4. Havarie –
237 Tage bis zum Bogen
Am Stadtrand von Gaya City angekommen, entschied Marla für den verbleibenden Weg bis zum Raumhafen eine Fahrmöglichkeit zu nutzen. Die Füße schmerzten und Marla gestand sich ein, die Entfernung eindeutig unterschätzt zu haben. Ununterbrochen pendelten Fahrzeuge mit Radantrieb, Ketten- oder Hoover-Technologie auf der Hauptstraße an ihr vorbei, um Personen sowie Material zu den benachbarten Orten und Richtung Hafengelände zu transportieren.
„Taxi! Taxiiiii!“, rief sie und winkte dazu, immer wenn eines der gelbweißen Fahrzeuge in Sichtweite auftauchte. Doch inzwischen fuhr das achte oder neunte Gefährt vollbesetzt an ihr vorbei.
,Es gibt hier zu wenige Taxis‘, dachte Marla genervt, kurz bevor neben ihr ein hellgelbes Hoover-Taxi mit leisem Surren zum Halten kam und sich auf den Boden absenkte.
„Benötigen Sie eine Fahrgelegenheit?“, erkundigte sich ein freundlicher Fahrer durch das geöffnete Seitenfenster.
,Meine Rettung‘, dachte Marla und stieg ein. „Bringen Sie mich bitte zum Raumhafen.“
Der Hoover hob ab, nahm kaum spürbar Fahrt auf, reihte sich in den Verkehrsfluss ein und bog nach einiger Zeit in die große Straße zum Raumhafen ein.
„Ich heiße Brunar. Darf ich fragen: Gibt es ein bestimmtes Ziel auf dem Hafengelände?“
„Mein Name ist Marla. Nein, bringen Sie mich einfach zum Eingang. Danke.“
Die Zufahrtsstraße zum Raumhafen beeindruckte Marla wie selten etwas zuvor.
„Was für eine riesige Allee“, staunte sie.
„Und wie Sie sehen, lasten wir die fünfspurige Hauptstraße problemlos aus, um die umliegenden Städte mit ihren großen Lagerhallen und unzähligen Geschäften an die Hafenanlage anzubinden.“
Marla schaute abwechselnd links und rechts aus den Fenstern des Hoovers. „Es ist ein unbeschreibliches Verkehrsaufkommen.“
„Neben der Straße verlaufen noch zusätzlich zwei Trassen der Gaya-City-Transportbahn“, erklärte Brunar.
„Ich wunderte mich schon über die autonomen Frachtgondeln, die gelegentlich auftauchten“, antwortete Marla.
„Mögen Sie große Bäume?“, fragte der Fahrer, als durch die Frontscheibe riesige Gewächse erkennbar wurden.
„Arzeleibäume!“, rief sie voller Freude.
„Und zwar genau achtzig Stück. Der Raumhafen hat sie extra für die Hafenzufahrt nach Gaya einfliegen lassen. Wenn Sie mich fragen, eine sinnlose Geldverschwendung.“
,Wie schön‘, dachte Marla beim Anblick der Bäume und verfiel darüber in Gedanken. Eines Abends, vor gut fünf Monaten, hatte Marla unter einem großartigen Exemplar eines Arzeleibaums gesessen. Auf dem bevölkerten Mond gab es fast keine Flora. Nur innerhalb des Universitätsinternats wurden einige Pflanzen gezüchtet und von den Studenten betreut. Der große Arzeleibaum im Zentrum des gigantischen Auditoriums galt als ganzer Stolz der Universität. Sein Aussehen war atemberaubend. Ein extrem dicker, von Kerben durchfurchter, kurzer Stamm, der sich nach oben verjüngte, trug eine mächtige, weit ausladende Krone mit unförmigen Ästen und unzähligen länglichen, handgroßen Blättern. Marla war guter Laune gewesen, denn dieser Tag auf Gayas erstem Mond war fantastisch verlaufen. Zwei erfolgreich abgeschlossene Klausuren hatte sie zurückbekommen, zusätzlich die Zusage für ein neues Projekt nach ihren Vorstellungen. Der Arzeleibaum hatte sich zum allabendlichen Treffpunkt von Marla und Ben, ihrem besonderen Glück, entwickelt. Die beiden waren an jenem Tag genau zweihundertzweiundzwanzig Tage ein Paar und sie wollte feiern. Marla hatte gewartet, sehr lange, doch Ben war an diesem Abend nicht gekommen. Am nächsten Tag sah sie ihn mit einem anderen Mädchen. Seine Neue, Aussehen – eine „Bombe“. Marla hatte Ben zur Rede gestellt, es folgte das unvermeidliche Streitgespräch. Doch für Ben war die Beziehung bereits beendet und er ließ die alte Freundin stehen. Der Vorfall hatte Marla hart getroffen und immer wieder waren Selbstzweifel in ihr aufgekommen. Daraufhin hatte sich Marla in den verbleibenden Monaten verbissen auf ihren Abschluss konzentriert und um alle männlichen Wesen einen Bogen gemacht. Die Liebe zu Arzeleibäumen hatte sie jedoch niemals verloren.
