STURMZAUBER
Es fiel ihr immer noch schwer, das Dorf als ihr neues Zuhause zu betrachten. Es war so ganz anders als alles, was sie bisher gekannt hatte.
Sie war zum Rand des Dorfplatzes gegangen, am Brunnen vorbei, durch das kleine, stachlige Gebüsch, das die Dorfbewohner hartnäckig »Wäldchen« nannten, hatte sich von einem mageren Köter anbellen und von drei nicht weniger knochigen Ziegen verfolgen lassen.
Nun hockte sie im Schatten eines windgebeugten Baumes mit spitzen, harten Blättern und starrte über die sonnenflimmernde, steinige Ebene. Sie vermisste das sanfte Grün der Gärten, den Duft der blühenden Granatapfelbäume, das schmeichelnde Geräusch fließenden Wassers. Hier war alles nur staubig grün und erdbraun, knochenfarben und sandgetönt, rötlich und bräunlich und gelblich, grau und farblos. Keine reinen Farbtöne, kein erholsames Grün für die Augen, kein süßer Duft für die Nase. Scharfer, kalter Wind des Nachts, der nach Frost und Winter roch, und tiefschwarzer, sternenglänzender Nachthimmel; Hitze, glutweißer Sonnenglast und staubig trockener Feuerodem am Tag. Und Staub. Steine und Staub und Sand, magere Hunde, magere Ziegen, magere Hühner, dazu magere Kinder und magere Pflanzen.
Lilya legte das Kinn auf die Knie. Sie hatte Heimweh. Es war so stark, dass sie sogar die Daevas ihres Großvaters in Kauf nehmen würde, wenn er jetzt und hier vor ihr stünde, um sie nach Hause zu holen.
»Nein, würdest du nicht«, sagte sie laut und schob das Schultertuch zurecht, damit es sie vor der Sonne schützte. In den weiten Gewändern der Wüstenleute hatte sie sich zuerst unwohl gefühlt, aber mittlerweile dachte sie schon gar nicht mehr darüber nach, wenn sie einen herabhängenden Stoffzipfel mit einer beiläufigen Armbewegung wieder an seinen Platz warf oder sich mit zwei Fingern den schützenden Schleier vor Nase und Mund zog, wenn wieder eine Staubwolke durch das Dorf geweht wurde.
Sie hörte das Geschrei, ehe sie die Tiere hinter der kleinen Hügelkette auftauchen sah. Die Karawane kehrte zurück. Lilya hatte weder Gwasila noch Tedus zu Gesicht bekommen, seit die beiden sie hier in dieses namenlose Dorf gebracht hatten. Eigentlich hätte sie später mit ihnen weiterreisen sollen bis zu den Bergen, die sie von hier aus als blasse Schemen am Horizont erkennen konnte, aber dann war eine Botschaft des Mannes gekommen, den sie nur »der Drache« nannten ‒ er schien keinen Namen zu haben ‒, und die beiden waren wenig später mit der Karawane abgereist.
»Wir holen dich hier wieder ab«, hatte Tedus ihr versprochen. »Du bleibst solange bei meiner Tochter Tidar. Sie wird sich gut um dich kümmern, kleine Schwester.«
Tidar war eine kleine Frau mit lustigen Augen und einem ebenso lauten Lachen wie ihre Mutter. Es stimmte, sie kümmerte sich gut um Lilya, und Lilya mochte sie gut leiden. Aber dennoch wurde ihr der Aufenthalt hier in der Wüste, unter den Wüstenmenschen, die ihr so fremd waren, mit jedem verstreichenden Tag saurer.
Mehr denn je zuvor vermisste sie Yanis Gesellschaft. Insgeheim hatte sie gehofft, ihn hier in der Wüste wiederzusehen. Das Dorf, aus dem er stammte, lag nur zwei oder drei Tagesreisen weit entfernt. Vor einigen Wochen hatte eine Karawane aus ihrem Dorf dort haltgemacht und Nachrichten mitgebracht. Lilya hatte natürlich nach Yani gefragt, aber er schien nicht mehr in seinem Dorf zu wohnen. Es gab Gerüchte, dass er sich einer Bande von Strauchdieben und Wegelagerern angeschlossen habe; ein anderes Gerücht besagte, er ziehe mit einer Gruppe von Freiheitskämpfern gegen die Soldaten des Shâyas. Beides klang nicht sehr wahrscheinlich, wie sie Yani kannte. Viel eher war ihm in seinem Dorf langweilig geworden und er war in die Stadt zurückgekehrt. Viele Wüstenleute lebten dort ein ärmliches Leben als Bettler und Handlanger.
