52. Ein Überlebender – 226 Tage bis zum
Bogen
Zwei Stunden waren vergangen, seitdem sich im Maschinenraum der „Beautiful Decision“ eine folgenschwere Detonation ereignet hatte. Mit dem Ausfall des Antriebs glitt das Schiff ohne Steuermöglichkeit durchs All. Das Rettungsteam hatte Hydraulikzangen und Schneidbrenner benötigt, um zu den eingeschlossenen Crewmitgliedern Jerris, Waschquet und Manatec vorzudringen.
„Kümmert euch um Tom, die anderen haben Zeit!“, wies Dr. Huttner an, nachdem sie die drei untersucht hatte.
Der Co-Captain griff dem verletzten Maschinentechniker unter die Achseln und Jack, der den anderen inzwischen durch die aufgebrochene Tür gefolgt war, nahm Tom bei den Füßen. Vorsichtig trugen sie ihn aus dem Maschinenraum und legten ihn außerhalb auf eine Hoover-Trage. Auf Toms Oberkörper, Armen und Gesicht waren orangene Flecken zu sehen. Eine Substanz gleicher Farbe klebte in den Haaren und Spuren hafteten an den Schuhen.
„Und los!“, wies Elodie an.
Schwester Nali übernahm die Steuerung der Trage, die Ärztin folgte eiligst.
Unerwartet schlug Tom seine Augen auf und lächelte die beiden entspannt, wenngleich sichtlich müde, an.
„Was ist denn passiert?“ Er versuchte sich zu strecken und richtete sich auf. „Es schmerzt!“
„Bleib ganz ruhig liegen! Es gab eine Explosion am Antrieb.“
Behutsam sank er zurück. „Ich fühle mich etwas schwindlig, sonst geht es eigentlich. Ahhh – und die Rippen tun weh!“
„Wir machen einen Check auf der Krankenstation, dann sehen wir weiter.“
Tom nickte. Plötzlich beugte er sich erneut hoch.
„Vorsicht! Hinter der Ecke liegt ein Sack Schmutzwäsche im Gang.“ Tom schaute unsicher zu den beiden Frauen, als wolle sein Blick fragen: ‚Was habe ich da gerade gesagt?’
In diesem Moment rammte Nali mit dem Hoover bereits den vorausgesagten Wäschesack. Sie bremste abrupt und schaute verwundert zu Tom.
„Huch! Der Sack muss bei der Explosion aus einem der Wäscheschränke am Ende des Gangs geflogen sein. Ich war vorhin in Eile, als ich den Hooverschlitten zum Maschinenraum transportiert habe. Da fehlte mir die Zeit, ihn wegzuräumen. Inzwischen hatte ich den Wäschesack ganz vergessen. Tom, woher wusstest du davon?“
Die Schwester schaute ungläubig zu Elodie, die ebenfalls darüber verwundert war, was die drei gerade erlebt hatten.
„Verrückt, was für ein Zufall! Oder kannst du durch Wände schauen?“
„Keine Ahnung. Ich habe den Sack vor wenigen Sekunden so real vor meinen Augen gesehen, als würden wir augenblicklich damit zusammenstoßen, und gleich danach passierte das Ganze in der Wirklichkeit.“
„Ich denke, es wird Zeit für einen gründlichen Gesamtcheck. Schauen wir mal, was dir im Maschinenraum widerfahren ist“, sprach Elodie, während sie in der medizinischen Station ankamen.
Tom wechselte aus eigener Kraft und mit schmerzverzerrtem Gesicht vom Hoover auf den Behandlungstisch und Elodie ließ den digitalen Körperscanner die benötigten Aufnahmen anfertigen. Wenige Sekunden später erschien Toms gesamter Körper in viele Millionen Pixel aufgelöst auf dem Bildschirm des Behandlungszimmers. Darstellungen der Körperschichten, Muskelpartien, Blutbahnen und des Knochenbaus lieferten dem fachkundigen Beobachter schnell ein umfassendes Bild des Patienten. Einige Bereiche am Brustkorb, am linken Oberschenkel und der rechte Arm leuchteten gelbumrandet auf.
„Glückwunsch! Keine rot markierten Körperteile, nichts, aber auch gar nichts ist gebrochen oder angerissen. Die gelben Anzeigen deuten auf Prellungen, Zerrungen und Überdehnungen hin. Das heilt in den nächsten Tagen und Wochen von alleine. Im Vergleich zu deinen Kollegen hattest du riesiges Glück.“
„Was ist mit Waschquet und Manatec?“, fragte Tom nervös. „Ich dachte, es geht ihnen gut.“
Nali stellte sich neben ihn und hielt seine Hand, als sie antwortete.
„Wir konnten nichts mehr für sie tun. Waschquet und Manatec haben den Unfall nicht überlebt.“
„Seltsam“, entgegnete Tom verstört. „Ich war mir sicher, ich hätte Waschquet unter dem Druckzylinder liegen sehen. Abgesehen von einem verdrehten Arm wirkte er gesund und wohlbehalten.“
Tom schwieg und senkte den Kopf.
Elodie kam um den Behandlungstisch.
„Wie konntest du Waschquets Arm sehen? Du warst seit der Explosion bewusstlos!“
„Wirklich?“
Falten erschienen auf Elodies Stirn. „Lass uns die orangefarbene Substanz genauer prüfen.“
Mit wenigen Eingaben schaltete sie durch die verschiedenen Visualisierungen des Körperscanners. Bei der sechsten Darstellung, der Analyse körperfremder Bestandteile, brach sie ab.