Marla blickte auf. Das Taxi näherte sich den großen Eingangstoren des Raumhafens.
„Ziel erreicht“, verkündete der Fahrer und bremste. Vorsichtig setzte der Hoover auf dem Boden auf. „Wünschen Sie eine Runde über das Gelände?“
Marla schaute zweifelnd. „Danke! Ich denke, ich komme jetzt klar.“
„Zahlen Sie mir die zehn Rollar für die Fahrt hierher, der Rest ist für ein Lächeln.“
Marla griente. „Warum bekomme ich eine Bonustour?“
„Während der Fahrt habe ich ihr Gesicht im Spiegel beobachtet. Sie sind schon länger auf Gaya“, erklärte Brunar.
„Meine letzten eineinhalb Jahre verbrachte ich auf dem ersten Mond diese Planeten.“
„Ah, dann ist meine Vermutung noch nicht widerlegt. Das Internat benutzt eigene Shuttles für den Transfer und besitzt eine autonome Landestation am Stadtrand. Der Raumhafen ist ihnen fremd. Sie waren schon länger nicht mehr hier. Umso näher wir dem Gelände kamen, desto aufgeregter rutschen Sie über die Rückbank meines Taxis.“
Marla bemerkte, Brunar hatte die Situation gut wahrgenommen, zweifelsohne war sie nervös, aber auch voller Vorfreude.
„Ich denke, Sie wollen Gaya verlassen. Mit großer Sicherheit für immer. Da Sie bis vor Kurzem das Internat besucht haben, werden Sie nun nach Arbeit auf einem der Raumschiffe Ausschau halten.“
„Ausgezeichnet. Sie sind ein guter Beobachter“, entgegnete Marla erstaunt. Brunar lachte und erzählte weiter.
„Da der Raumhafen im letzten Jahr umgebaut wurde, können Sie meine Hilfe benötigen.“
Marla reichte einen Zehn-Rollar-Schein nach vorne. Brunar startet das Taxi, es hob ab, nahm erneut Fahrt auf und schwebte durch den Haupteingang.
„Meine Tochter ist ungefähr in ihrem Alter“, der Fahrer schaute dabei nach hinten. „Sollte Solinja Hilfe benötigen ... Ich hoffe auch immer, sie gerät an den Richtigen. Jemand der hilft, ohne sie auszunutzen.“
„Danke“, stimmte Marla zu. Die beiden blieben eine Zeit lang auf der ausgebauten Straße. Das gesamte Arsenal erstreckte sich so weit ihre Augen blicken konnten, nach außen locker mit Zäunen abgegrenzt, und an seinen sechs Ecken erhoben sich zweistöckige Kontrolltürme.
„Existieren im Raumhafen keine Zugangsbeschränkungen oder Sicherheitszonen?“, wollte Marla wissen.
„Nein. Jedermann kann sich frei bewegen. Die Besatzungen sind für den Schutz ihrer Raumschiffe selbst verantwortlich. Dafür können beim Hafenmeister zusätzliche Wachmannschaften angefordert werden. Gegen Rollars natürlich.“
Als das Taxi die ersten Hangars passierte, erblickte Marla vereinzelt Schiffe, die massiv von Wachpersonal abgeschottet wurden. Weitere Minuten vergingen, bis sie den Tower des Hafens passierten.
,Wahnsinn!‘, ging es Marla durch den Kopf, als ihre Augen der Silhouette des Betongebäudes hoch zum Himmel folgten. Der untere, weiß gestrichene Gebäudekomplex entsprach in seiner Form einer imposanten, lang gestreckten Pyramide. Über die abgerundeten Kanten liefen pulsierende Markierungslichter, die auch am lichten Tag weit sichtbar leuchteten. Der Hafenmeister und sein gesamtes Team nutzten laut den Hinweisschildern die untersten drei Etagen. Der mittlere Abschnitt, ein Bereich frei von Fenstern, zierte das runde Firmenlogo des Hafenbetreibers. Darüber lagen weitere Stockwerke mit Büroräumen. Die gekappte Spitze des Towers trug eine zusätzliche, zylinderförmige Etage von beachtlichen Ausmaßen.
„Dort oben arbeitet die Flugsicherung“, informierte der Fahrer und deutete zum aufgesetzten Gebäudemodul.