Lilya seufzte und beschattete ihre Augen. Die Karawane kam in Sicht. Die großen, tellerfüßigen Kamele überquerten gemessenen Schrittes den Hügelkamm und schaukelten langsam auf das Dorf zu.
Aus dem Dorf waren Rufe zu hören. Schrille Kinderstimmen, dann tiefe Antworten. Ein paar halbwüchsige Jungen rannten mit staubaufwirbelnden Schritten auf die Karawane zu und schwenkten jauchzend die Arme.
Lilya stand und blickte den Ankömmlingen entgegen. Sie spürte ihre Anspannung. Tedus hatte sie hier im Dorf zurückgelassen, damit Lilya sich an das Leben in der Wüste gewöhnte und die Sprache der Wüstenleute lernte, bevor sie sich auf die beschwerliche Reise mit der Karawane begeben musste. »In den Bergen spricht kaum jemand Sardara«, hatte die Wüstenfrau ihr erklärt. »Und ich werde nicht die ganze Zeit bei dir sein können. Es ist besser, wenn du dich ein wenig an uns gewöhnst, bevor du dem Drachen gegenübertrittst.«
Sie hatte versucht, Tidar nach dem Drachen zu fragen, aber die junge Frau hatte nur gelächelt und die Achseln gezuckt. »Der Drache ist der Vater der Freien«, war das Einzige, was sie dazu sagen konnte oder wollte. Die »Freien« ‒ so nannte sich das Wüstenvolk selbst.
Ein ganzer Schwarm von schwatzenden Dorfkindern begleitete nun die geduldig dahintrottenden Lasttiere zum Dorfplatz. Der Karawanenführer hatte zwei strahlende Mädchen auf das vorderste Kamel gesetzt und winkte Lilya zu, als er an ihr vorbeikam. Sie neigte grüßend den Kopf. Ihr Blick fuhr an den vorüberschaukelnden Tieren entlang. Sie rochen streng nach Dung und zottigem Fell.
»Lilya«, hörte sie eine Stimme rufen. Tedus war es, die wie eine Königin in ihrem hölzernen Sattel thronte. Sie winkte Lilya zu und lachte mit weiß blitzenden Zähnen.
Lilya ging neben dem Kamel her und blinzelte zu Tedus auf. »Willkommen zu Hause«, sagte sie, sorgfältig akzentuierend. »Hattest du eine gute Reise?«
Tedus klatschte vergnügt in die Hände. »Du klingst wie ein Kind der Freien«, rief sie. »Das ist gut, kleine Drachenschwester. Wir werden in Kürze wieder aufbrechen, und dieses Mal nehmen wir dich mit!«
Sie richtete sich im Sattel auf und rief: »Gwasila!«
Der falkengesichtige Mann löste sich aus der Gruppe von Jungen, die ihn umringten und auf ihn einschwatzten, und kam an Lilyas Seite. »Lilya Banu«, grüßte er mit seinem charakteristischen Lächeln, das nur die Augen betraf.
»Gwasila Agha«, erwiderte sie ernsthaft und neigte den Kopf.
Tedus lachte. »Gwasila«, sagte sie, »lauf und sag den Ältesten, dass wir gleich ins Versammlungshaus kommen.«
Der Wüstenmann legte die Hände vor der Stirn zusammen und ging schnellen Schrittes davon. Seine weiten Kleider flatterten im auffrischenden Wind.
Lilya sah ihm nach. Es erstaunte sie immer noch, dass der aristokratisch wirkende Gwasila, den alle mit solcher Hochachtung behandelten, sich von Tedus herumkommandieren ließ wie ein Dienstbote.
Sie waren auf dem Dorfplatz angelangt und die Kamele ließen sich schreiend und schnaubend zu Boden sinken. Ein großes Getriebe setzte ein ‒ die Lastkamele wurden entladen, die Reitkamele abgesattelt, die ersten Tiere zur Weide geführt. Schwatzen und Lachen schallten über den Platz, Frauen liefen mit Tee und Wasser herbei, andere brachten Brot und Töpfe mit gekochter Hirse; unter den struppigen Bäumen wurde ein Festmahl improvisiert.
