ZAUBERZEICHEN
Lilya drängte den ersten, kalten Hauch von Panik beiseite. Ruhig, dachte sie und drehte sich mit dem Panther, behielt ihn im Blick. Ruhig. Sieh ihn dir an. Du kennst dieses Tier. Es ist der Prinz ...
Während sie das dachte, verschob sich ihr Blick, schärfte sich und ließ gleichzeitig die Umgebung verschwimmen. Nur der Panther war deutlich gezeichnet, und hinter ihm, durch ihn hindurch, konnte Lilya die Gestalt des Prinzen erkennen. Mager, rastlos, mit einem Blick, aus dem Wahnsinn und Blutrausch sprachen.
»Amayyas«, sagte sie halblaut. »Prinz Massinissa. Sieh mich an.«
Der Panther fauchte laut und schlug mit dem Schwanz. Der Prinz wandte ihr das Gesicht zu, sah ihr in die Augen. Sein Blick war starr. Ohne zu blinzeln, erwiderte er ihren Blick. Kein Begreifen und kein menschlicher Verstand waren darin zu erkennen.
Lilya leckte sich über die trockenen Lippen. Ihre Finger rieben über ihre Arme, über die Schultern. Tasteten die Zeichen ab, die plötzlich alle eine Bedeutung besaßen. Feuer und Blut. Schlaf und Heilung. Schutz und Verwirrung. Ordnung und Schnelligkeit. Tod und Verwandlung. Sie tastete, rieb, fühlte und ihre Gedanken rasten.
Die Kreise des Panthers wurden enger, sein Atem lauter. Sie konnte ihn riechen, streng, scharf, wild. »Massinissa!«, sagte sie laut, und etwas von dem kalten Zorn, den sie empfunden hatte, lag in ihrer Stimme. »Sieh mich an, Prinz! Erkenne, was du bist! Erinnere dich, was du warst!«
Sein Gesicht war leer, aber sie glaubte tief in seinen Augen etwas flackern zu sehen. Einen Funken, der nicht Panther war. Wieder rief sie seinen Namen.
Das hungrige Gesicht des jungen Mannes zuckte. Er bewegte die Lippen, wortlos. Er bleckte die Zähne, legte dann den Kopf in den Nacken und stieß ein Knurren aus. Während dieser Laut im Zimmer widerhallte, löste sich die Gestalt des Prinzen auf und nur noch der Panther war da. Er war so nahe gekommen, dass sie ihn fast hätte berühren können. Sein gelber, wilder Blick fixierte sie. Er hechelte vor Erregung.
Lilya hielt seinen Blick fest, während ihre Finger auf ihrem Schlüsselbein über ein Zeichen strichen, das sie besser kannte als die anderen. Sie hatte es einst in ihr Büchlein gezeichnet. Mit angehaltenem Atem befühlte sie es erneut, tastete seine Kontur ab. Es schien unter ihren Fingerspitzen zu vibrieren. Lilya stieß den Atem aus und hob die Hand. Sie zeichnete die Linien vor sich in die Luft, und für einen winzigen Moment erschien das feurige Abbild des Zeichens zwischen ihr und dem Panther. Dann schleuderte sie ihre Finger in seine Richtung, als wolle sie Wassertropfen von der Hand schütteln, und das Zeichen flog auf den Panther zu und traf seine Stirn. Dort haftete es, leuchtete grellrot auf und sank in den Kopf der Werkatze.
Der Panther blieb stehen, als hätte ihn ein Schlag getroffen. Er schüttelte benommen den Kopf. Sein Maul öffnete sich, und Lilya konnte seine Zunge sehen, die sich gähnend rollte.
Der Panther sank auf die Hinterbeine und legte sich langsam auf den Boden. Sein Blick ließ Lilya nicht los, aber er wirkte benommen und verwirrt. Alle Mordlust war daraus verschwunden.
»Massinissa?«, sagte sie leise und ließ sich vorsichtig auf ein Knie nieder. Sie streckte die Hand aus. »Prinz?«
Der Panther seufzte und schloss die Augen. »Lilya«, sagte er undeutlich. »Was ist geschehen?«
»Das Zeichen, das wilde Tiere zähmt«, erwiderte sie mit einem erleichterten Schluchzen. »Das Amulett. Es hat gewirkt, obwohl ich es nicht bei mir trage.« Sie begann hilflos zu lachen. »Ich trage es jetzt wohl auf mir. Amayyas, was hat das alles nur zu bedeuten?«
Der Pantherprinz legte erschöpft den Kopf auf die Vorderläufe. »Ich bin so hungrig, dass ich kaum denken kann«, erwiderte er. »Lilya, du solltest nicht hier sein. Ich hätte dich töten können ...« Er riss die Augen auf und hob den Kopf. »Der Beg«, sagte er heiser.