„Eine technische Meisterleistung“, staunte Marla, „wie die kreisrunde Etage, trotz ihres beachtlichem Durchmessers, dort oben allen Naturgewalten widersteht.“
„Sie haben recht“, bestätigte Brunar.
Das Taxi bog zu den Landeplätzen ein.
„Hier finden Sie über zweihundert Andockstellen für die verschiedensten Raumschiffklassen. Die erste Anlaufstelle für alle, die einen Arbeitsplatz an Bord eines Raumschiffs suchen.“
„Ja, fantastisch. Bitte halten Sie an. Von hier aus möchte ich zu Fuß weiter gehen.“
Das Hoover-Taxi hielt an der Seite des Gebäudes.
„Vielen Dank für die kleine Sightseeing-Tour“, bedankte sich Marla und sprang aus dem Fahrzeug.
„Gerne, Ich könnte ihnen noch so viel mehr zeigen. Doch ich verstehe ihren Drang, die Andockstellen zu besuchen. Erfolg wünsche ich ihnen!“ Brunar winkte kurz, dann schwebte der Hoover wieder über der Straße und entschwand Richtung Hauptausgang.
Marla atmete tief durch und streckte sich. Die Luft wurde zum Nachmittag erträglicher, als die erste der drei Sonnen hinter dem Horizont von Gaya City verschwand.
,Ich bin angekommen‘, dachte Marla froh gestimmt. ,Es riecht nach Arbeit und ich werde mir einen schönen Job aussuchen!‘
Marla lief an den Andockstellen entlang und betrachtete die einzelnen Parkbuchten. Kleinere Schiffe nutzten oft zu viert eine Landeinsel. Die mittelgroßen Transportschiffe, Handelsschiffe und Mittelstreckenraumschiffe teilten sich wenn möglich einen Abschnitt. Gut fünfzehn Raumschiffe benötigten einen Landeplatz für sich allein. Teilweise ragten diese fliegenden Städte über die Ränder hinaus, so gigantisch waren ihre Ausmaße.
,Diese Kolosse bewegen sich doch eigentlich nur draußen in den Weiten des Alls‘, grübelte Marla. ,Nur Inspektionen oder Umbaumaßnahmen könnten sie zum Abstieg aus dem Planetenorbit zwingen. Egal. Mir sind sie zu groß und ohnehin zu unpersönlich.‘
In der gesamten Landezone herrschte permanenter Lärm, dutzende von Flugobjekten kreisten über ihr. Immer wieder starteten Schiffe und verschwanden in der Stratosphäre. Glühende Gase durchwirbelten die Luft, wenn die Bremsraketen der Metallkolosse zündeten. Zudem flogen unzählige Barkassen der Hafenmeisterei am Himmel und wiesen die großen Schiffe in ihre Andockboxen. Marla beobachtete fasziniert das aktive Treiben des Raumhafens. Eine Böe erfasste Marla und wirbelte ihr die schulterlangen Haare ins Gesicht. Um weiteren Windstößen vorzubeugen, band sie ihre Haare zum Zopf.
,Das Leben in einem Waldameisenhaufen scheint ruhig zu sein, im Vergleich zum Trubel dieses Raumhafens.‘ Marla rief sich das endlose Treiben der Ameisen vor Augen, welches sie als Kind immer wieder fasziniert im Wald hinter ihrem Zuhause beobachtet hatte.
Ein lautes Getöse riss sie jäh aus ihren Tagträumen. Sie konnte nicht sofort orten, woher das Geräusch kam, als unerwartet ein großer Schatten den Boden um Marla verdunkelte. Instinktiv blickte sie nach oben. „Was zum ...“ Einige Meter über ihr driftete ein Abfallcontainer-Hoover, eine typische Containerbarkasse zum Entsorgen von Schutt und Schrott, mit massiver Schlagseite. Aus einem der vier mächtigen Antriebsaggregate drang tiefschwarzer Rauch. „Vorsicht!“, schrie jemand hinter ihr, doch schon schlugen erste Metallteile, Stangen und Bolzen der Ladung direkt neben Marla zu Boden. Sie erstarrte vor Schreck, war nicht fähig sich zu bewegen. Steinstücke splitterten aus dem Asphalt und schossen an ihr hoch. Ein beißender Schmerz zerrte an Marlas Arm, sie blutete. Ihr wurde flau im Magen und sie merkte, wie ihr die Knie zitterten. Der Hoover geriet nun vollends außer Kontrolle und raste auf sie zu. „Verdammt!“, entfuhr es ihr. Mit letzter Kraft warf sie sich zur Seite und kam am Boden zum Liegen. Öliger, beißender Gestank und zu Boden tropfende Flüssigkeiten waren das Letzte, was Marla wahrnahm, bevor es um sie dunkel wurde.