Lilya stand ein wenig verloren herum, während Tedus ihre Tochter begrüßte und mit ihrer Enkelin auf dem Arm mit einem alten Mann sprach, der auf seinen Stock gestützt herbeigehumpelt war.
Sie schrak zusammen, denn Gwasila war lautlos herangekommen und stand neben ihr. »Ist es dir gut ergangen?«, fragte er höflich.
»Alle waren sehr nett zu mir«, erwiderte Lilya.
»Das ist gut. Du kommst mit uns, sagt Tedus.«
Lilya nickte. »Ich war noch nie so weit weg von ...«, begann sie und zuckte dann mit den Schultern. »Es ist gleichgültig. Ich bin keine Sardari mehr.«
Seine Hand berührte mit einer beruhigenden Geste ihre Schulter. »Du bist eine Freie. Das ist viel besser.« Seine schwarzen Augen lächelten.
»Noch fühle ich mich nicht so.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Und ich weiß nicht, ob ich es glauben soll. Es gibt dunkle Sardar und helle Wüstenleute ‒ Freie. Warum soll ich nicht eine ...« Sie unterbrach sich und schüttelte ärgerlich den Kopf. Ihre Zeichnungen waren der Schlüssel. Tedus hatte es ihr erklärt. Nur Wüstenleute ‒ und nur eine kleine Anzahl von ihnen ‒ entwickelten diese Zeichnungen, wenn sie heranwuchsen. Tedus hatte allerdings keine Erklärung dafür gewusst, warum diese Zeichnungen bei Lilya so hässlich begonnen hatten, mit Narben und unter Schmerzen. Das schien nicht die normale Art und Weise zu sein, wie so etwas entstand.
Lilya hatte mehr als einmal Tidars Tochter gebadet und gewickelt. Die kleine Tatbirt war auch ein Drachenkind. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man einige zarte Linien an ihrem Hals erkennen, aus denen später die Schnörkel und Kringel der Zeichnungen werden würden. Keine Narben. Keine hässliche, gerötete Haut, kein böses Auge.
Lilya bemerkte, dass Gwasila sie ansah. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht zugehört. Was hast du gesagt?«
»Die Drachenjäger werden bald wiederkommen«, sagte er. »Es wird Herbst. Der Shâya wird wie in jedem Jahr mit einer großen Jagdgesellschaft hierherkommen. Das ganze Dorf wird gehen. Nicht nur du.«
Lilya riss die Augen auf. »Alle?« Ihr Blick huschte zu dem alten Mann, der neben Tedus her auf das Versammlungshaus zuhumpelte, und sie dachte an die kleine Ultafa, die so schwer gestürzt war und immer noch nicht ohne Hilfe sitzen konnte. Wie sollten all diese Leute mit ihren Tieren, ihren Kindern und ihrer Habe den langen, beschwerlichen Weg durch die Wüste schaffen?
Gwasila nickte bedächtig. »Nicht alle werden bis zu den Bergen gehen«, sagte er. »Wir haben ein Versteck auf der Hälfte der Strecke. Es ist ein Notquartier, aber besser das, als hier zu bleiben und sich töten zu lassen.«
»Sie jagen doch nur solche wie mich«, wandte Lilya ein.
Gwasila hob die Schultern. »Wenn bei der Jagd ein paar Sklaven abfallen, stört sie das auch nicht. Und manchmal jagen sie auch einfach alles, was aussieht wie ein Drache ‒ nur, dass sie den anderen Toten nicht die Haut abziehen.«
Lilya erschauderte heftig. Gwasila hob die Hand zum Mund. »Verzeih mir«, sagte er. »Ich hätte das nicht sagen dürfen. Manchmal vergesse ich, dass du ein Drache bist, Lilya Banu.«
Dieses Mal konnte sie über seinen Scherz nicht lachen. »Ich bin keine Banu mehr«, sagte sie heftig. »Ich bin eine von denen, die um ihrer Haut willen gejagt werden. Mein eigener Großvater war entschlossen, mich um meiner Haut willen einem Panther zum Fraß vorzuwerfen.«
Der Wüstenmann machte eine abwehrende Geste. »Rakshasa«, sagte er. »Sie sind keine Feinde unseres Volkes.«
Lilya schnaubte. »Amayyas ist kein Rakshasa«, sagte sie. »Er wurde verflucht. Er ist ein Mensch wie du.«
Gwasila machte ein zweifelndes Gesicht. »Was ist der Unterschied?«, fragte er. »Rakshasa können wie Menschen aussehen, wenn sie es wollen.«
»Aber sie sind Panther«, erklärte Lilya geduldig. »Panther, die wie Menschen aussehen können, sind etwas anderes als ein Mensch, der verflucht wurde, ein Panther zu sein.«
Gwasila nickte langsam. »Du hast recht. Ich bin dumm, Lilya.«
»Bist du nicht«, sagte sie. Seine zerknirschte Miene vertrieb ihr Unbehagen. Sie lächelte ihn vergnügt an. Er kniff ein Auge zu.
