17. Frachtraum 1 – 2 Tage bis zum Bogen

 

In den letzten acht Monaten war es selten so laut an Bord der „Beautiful Decision“ gewesen. Die Vorbereitungen für das Rendezvous am Bogen liefen auf Hochtouren. Marlas Gruppe räumte seit Stunden den Frachtraum 1 aus. Ihre Teamkollegen standen in fünf beeindruckenden Exoskeletten und bewegten mit scheinbarer Leichtigkeit große Container, Transportboxen und die unterschiedlichsten Behälter in die benachbarten Lagerräume.

‚Es ist faszinierend zu sehen, wie jemand in einem motorisierten Metallgerüst nur mit der Hilfe von zwei Joysticks gigantische Lasten heben und sicher transportieren kann.’ Zu gerne hätte Marla sich einmal selber in einem der Exoskelette versucht. ‚Doch ohne die passende Ausbildung lässt mich Jack niemals in so eine Maschine.’ Sie wandte sich ab und ließ die Abmessungen der Frachthalle 1 auf sich wirken. Fast zwei Fußballfelder fanden darin problemlos hintereinander Platz. Eine Durchquerung zu Fuß würde in einen langen Spaziergang ausarten, unerreichbar schien das Ende dieser Halle. Dazu kamen einige kleinere Zwischendecks, in denen oberhalb zusätzlich Material eingelagert werden konnte.

„Marla, die nächste Ladung ist fertig. Abfahrt!“

Sie kam zurück und bestieg die siebengliedrige Gelenkraupe. Die Einweisung war schnell und einfach gewesen, Marla hatte einen Heidenspaß auf ihren kleinen Touren. Die Raupe galt als eines der technischen Wunder an Bord des Schiffes. Der Führerstand des fast zwölf Meter langen Fahrzeugs besaß ein winziges Lenkrad zur Steuerung. Die zweisitzige Bank erlaubte es, noch jemanden mitzunehmen. Dahinter waren der Treibstofftank und einige Ablagefächer montiert. Jede der sich anschließenden sechs Transportbühnen wurde von einer Achse mit zwei kugelförmigen Rädern getragen, die wie ein Schlangenschwanz dem Führerstand folgten.

„Okay. Ich bringe das rüber zu Frachtraum 3. Bin in ein paar Minuten zurück.“

Marla lenkte das Fahrzeug auf den Flur und verschwand.

 

Unterdessen unterstütze Tar seine beiden Kollegen Norman und Ina im Frachtraum 17.

„Wie klein dieses Lager ist, das sind ja keine hundert Quadratmeter. Ich glaube, ich war noch nie hier drin“, erklärte Tar.

„Es gibt auch nicht viel für uns zu tun. Wir räumen alle Container an die Außenwände und schaffen Platz in der Mitte.“ Norman zeigte mit einigen Gesten, wie er die Waren umstellen sollte. „Jack möchte in diesem Raum sein Werkzeug und die Schneidbrenner zwischenlagern, damit er bei Problemen während des Bogens schneller eingreifen kann.“

„Zentraler aufbewahrt als im Materiallager ist das Werkzeug hier auf jeden Fall“, bestätigte Ina.

Tar rangierte eine Hoover-Trage unter zwei kniehohe Kisten. „Ich stelle diese beiden da oben auf den Container.“

Der Schwebeantrieb stotterte und die Trage vibrierte.

„Stopp! Eine hängt durch!“, rief Norman. Es folgte ein lautes Knacken, dann rumste es laut und die Kiste riss auf. Unzählige Kleinteile donnerten auf den metallenen Untergrund.

„Verdammter Mist“, schimpfte Tar und setzte die Ladung ab. Hecktisch sammelte er alles beisammen.

„Schaut mal, was ich hier gefunden habe!“ Tar hielt ein spensanisches Lesepad, eine undefinierbare klobige Strahlenpistole und ein spensanisches Subraumfunkgerät in seinen Händen. „Die Geräte haben sogar noch Strom! Wollen wir sie mal ausprobieren?“

„Tar, das Zeug gehört. glaube ich, Vanti!“, erklärte Ina. „Der sammelt gegenwärtig alles, was sich tragen lässt. Pack es wieder in die Kiste, bevor er bemerkt, dass du drin rumgeschnüffelt hast!“

„Wir sind hier zum Aufräumen, nicht zum Ausräumen“, spottete Norman.

„Ich hab’s verstanden.“ Tar legte die Teile in die Kiste zurück und sicherte die aufgerissene Stelle mit einem Spanngurt. „Seht ihr, alles wieder an Ort und Stelle. Wohin nun mit dieser Kiste?“

„Schieben wir sie lieber dort nach rechts hinten in die Lücke.“

Norman sollte Recht behalten, die gesamte Umräumaktion war flott erledigt.