Lilya schauderte und zog den weichen Djilbab enger um die die Schultern. »Er hat mich hierher gebracht, damit du mich frisst.«
Der Pantherprinz sah sie ungläubig an. »Er ist dein Großvater!«
Sie biss sich auf die Lippe. »Ich bin mir dessen nicht mehr sicher«, sagte sie mit schwankender Stimme. »Aber ich weiß, was er getan hat.«
»Du musst gehen«, sagte der Panther. Er schob sich langsam rückwärts, von Lilya weg. »Bitte, Lilya. Du musst gehen. Schnell!«
Lilya stand schon an der Tür und rüttelte an der Klinke. »Sie ist verschlossen«, rief sie. »Wahrscheinlich verriegelt. Amayyas, was soll ich tun?« Die Angst, die sie bis jetzt in einen Winkel ihres Bewusstseins verbannt hatte, brach sich mit Macht ihren Weg und ließ Lilya am ganzen Leib erbeben. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das Zauberzeichen, wo hatte sie es gefunden? Wie hatte es ausgesehen? Sie musste es erneut beschwören, aber sie konnte sich nicht an seine Form erinnern; es war, als wäre es vollkommen aus ihrem Gedächtnis gelöscht worden. Ihre Finger fuhren zitternd über ihre Arme, ihre Schultern, ihre Wangen.
Der Panther duckte sich zum Sprung. Sein Fauchen und Knurren hatten erneut jeden menschlichen Klang verloren. Er fixierte sie mit großen, dunklen Pupillen, bereit zum Angriff.
Die Türriegel schnappten auf. Lilya fuhr zusammen und auch der Panther wurde für einen Moment abgelenkt.
Aspantaman trat ein und gab mit der Tür Lilya Deckung, die sich beinahe ohnmächtig vor Erleichterung dahinter an die Wand presste. Sie hörte, wie der Erzieher mit sanfter, dunkler Stimme den Prinzen anrief. »Ruhig, Amayyas. Ganz ruhig. Schau hier, ich habe dir etwas zu essen gebracht.« Die Tür schloss sich wieder und Lilya tat einen kleinen, erschreckten Ausruf.
Aspantaman zuckte zusammen, aber er wandte sich nicht um. Er sah nach wie vor den Pantherprinzen an, der mit peitschendem Schwanz und angespannten Muskeln auf dem Boden kauerte. »Ruhig, mein Junge«, sagte Aspantaman beherrscht. »Ich bin es. Und hier ist dein Essen. Sieh her.« Er ging langsam in die Knie, ohne den Panther aus den Augen zu lassen, und schob die Platte mit Fleischbrocken, die er in den Händen hielt, mit einer ruhigen, gleichmäßigen Bewegung auf den Panther zu. Dann richtete er sich halb wieder auf, tat einen Schritt rückwärts und deckte Lilya mit seinem breiten Rücken. »Bleib ruhig, wer immer du bist«, hörte sie ihn sagen. »Er wird mir nichts tun.« Die Gewissheit in der Stimme des Obersteunuchen ließ die Anspannung aus ihren verkrampften Gliedern weichen. Sie seufzte lautlos und sackte gegen die Wand.
Sie hörte, wie der Prinz sich über das Fleisch hermachte, es zerriss und hinunterschlang. Ihr wurde übel. Das war es, was ihr Großvater für sie geplant hatte. Warum nur?
»Ich bringe dich jetzt hinaus«, hörte sie Aspantaman murmeln. »Bleib hinter mir, was immer auch geschieht.« Er schob sich schrittweise zur Tür. Dann blieb er abrupt stehen und hob abwehrend die Hände. »Amayyas«, sagte er laut. »Ich bin es. Aspantaman. Dein Freund.«
Lilya konnte wieder denken. Sie tastete fahrig über ihr Schlüsselbein, fand das Zeichen, fühlte, wie es in ihre Finger glitt und an den Fingerspitzen kribbelte. Sie schob sich an dem Erzieher vorbei, der erschreckt nach ihr greifen und sie wieder hinter sich drängen wollte, machte sich frei und schickte das Zeichen wie zuvor auf den Prinzen, der geduckt vor ihnen stand. Dieses Mal gewann es stärkere Festigkeit und Leuchtkraft als zuvor, war größer und löste sich mit einem scharfen Prickeln von ihrer Hand.