„Nali – pass auf! Wir sollten keinesfalls mit der Flüssigkeit auf Toms Körper in Kontakt kommen! Das ist Schwitzfeuchtigkeit aus den Kühlsystemen des modulierten Plasmas. Die Wirkung ist toxisch!“
Die Krankenschwester wich zurück. Der Ärmel ihres Oberteils zeigte leichte Spuren von Orange.
„Ich bin bereits mit Tom in Kontakt gekommen, die Substanz scheint aber nur oberflächlich auf dem Stoff zu kleben.“ Mit größter Achtsamkeit zog sie ihren Pulli über den Kopf, nahm das Kleidungsstück zusammen und gab es in eine Entsorgungsluke. Als Nali sich zurückdrehte, bemerkte sie, wie sich Toms Blicke an dem knappen Stoff um ihren Busen verfingen. Die junge Schwester nahm es locker und lächelte. Danach verschwand ihr Oberkörper in einem klassisch weißen Schwesternkittel. Tom war verlegen und schaute zu Elodie.
„Kannst du gehen? Wir müssen dich unbedingt desinfizieren.“
Nali öffnete die Tür zu dem kleinen, duscheartigen Raum, bestimmte eine Prozedur für den Säuberungslauf und zusätzlich für die Entsorgung der anfallenden Reststoffe. Derweil stieg Tom vom Behandlungstisch und humpelte zur Desinfektionskammer.
„In der Kammer fünf Minuten durchspülen lassen. Dabei sämtliche Kleidung ausziehen und in den Entsorgungsschacht geben. Unterstütze den Reinigungsprozess bitte mit deinen Händen. Nicht die Haare, die Fingernägel, Ohren und ähnliches vergessen. Die Reste des modulierten Plasmas müssen unbedingt vom Körper, sonst werden sie dich in den nächsten Tagen gesundheitlich schwer schädigen.“
„Na, du weißt einem Mut zu machen.“ Mit diesen Worten verschwand Tom hinter der Tür aus Glas.
Ungeniert beobachteten die beiden Frauen durch den gläsernen Zugang, wie Tom die beschmutzte Kleidung ablegte und in den Entsorger gab. Die schwarzen Haare begannen zu glänzen, als die Desinfektionslösung die orangenen Flecken entfernte. Toms braunen Augen schauten gelegentlich durch die Scheibe nach draußen, als wollten sie fragen, ob er alles richtig mache. Tom genoss die zweite Stufe der Säuberung. Er bemerkte, wie er wieder zu Kräften kam und seine Müdigkeit verschwand. Warmes Wasser sprühte aus unzähligen Richtungen und erfrischte den entkleideten Techniker wie ein warmer Sommerregen. Dann endete der Reinigungsvorgang und ein Luftstrom voll kleiner Partikel trocknete den gesamten Körper im Nachgang. Als er die Tür aufstieß und nackt heraus trat, stockten Elodie und Nali und genossen den kurzen Anblick, bis Tom einen weißen Bademantel übergeworfen hatte.
„Dann sind wir jetzt quitt?!“, bemerkte Tom und lächelte Nali an und sie erwiderte es.
„Leg dich bitte noch einmal unter den Körperscanner“, bat Elodie. „Ich will in einem weiteren Scan ermitteln, inwieweit das modulierte Plasma bereits deinen Körper geschädigt hat.“
Tom legte sich bereitwillig auf den Tisch, sofort kam er wieder hoch.
„Die anderen kommen.“
Die Tür der Krankenstation fuhr zur Seite und Rati, Marla und Jack traten ein. Sie hatten sich in der Zwischenzeit um eine würdige Aufbewahrung der beiden toten Kollegen gekümmert. Jetzt waren sie gekommen, um sich nach Toms Zustand zu erkundigen. In diesem Moment auszumachen, wer überraschter schaute, schien unmöglich.
„Dir geht es gut!“, rief Marla freudig aus. „Wie konntest du den Unfall so unbeschadet überstehen?“
Tom zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, wahrscheinlich war es einfach Glück.“
Elodie stand mit offenem Mund da.
„Tom, woher weißt du das alles?“ fragte sie besorgt. „Wie dem auch sei, ich bin mit meinen Untersuchungen durch. Abgesehen von deinem sonderbaren Verhalten, das ich aus medizinischer Sicht nicht erklären kann, scheint es dir gut zu gehen. Von mir aus kannst du die Krankenstation verlassen.“
Sie schaltete den Körperscanner samt Bildschirm ab. Nali begann aufzuräumen.
„Vielleicht solltest du dem Captain von den Ereignissen der letzten halben Stunde erzählen“, schlug Nali vor.
Tom nickte.
„Da bin ich gespannt“, sprach Rati. „Wir sollten uns zusammensetzen. Ich brauche einen Bericht, was im Maschinenraum passiert ist.“
„Ich stehe zur Verfügung.“
„Und ich gehe zurück zu Fahris und Darmin und helfe beim Aufräumen.“ Jack war erleichtert über Toms Zustand.
„Kann ich euch helfen?“, fragte Marla.
Jack lächelte sie verschmitzt an. „Komm mit, wir werden schon eine Aufgabe für dich finden.“
Rati beorderte den Zweiten in den Captainraum, dann machte er sich mit Tom auf den Weg.