Lilya begann zu lachen. »Du stellst dich nur dumm, um mich aufzuheitern«, sagte sie. »Gwasila, du bist raffiniert.«
Er zog die Stirn in Falten und gab sich den Anschein, nicht zu verstehen, was sie meinte. Dann sah er mit zusammengekniffenen Augen über sie hinweg zum Versammlungshaus. »Sie warten auf mich«, sagte er. »Wir sehen uns nachher beim Fest. Hoffen wir, dass unsere Wetterfrau recht behält und der Sturm dort hinten vorüberzieht und das Dorf verschont.«
Lilya hockte sich in den Schatten einer Hütte und sah zu, wie die Karawane sich nach und nach auflöste und dafür die Schar der Menschen wuchs, die Sitzgelegenheiten und kleine Tische mit Köstlichkeiten heranschleppten. Über allem lag der fröhliche Lärm eines Festes ‒ Kindergeschrei, Lachen, der quengelnde Ton einer Nasenflöte, das Scheppern von Geschirr und das Klirren, mit dem etwas zu Bruch ging. Klatschende Hände, stampfende Füße, Stimmen, die ein Lied anstimmten.
Lilya grub ihre Finger in die Haare und leckte sich über die Lippen. Salz und Sand. Die Zeichen auf ihrer Haut begannen zu pochen und zu ziehen, als hätte sie einen Sonnenbrand. Sie wusste, dass die Male nun ganz schwach zu leuchten begannen. Man konnte es nicht sehen, wenn die Sonne so hell schien, aber im Halbdunkel einer Hütte war es so deutlich wie das Schimmern eines Glühwürmchens. Irgendetwas würde geschehen. Bald.
Sie schabte nachdenklich mit den Fingern über ihre Unterarme. Die Male dort juckten wie Mückenstiche. Sie versuchte sich zu erinnern, welche Zeichen sie dort trug. Den Wetterzauber. Den Schutz gegen Ungeziefer. Die Verstärkung, den Bann und den Ruf ‒ alle drei Daeva-Zauber, die sie nicht beherrschte und auch nicht beherrschen wollte. Tedus hatte ihr in der kurzen Zeit, die sie gemeinsam hier im Dorf verbracht hatten, einige der Zauber erklärt, aber auch sie war der Meinung gewesen, dass die Dämonenbeschwörungen etwas waren, was nicht zu Beginn einer Ausbildung durchgenommen werden sollte.
Verstärkung, Bann und Ruf. Diese drei waren es, die jetzt so kribbelten und juckten. Was hatte das zu bedeuten?
Lilya sah unruhig zum Himmel. Dort hinten am Horizont zog wirklich eine Wolkenwand auf. Das war nicht ungewöhnlich, alle paar Wochen fegte ein Sturm über die Ebene und deckte alles mit Sand und Gestrüpp zu. Es wäre schade, wenn gerade heute das Fest davon gestört würde.
Sie berührte den Wetterzauber auf ihrem Unterarm und fuhr das Zeichen mit der Fingerspitze nach. Vor ihrem inneren Auge erschien das Symbol in einem schillernden Blaugrün. Mit einem tiefen Atemzug ließ sie es vor sich in der Luft entstehen. Das Blaugrün glitzerte wie tiefes Wasser, das von der untergehenden Sonne beschienen wurde. Ein Streifen Orange, der in ein sanftes Purpur überging, schnitt quer durch das Zeichen. Es war wirklich ein Sturm, der auf das Dorf zukam.
Einen winzigen Moment lang schweiften ihre Gedanken ab. Woher kam ihre Erinnerung? War sie jemals am Großen Meer gewesen und hatte die Sonne über dem Wasser untergehen sehen? Sie hatte Mohor nie verlassen ‒ oder doch?