»Was ist das?«, fragte der Erzieher, der dem Zauberzeichen misstrauisch und gespannt mit den Augen folgte. »Kann es ihm schaden?«
»Nein, nein«, flüsterte Lilya unsicher. Das Zeichen sah verändert aus. Hatte nicht vorher ein gerader Strich an der Stelle gesessen, wo jetzt ein einwärtsgebogener Haken war? Und dort, dieser Schnörkel, war er vorher auch schon da gewesen?
Wieder flammte das Zeichen auf, als es den Kopf des Panthers erreichte. Es fraß sich durch Pelz und Fleisch und versank.
Der Panther zuckte und legte die Ohren so flach an den Kopf, dass sie beinahe verschwanden. Wellen liefen durch sein Fell, seine Muskeln spannten sich und wurden wieder locker. Er verdrehte die Augen, riss das Maul auf, schnappte nach Luft. Seine Krallen scharrten krampfhaft über den Boden.
»Du hast gesagt, es schadet ihm nicht!«, brüllte der Erzieher und packte Lilya. Er riss sie zu sich herum und rief: »Du bist es? Lilya?«
Seine Hände brachen ihr beinahe die Knochen. Sie schrie auf und versuchte, sich freizumachen, aber die kräftigen Finger des Eunuchen gruben sich noch tiefer in ihr Fleisch. Er schüttelte sie unsanft. »Mach es rückgängig, was auch immer du mit ihm angestellt hast, du Hexe!«
»Lass sie los, Aspantaman«, sagte eine müde Stimme.
Der Erzieher lockerte erschreckt seinen Griff und fuhr herum. Lilya rieb sich die schmerzenden Arme und blickte verblüfft auf den Prinzen, der in der Mitte des Zimmers hockte, zwischen Fleischfetzen und blutbesudelten Kissen. Sie blinzelte mehrmals, um zu prüfen, ob ihr besonderes Auge ihr wieder beides zeigte, Prinzen und Panther, aber das Bild blieb scharf und die Raubkatze war verschwunden.
»Amayyas«, rief der Eunuch erstickt aus. Er fiel vor dem jungen Mann auf die Knie und umarmte ihn. »Du bist ein Mensch!«
»Es sieht so aus«, erwiderte der Prinz. Er schaute zu Lilya auf und griff nach einer blutbefleckten Decke, in die er sich hastig hüllte. Lilya spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde, aber sie wandte den Blick nicht ab.
»Hat Kobad das bewirkt?«, fragte Aspantaman, dem Tränen in den Augen standen. »Muss ich ihn rufen, damit er sein Werk sehen und sich dafür loben lassen kann?«
»Nein!«, riefen Amayyas und Lilya wie aus einem Mund. Der Erzieher sah verblüfft von seinem Schützling zu Lilya.
»Nein?«
»Aspantaman, wir haben keine Zeit«, sagte der Prinz ungeduldig. Er rieb sich über die Stirn und hinterließ einen blutigen Streifen. »Das hier wird keinen Bestand haben. Es ist vorübergehend. Ich weiß es. Ich kann es in jeder Faser meines Körpers spüren. Meine Knochen schmerzen, die Verwandlung wird bald geschehen.«
Der Eunuch nickte enttäuscht. »Was ist geschehen?«
»Nicht jetzt«, erwiderte der Prinz scharf. »Hör mir zu, Aspantaman. Ich benötige ein paar Dinge: Ein Gewand, das Lilya passt. Hole etwas Unauffälliges aus der Kleiderkammer der Bediensteten. Dann geh in die Küche. Sieh nach, ob Abfälle da sind, Knochen, Blut, Eingeweide. Meinetwegen ein geschlachtetes Lamm oder Huhn. Wir müssen den Anschein hinterlassen, dass ich Lilya gefressen habe.« Er schloss mit einem Schmerzenslaut die Augen. Lilya sah, dass der Obersteunuch ein ganzes Bataillon Fragen hinunterschluckte. Er nickte. »Was noch?«
»Das ist es. Lauf, Aspantaman. Spute dich.« Der Prinz kauerte sich nieder und barg das Gesicht in den Händen.