 

Nach einiger Zeit kehrte Marla mit ihrem entladenen Fahrzeug zu Halle 1 zurück. Sie parkte weiter hinten bei einem Stapel aus Transportkisten und Containern und ging zu ihrer Freundin Jandin, die für zwei Schichten dem Räumungsteam zugewiesen war. Die Kartografin verschweißte seit etlichen Stunden jede zu findende Spalte und Öffnung der Lagerhallenwand.

„Ich werde mit den Versiegelungsarbeiten an den Belüftungssystemen fortfahren“, rief Marla.

Jandin erschrak. „Ich habe dich gar nicht kommen hören. Marla, Liebes, wie geht es dir?“

„Alles paletti. Ich denke, wir kommen gut voran. Wie du siehst, ist die Halle 1 bald leer.“

„Ja. Es entwickelt sich langsam so ein unheimlicher Klang und die Stimmen fangen an zu hallen. Irgendwie unheimlich. Ich habe diese Halle noch nie so leer gesehen.“

Marla betrachtete Jandins Abdichtungsarbeiten. Sie hatte bereits ihren zugewiesenen Sektor versiegelt und half im nächsten Abschnitt.

„Bist du mit meiner Arbeit zufrieden? Hier unten ist es einfach.“ Sie zeigte zur Decke. „Da oben musste ich mich auf eine fliegende Hebebühne setzen. Und das ich! Aber wie du siehst: es hat funktioniert.“

„Doch, sieht gut aus. Die Nähte machen einen stabilen Eindruck.“

Koch Darmin hatte für das zweite Team seitlich des Halleneingangs einen weiteren Versorgungsstand auf zwei schwebenden Hoover-Tragen errichtet. Viele der warmen Gerichte waren bereits in der letzten Pause verspeist worden. Marla lief los und besorgte zwei gekühlte Getränke mit viel Eis. Dann kehrte sie zu ihrer Freundin zurück.

„Was für ein Service“, freute sich Jandin.

Marla zerrte einen Werkzeugwagen herbei. Die beiden Frauen setzten sich auf die freie Ladefläche und ließen die Beine baumeln.

„Ihr seid gut mit dem Ausräumen der Halle vorangekommen.“ Beide nahmen einen Schluck des gekühlten Limettenwassers.

„Halle 1 ist viel größer, als ich erwartet hatte. Je leerer der Frachtraum wird, desto mehr erkennt man seine wahre Größe. Ohne Exoskelette und Gelenkraupe wäre der Transport gar nicht zu schaffen gewesen.“

Jandin musterte ihre Freundin und wischte ihr mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Dann klemmte sie Marla eine ihrer dunkelbraunen Strähnen hinters Ohr, so wie sie es selber oft tat.

„Marla, du siehst müde aus.“

„Ja, es ist eine Menge zu tun und viel Zeit bleibt uns schließlich nicht mehr. Der Bogen wird nicht auf uns warten. Und dann ...“

„Dann machen wir uns wieder ein paar entspannte Stunden.“ Jandin stand auf und half Marla auf die Beine. Beide kehrten zu ihrer Arbeit zurück.

„Nachher erzähl ich dir das Neuste von Tom“, flüsterte Marla geheimnisvoll.

„Das könntest du auch jetzt machen“, murrte Jandin zickig.

Urplötzlich ein dumpfer Knall, dann schoss weißer Rauch aus dem Hydrauliksystem eines Exoskelettes. Die Maschine bockte, die Steuerung der mechanischen Beine versagte und die metallene Stützstruktur kippte nach hinten über. Der Boden bebte beim Aufschlag als würde eine Herde wilder Hornechsen über die Eislandschaften Palaris’ stürmen. Bewegungslos lag das schwere Exoskelett der Länge nach am Boden. Die Notabschaltung hatte seine Aktoren umgehend außer Funktion gesetzt, lediglich das Licht der roten Signallampe am Kopf pulsierte.

„Verdammt!“ Marla und Jandin liefen sofort zur Unglücksstelle. „Wer sitzt in der Maschine?“

Die Kollegen stoppten ihre vier Skelette, sprangen herab und eilten ebenfalls herbei.

„Was ist passiert?“, rief irgendjemand außerhalb Marlas Sichtbereich.

In diesem Moment kletterte Paas val‘ Dabér aus dem verunglückten Koloss. Am Kopf eine kleine Abschürfung, ein wenig benommen, ansonsten aber augenscheinlich bei bester Gesundheit.

„So eine Scheiße“, schnaufte Paas. „Jack wird mich killen!“ Er blieb neben der umgestürzten Maschine stehen und betrachtete die Auswirkungen des Unfalls.

„Was ist mir dir?“, fragte Jandin besorgt. „Sollen wir Elodie rufen, damit sie dich kurz durchchecken kann?“

„Auf keinen Fall!“

„Was ist geschehen?“

„Wahrscheinlich wollte ich wieder mal der Schnellste beim Verladen sein.“ Paas schob mit beiden Händen seine wenigen Haare nach hinten. Langsam wurde ihm die Konsequenz seines Tuns bewusst. „Ich habe die Aggregate überdreht, wahrscheinlich zu viel roter Bereich und irgendwann hat die Hydraulik der Belastung nicht mehr standgehalten.“

„Können wir das Exoskelett nicht einfach mit Hilfe der anderen vier wieder aufrichten?“, wollte Marla wissen.

