigten sich. Durst. Der Durst war unstillbar stark. Er musste trinken, jetzt. Und dann den Hunger besänftigen. Dann einen Platz finden, um zu schlafen. Aber erst das Mahl ...
Er lief schnell und geduckt, ein schwarzer Schatten inmitten der Dunkelheit. Keine Fackeln mehr, keine Lampen. Vor ihm eine helle, zierliche Gestalt, die sich durch den düsteren Gang bewegte. Noch schneller. Muskeln spannten sich zum Sprung.
Der Mensch schien etwas zu spüren oder zu hören. Er verharrte und sah sich um. Eine Menschenfrau, ein junges Mädchen. Das Gesicht ein helleres Oval in der Dunkelheit. Große Augen, schimmernd hell das eine, düster glimmend das andere. Er zögerte. Was war mit diesem Auge? Es schien ihn zu fixieren, aufzuspießen. Sein Blick schmerzte wie ein zu starker Lichtstrahl.
Er fauchte unwillkürlich. Zögerte. Verharrte, wich sogar zurück. Der Blick bohrte sich in sein Inneres, schälte ihn wie eine Zwiebel, ließ sein zitterndes Selbst ungeschützt und nackt im blendenden Licht stehen. Wieder fauchte er, duckte sich, wich weiter zurück.
Das Mädchen drehte sich vollends um und kam auf ihn zu. »Kannst du mir helfen?«, sagte sie. »Ich habe mich verlaufen.«
Er verharrte in geduckter Haltung, legte die Ohren an. Seine Verblüffung war grenzenlos. War dieses Mädchen verrückt? Und was sah sie, wenn sie ihn so anblickte?
Rufe, Schritte, lauter werdende Stimmen. »Lilya Banu«, rief ein Mann. Seine Stimme zitterte. »Lilya Banu, beweg dich nicht. Wir kommen. Wir retten dich!«
Das Mädchen hob hastig den Kopf, schaute über die Schulter. Ihre Stirn runzelte sich unwillig. »Teto«, sagte sie laut. »Wo warst du? Ich sollte dich auspeitschen lassen!«
Amayyas knurrte. Ihm war schwindelig und er fühlte sich erschöpft und krank. Es war viel zu früh für eine vollständige Verwandlung, und in ihm kämpfte seine menschliche Seite mit dem Panther um die Vorherrschaft. Er wollte nicht hier sein. Er wollte nicht mehr flüchten oder gar kämpfen. Wenn das Mädchen ihn aus seinem Blick entließ, würde er eine letzte Anstrengung unternehmen und sich ins Dunkel retten. Dann konnte er abwarten, bis die Aufregung sich gelegt hatte, und durch die Nacht zurück in das Serail schleichen. In seine Gemächer. Sein Gefängnis für die nächsten Wochen. Wieder knurrte er, aber es war ein Knurren der Verzweiflung, nicht der Wut.
Das Mädchen kniete nieder und legte die Hand auf seine Schulter. »Bist du krank?«, fragte sie besorgt. Der düster glimmende Funke in ihrem seltsamen Auge wurde heller. »Du siehst elend aus. Kann ich dir helfen? Ich habe eine Sänfte irgendwo dort draußen stehen.« Sie lächelte. »Wenn ich sie wiederfinde, heißt das.«
Er fühlte die Präsenz der Männer, die langsam herankamen. »Lilya Banu«, rief der eine, den sie Teto genannt hatte, beschwörend. »Hab keine Angst, aber geh langsam zurück. Ganz langsam und vorsichtig. Wir können nichts tun, wenn du so vor ihm kniest.«
»Halt den Mund, Teto«, sagte sie scharf.
Amayyas erhob sich langsam und schwankend. Ihr Blick folgte ihm. Die Männer schrien durcheinander. Einer von ihnen hielt eine Armbrust, die er nun entschlossen hob, um auf ihn zu zielen. Ein dicker Mann fiel ihm in den Arm. »Du wirst sie verletzen«, hörte Amayyas ihn rufen.
»Was habt ihr vor?«, rief das Mädchen und drehte sich um. Dabei zog sie hastig ihren Schleier vors Gesicht. »Wollt ihr den Mann töten? Er hat mir nichts getan! Er ist selbst verletzt, seht doch.«
Amayyas nutzte die Gelegenheit, sich langsam rückwärts ins Dunkel zu schieben.
»Was für ein Mann?«, brüllte einer der Männer. »Hat der Yuzpalang sie verhext?«
»Mädchen, sei vernünftig. Komm her zu uns, weg von der Bestie«, schrie ein anderer. Amayyas ging langsam weiter zurück. Schritt für Schritt. Dann stieß er gegen etwas, das seinen weiteren Rückzug behinderte. Ein kahlköpfiger Mann stand hinter ihm, breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah lächelnd auf ihn herab. Seine Augen schimmerten im schwachen Widerschein der Fackeln wie Opale. Er öffnete die Lippen und eine gespaltene Zunge schob sich witternd hinaus.
»Hast du Ärger, mein Junge?«, fragte Der Naga.
Der Panther warf sich herum, um zu fliehen. Namenlose Angst packte ihn, schüttelte ihn, riss an ihm mit eisernen Klauen. Der Mensch, der er zur Hälfte war, kämpfte verbissen darum, die Oberhand zu bekommen. Dies war der Feind. Er sollte sich auf ihn stürzen und ihn töten!
Er sah, wie das Mädchen mit energischer Hand die Männer, die sie umringten und fortzerren wollten, beiseiteschob und abschüttelte. »Brauchst du Hilfe?«, rief sie. Ihr seltsames Auge war durch den Schleier verdeckt und hatte keine Kraft mehr, ihn zu bannen.
Sie erstarrte. »Oh«, sagte sie verblüfft. Aber auch jetzt war keine Furcht in ihrem Gesicht zu erkennen, nur Erstaunen.
Amayyas stand zwischen ihr und Dem Naga, unfähig, sich zu bewegen. Der Panther wollte fliehen, der Mensch wollte sich auf den Schlangengott stürzen und ihn töten. Der Mensch wollte dem Blick des seltsamen Mädchens entkommen, der Panther sich auf sie stürzen. Amayyas konnte keinen Muskel mehr bewegen.