Der Eunuch zögerte nicht. Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Laut hinter ihm. Lilya kniete, ehe sie darüber nachdenken konnte, was sie tat, neben dem Prinzen und legte den Arm um seine Schultern. »Was hast du vor?«, fragte sie.
Amayyas atmete schwer. »Du musst verschwinden«, sagte er. »Kobad wird es sonst beim nächsten astrologisch günstigen Zeitpunkt erneut versuchen. Er will seine Belohnung.«
Lilya starrte ihn an. Sie holte tief Luft. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, flüsterte sie.
Amayyas nahm ihre Hand und drückte sie so fest, dass es schmerzte. Seine Augen waren verschleiert. »Wenn ich dich fresse, bin ich frei«, sagte er heiser.
Lilya schluckte einen Kloß hinunter. »Ich wusste nicht, was er vorhat. Gibt es keinen anderen Weg?«
Der Prinz schüttelte den Kopf. Er sah sie so durchdringend an, dass sie fröstelte. »Wie hast du das gemacht? Du hast mich zurückverwandelt, Lilya.«
Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Die Zeichen, die auf mir erschienen sind, besitzen anscheinend Zauberkraft.« Sie lächelte schief. »Wahrscheinlich sind sie es, die dich erlösen, wenn du mich ...« Sie konnte es nicht aussprechen.
Sein Gesicht belebte sich. Er packte ihre Schultern und musterte sie. »Sie sind wunderhübsch, so hübsch wie du«, murmelte er lächelnd. »Aber wie kann es sein, dass sie Zauberkraft besitzen?«
Lilya erwiderte sein Lächeln. Seine Augen waren so tief und grün, wie der Himmel es manchmal in der Stunde der Dämmerung war. Seine Hände hielten sie mit starkem Griff fest, aber ohne ihr wehzutun, wie vorher die des Erziehers. »Ich weiß es nicht«, sagte sie wieder. »Aber mein Großvater will nicht, dass jemand außer ihm sie sieht.« Sie sah, wie das Lächeln aus seinem Gesicht schwand. »Was wirst du nun tun?«, fragte sie beklommen. »Glaubst du, dass Großvater einen anderen Weg finden wird, dich von dem Fluch zu befreien?«
Er wandte den Blick ab. »Nein«, sagte er. Es klang endgültig. »Ich werde wohl für den Rest meines Lebens verflucht bleiben. Wenn ich es aushalte.« Er zuckte die Schultern. »Nur die Dunkle Nacht kann mich befreien, hat Der Naga gesagt. Wahrscheinlich hätte es ohnehin nicht funktioniert, wenn ich dich fresse, und dann hätte ich auch noch deinen Tod auf dem Gewissen.«
Lilya schrie auf und schlug die Hand vor den Mund. »Oh nein«, rief sie aus. »Aber ich kann es nicht, Amayyas. Ich fürchte mich davor, zu sterben.«
Er sah sie zornig an. »Ich habe doch schon gesagt, dass ich dich nicht töten werde. Warum klagst du?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Die ›Dunkle Nacht‹«, sagte sie verzweifelt. »Das ist doch mein Name. Lilya bedeutet ›Dunkle Nacht‹!«
Er riss die Augen auf. »Also bin ich wahrhaft verflucht«, sagte er hoffnungslos.
Lilya nahm seine Hand und dieses Mal legte er seine Arme um sie. Sie drängten sich aneinander, suchten Trost und fanden Wärme. Lilya fühlte die Krämpfe, die seinen Leib schüttelten, und fuhr mit der Hand über ihre Zauberzeichen. Vielleicht fand sie etwas, das seine Qualen zu lindern vermochte.
Aspantaman kehrte endlich zurück und legte zwei Bündel vor den Prinzen auf den Boden. »Ich hatte ein wenig Mühe, an die Abfälle zu kommen«, sagte er.
Amayyas reichte Lilya die Kleider, die der Eunuch mitgebracht hatte, und sichtete die Fleischabfälle. Er rümpfte die Nase. »Als Panther fände ich sie wahrscheinlich appetitlich«, sagte er scherzend. »Aber der Mensch findet, dass das Zeug erbärmlich stinkt.«
Aspantaman hockte vor ihm, die Hände auf die Knie gestützt. »Was hast du vor?« Er musterte den Prinzen, während dieser ihm in kurzen Worten seinen Plan erklärte. »Du bist immer noch ein Mensch«, sagte er dann.