„Natürlich können wir das, aber Jack wird das Logfile auslesen. Er wird mich grillen! Zudem wurde dieses Modell gerade auf Gaya neu lackiert. Schaut euch an, wie es jetzt aussieht.“

„Tja, das möchte ich nicht abbekommen.“

„Vielleicht solltest du schon mal Jacks Standort lokalisieren.“

„Oder du suchst dir eine Anstellung auf einem anderen Schiff.“

„Wenn dir die Flucht dahin gelingt.“

Die Kollegen hatten sichtlich ihre Freude daran, Paas zu verspotten.

„Los, ihr hattet euern Spaß. Richtet das Ding auf!“ Marlas Stimme klang scharf und ernst. „Dieser Ausfall zerrt weiter an unserem engen Zeitfenster.“

Kurz darauf griffen die vier Exoskelette unter den verunglückten Kamerad und stellten ihn zurück auf seine Beine.

„Danke Jungs und nun werdet fertig!“

Die vier drehten mit ihren Maschinen ab und setzten die Ausräumarbeiten fort.

„Paas, was ist mir dir? Brauchst du eine Pause?“

„Ich bin okay.“

„Gut. Dann setz die Kiste in Gang oder besorg die passenden Ersatzteile aus dem Lager und dann mach hier weiter.“

„Was ist mit Jack?“

„Jack? Das bleibt dein Problem.“

Paas zögerte. Er entfernte eine Wartungsklappe an seinem Koloss und initiierte einen Diagnoselauf.

„Komm, lassen wir ihn das alleine machen. Wir haben da drüben noch genug Arbeit“, schlug Jandin vor. „Was hast du vorhin noch gesagt? Der Bogen wird nicht auf uns warten!“

Nach Mitternacht endeten die Räumungsarbeiten. Team drei hatte sämtliche kleinen Container und Frachtkisten wie geplant aus den anderen Frachträumen auf die Flure, in derzeit nicht benötigte Besprechungsräume und sogar in die Fitnessabteilung ausgelagert. Einige Zonen des Schiffes rochen nun nach Gewürzen, drei Gänge nach ätherischen Ölen und hier und da waren immer wieder Nuancen von verschiedensten Duftwässerchen auszumachen. Aber auch Düfte von wertvollen Hölzern und gepressten Pflanzen drangen in die Nasen der Crew und zeigten, wie vielfältig die Fracht war. Der Captain verstand es, im Hinblick auf die geplante Handelsroute Richtung Lumpur geschickt und günstig einzukaufen und jederzeit nach guten Absatzmöglichkeiten Ausschau zu halten. Val’ men Porchs Devise erlaubte nur wenig freien Lagerraum, denn damit konnte die Crew kein Geld verdienen. Und genau deshalb hatte er sich erst vor ein paar Tagen über die freien Kapazitäten in Frachtraum 1 geärgert. Nun, da es daran ging, diesen Raum in einen großen Gastank zu verwandeln, war er froh, dass es gelang, die restlichen Container und Frachten umzulagern und so Platz zu schaffen.

Lagerraum 1 erstrahlte in einer gigantischen Leere. Beim Reden hallte das Echo von den Wänden wider.

„Ich kann es kaum glauben. Nach vierzehn Stunden sind wir endlich fertig.“ Marla hatte ihr kleines Team um sie versammelt. „Ich danke euch für den Einsatz und ich würde sagen, wir waren schnell.“

„Und ich denke, wir könnten Jack echte Konkurrenz machen“, fügte Jandin hinzu.

Alle lachten.

„Hoffen wir, dass dieser Aufwand sich lohnt“, kritisierte Paas das Leerräumen des großen Frachtraums. „Und dass wir uns bei der ganzen Aktion nicht einfach nur in die Luft sprengen.“

„Warten wir es ab. Gute Nacht“, antwortete Marla.

Heute Abend würden sie das nicht mehr diskutieren. Paas und die anderen der Crew schleppten sich müde und am Ende ihrer Kräfte in die Quartiere. Marla und Jandin blieben noch und verweilten im gewaltigen Durchgangstor der Lagerhalle. Sie standen eng nebeneinander, überkreuzten ihre Arme hinter ihren Rücken und verschafften sich Halt an der Hüfte des jeweils anderen. Sie lehnten die Köpfe aneinander. Für einige Sekunden standen sie ganz ruhig und genossen die endlose Stille. Hin und wieder strich ein Luftzug über ihrer Haut und kühlte die verschwitzten Körper. Dann traten die beiden Frauen zurück, drehten die Beleuchtung ab und schlossen das elektrische Tor.

 

 

Krontenianer - Rendezvous am Bogen
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