Lilya schob den ablenkenden Gedanken ärgerlich von sich. Das beschworene Zeichen war verblasst und schwebte nur noch wie ein Schemen vor ihren Augen. Sie gab ihre Konzentration und Kraft hinein und ließ es erneut aufleuchten. Dunkelgrün und strahlend war es jetzt und blau, rote und orangefarbene Blitze durchzuckten die Oberfläche. Lilya meinte, fernen Donner zu hören, und auf ihrer Zunge prickelte der scharfe Geschmack elektrischer Entladungen. Die Härchen auf ihrer Haut richteten sich auf. Gewitter und Sturm. Wenn sie das Zeichen jetzt entließ, würde sich die Naturgewalt gleich hier über dem Dorfplatz entladen. Sie musste es jetzt umkehren, und das war etwas, das sie noch nicht vollkommen beherrschte. Vielleicht hätte sie doch lieber gewartet, bis Tedus ihr beistehen konnte ‒ aber für diesen reuevollen Gedanken war es jetzt zu spät. Der Zauber war begonnen, sie musste ihn allein vollenden.
Mit einem entschiedenen Ruck wandte sie das Zeichen um. Wo oben gewesen war, war jetzt unten. Rechts verkehrte sich nach links. Dunkles Blau wurde grelles Orange, das schimmernde Grün verwandelte sich in ein sattes Blutrot. Die Blitze zuckten nun von unten nach oben, sie glitzerten in einem kalten Azur und Gelbgrün.
Lilya entließ den angehaltenen Atem und schob mit ihm das Zeichen zum Horizont, auf die sich auftürmenden Wolken zu. Wenn sie es richtig gemacht hatte, dann ...
Sie japste, denn unvermittelt legte sich eine Hand auf ihren Arm. »Lilya, kommst du zum Fest?«
»Nicht jetzt«, wehrte sie atemlos ab. Sie sprach nicht weiter, hielt das Zeichen im Blick. Es entfernte sich, wurde größer und gleichzeitig verschwommener. Wie eine Wolke aus wirbelnden Farben trieb es davon, schwoll an, bis es vom Boden bis zum Himmel reichte. Es traf auf die ersten Sturmausläufer, erzitterte, verlor weiter an Substanz. Als es die Wolken berührte, begannen diese zu kochen. Blitze zuckten zum Boden, Donner grollte.
»Oh, was für ein Glück«, hörte sie das Mädchen sagen, das neben ihr stand und ihren Blicken folgte. »Wenn der Sturm hierher gekommen wäre, hätten wir was erlebt.«
Lilya nickte, sie hielt immer noch den Atem an. Das Unwetter tobte am Horizont über die Ebene. Sie konnte sehen, wie trockene Büsche ausgerissen und über den steinigen Grund getrieben wurden. Sand fegte in langen Wellen durch die Luft und verdunkelte den Himmel. Sie konnte den Sturmwind heulen und den Donner auf die Erde niederschlagen hören, so nah war das Unwetter schon ans Dorf herangerast. Aber ihr Zauber hielt es fern. Sie konnte spüren, wie er an ihr zerrte und wie er ihre Kraft benutzte, um den Sturm zu zähmen. Sie begann zu zittern.
Das Mädchen, es war eine von Tedus’ Nichten, stieß einen erschreckten Laut aus. »Du bist das? Ganz alleine?«, rief sie. »Ich hole Hilfe!«
Lilya sah im Augenwinkel, wie sie davonrannte, auf das Versammlungshaus zu. Ihr Zittern wurde stärker. Der Sturm war zu mächtig für ihre noch ungeübten Kräfte. Tedus hatte ihr eingeschärft, niemals einen Zauber zu beginnen, den sie nicht abschätzen konnte. So ein Sturm war eine der stärksten Kräfte neben der Zeit. Sie war ein Sandkorn in der Gewalt des Windes, der Wolken und der Blitze ...
Lilya klammerte sich an einen Pfahl, der neben dem Haus in den Boden gerammt war. Ihre Fingernägel bohrten sich in das rissige Holz. Sie hatte den Mund geöffnet und schrie lautlos gegen das Tosen des Sturmes an. Noch konnte sie ihr Zeichen sehen und fühlen. Es flackerte, aber es hielt das Gewitter fest umschlossen. In dem Kessel tobten inzwischen Gewalten, die ausreichten, um Felsen aus dem Boden zu reißen und den Himmel in Brand zu setzen. Lilya fürchtete, entzweigerissen zu werden, wenn sie das Zeichen weiter zu beherrschen versuchte. Sie musste loslassen, aber wenn sie das tat, würde der wütende, entfesselte Sturm mit einer Gewalt über das Dorf herfallen, das es ganz und gar zerstörte.