Amayyas hörte auf, mit spitzen Fingern die blutigen Abfälle zu sortieren, und erwiderte den Blick des Eunuchen. Er schüttelte sacht den Kopf. »Gib dich keiner falschen Hoffnung hin, mein Freund. Der Fluch wühlt in meinen Eingeweiden, rauscht in meinem Blut und dröhnt durch das Mark meiner Knochen. Ehe der Morgen graut, bin ich wieder ein Tier.«
Aspantaman senkte enttäuscht den Blick. »Wie du es sagst, mein Prinz«, erwiderte er tonlos.
Amayyas seufzte und rieb sich erschöpft die Augen. »Der Morgen kommt näher«, sagte er. »Wenn wir nicht wollen, dass der Beg Lilya hier unversehrt vorfindet, müssen wir uns beeilen.«
Er stand schwankend auf. Ein Zittern wie ein Kälteschauer ließ ihn erbeben und seine Zähne klappern. »Verflucht«, sagte er. »Ausgerechnet jetzt ...« Der Satz blieb unvollendet, denn ein weiterer, qualvoller Krampf zwang ihn zu Boden. Er wand sich stumm, und Lilya musste mit schreckgeweiteten Augen mitansehen, wie erneut aus einem Menschen ein Panther wurde.
Aspantaman wandte den Blick ab. »Zieh die Gewänder an, die ich mitgebracht habe, und gib mir deinen Djilbab«, sagte er.
Lilya tat, was er verlangte. Sie sah zu, wie der Eunuch ihren Djilbab durch die blutigen Fleischfetzen und Knochenstücke zog, die auf dem Boden verteilt lagen.
Amayyas, der inzwischen wieder seine Panthergestalt angenommen hatte, kam taumelnd auf die Beine. »Solange ich noch denken kann«, sagte er undeutlich, »lass mich das Gewand zerreißen, damit es richtig aussieht. Verstreu die Knochensplitter, zertritt die größeren Knochen. Lass mich noch etwas von dem Fleisch fressen, den Rest musst du wieder mitnehmen. Ich hatte die Anweisung, Lilya ganz und gar aufzufressen.« Sein Lachen klang wütend.
»Was mache ich mit ihr?«, fragte Aspantaman ruhig, während er tat, was der Prinz verlangt hatte.
Der Panther zerrte widerwillig an einem Brocken Fleisch herum. »Eklig«, sagte er. »Noch bin ich mehr Mensch als Tier. Ich möchte mich übergeben, Aspantaman.« Er atmete tief und bekämpfte seine Übelkeit. Dann sprach er hastig weiter: »Bring sie fort von hier. Versteck sie irgendwo im Haus. Lilya, wohin könntest du fliehen? Hast du noch Verwandte außerhalb der Stadt, möglichst ohne eine Verbindung zu Kobad?«
Lilya stand wie erstarrt. Jetzt erst begriff sie mit voller Wucht, dass sie nicht wieder nach Hause zurückkehren konnte. Niemals wieder. Sie würde ihr Zimmer nicht mehr wiedersehen, Ajja würde sie für tot halten, Tante Gulzar würde vielleicht sogar ein paar Tage um sie trauern ‒ während sie selbst heimatlos durch die Welt irren musste, denn sie hatte niemanden, zu dem sie sich flüchten konnte.
Sie wurde sich der beiden Augenpaare bewusst, die erwartungsvoll auf sie gerichtet waren. Mit einem resignierten Lächeln antwortete sie: »Ich habe niemanden außer Kobad.«
»Verflucht«, knurrte der Pantherprinz. »Dann musst du eine Lösung dafür finden, Aspantaman.«
Der Obersteunuch zuckte ebenso resigniert die Achseln wie zuvor Lilya. »Das werde ich.«
Das Gemach erschien mittlerweile hinreichend blutbeschmiert und verwüstet. Der Prinz sank mit einem erschöpften Seufzen zu Boden und sagte: »Geh jetzt, Lilya. Und danke, dass du versucht hast, mir zu helfen.«
Sie zögerte, schon auf dem Weg zur Tür, und kniete noch einmal neben ihm nieder. »Ich finde einen Weg, dich von diesem Fluch zu erlösen«, sagte sie. »Ich bin die Dunkle Nacht, auf die du hoffst. Ich verspreche es dir!«
»Versprich nichts«, sagte der Panther müde. »Und jetzt rette erst einmal deine eigene Haut. Viel Glück, Lilya.«
Sie stand auf und ging zum wartenden Aspantaman. »Viel Glück, Amayyas.«