»Bist du nun mutig oder tollkühn?«, fragte eine nachdenklich-amüsierte Stimme. »Ich bin beinahe versucht, mir den Ausgang dieses Unternehmens anzusehen.«
Lilya wagte nicht, den Blick von dem tobenden Unwetter zu nehmen, aber sie hatte die Stimme erkannt. Sie schmeckte Blut auf der Lippe. »Naga«, stieß sie gepresst hervor, »du kommst zur Unzeit. Wenn du mir ‒ nicht helfen ‒ kannst ...«, sie sprach nicht weiter, sondern griff mit letzter Kraft hinaus, um ihr erlöschendes Zauberzeichen noch einmal aufflackern zu lassen, »... dann verschwinde ‒ und störe ‒ mich nicht«, ergänzte sie keuchend.
Das zischende Lachen klingelte in ihren Ohren. »Freches Ding«, sagte Der Naga anerkennend.
Eine körperlose Hand schloss sich um ihr Handgelenk. Eine Welle von Kraft ergoss sich in ihr Inneres und ließ sie in die Knie gehen. »Kanalisiere!«, befahl der Schlangengott.
Sie hatte es noch nie getan, aber sie wusste, was er wollte. Mit weit geöffneten Augen fixierte sie ihr Zeichen und die Urgewalten, die davon am Platz gehalten wurden. Ein Feuerstrom schoss durch ihren Körper und hinaus durch die feinen Verbindungen, die sie an das Zauberzeichen fesselten. Sie blickte in das grelle Aufflammen und musste die Augen schließen, um nicht geblendet zu werden. Selbst durch ihre geschlossenen Lider drang das Licht des verstärkten Zaubers. Ihr Zeichen strahlte weiß glühend auf, dehnte sich aus und zog sich dann zu einem schmerzhaft hellen Punkt zusammen, den tobenden Sturm in sich einschließend. Lilya öffnete einen Spaltbreit die Augen. Ein heftiger, lauter Knall erschütterte die Ebene und ließ Risse in der Wand hinter ihr entstehen. Staub und Stroh wirbelten auf und nahmen ihr für einen Moment die Sicht.
Dann klärte sich die Luft, ein scharfer Windzug trieb den Staub davon und der Sturm war verschwunden.
Lilya sackte in die Knie. Ihr Atem ging so hastig, als wäre sie gerannt. Sie blickte auf, um Dem Naga zu danken, aber da war nur der Pfosten neben ihr, an den sie sich immer noch klammerte. Ihr wurde mit einem Mal schwindelig und übel.
»Lilya!« Rufe und auf den Boden klatschende Füße. Jemand packte sie bei den Schultern, um sie aufrecht zu halten. Lilya schloss die Augen und ließ zu, dass sie hochgehoben, in eine Hütte getragen und auf ein Lager gebettet wurde. Ein kühler Lappen wischte über ihr Gesicht, jemand massierte ihre Hände, Wasser träufelte auf ihre Lippen, eine Decke legte sich auf ihre vor Kälte und Erschöpfung bebenden Glieder. »Es geht mir gut«, wehrte sie stammelnd ab. »Lasst mich nur einen Moment ausruhen.«
Jemand scheuchte mit ein paar Worten die freundlichen Leute aus der Hütte. Tedus. Die Drachenfrau legte ihre großen Hände auf Lilyas Stirn und Brust. »Kind, das hätte aber böse ausgehen können«, sagte sie. Ihre tiefe, raue Stimme klang besorgt. »Ganz allein einen Sturm beschwören. Wie bist du denn auf diese verrückte Idee gekommen?«
Lilya öffnete die Augen und sah in das dunkle Gesicht, das sich über sie beugte. Tedus’ Zaubermale leuchteten. Die Drachenfrau schien in großer Sorge zu sein.
»Das hat Der Naga auch gesagt«, murmelte Lilya. »Tollkühn. Er wollte eigentlich auch ›verrückt‹ sagen.« Sie kicherte erschöpft und fiel unvermittelt in einen traumlosen Schlaf.