45. Gefahr auf sechs Beinen – 3 Stunden bis
zum Bogen
Die Ärztin konnte Junis’ die Bewunderung für das kleine Stück Technik in ihrer Transportbox an seinen Augen ablesen, als sich die beiden im Labor des Administrators trafen.
„Hallo Junis. Dies ist der erste Nanobot, den wir aus Richard operiert habe.“
„Hi! Der ist ja noch voll funktionsfähig.“ Junis staunte und tippte ans Glas.
„Das ist er. Aber der Captain wartet auf Antworten! Er möchte wissen, woher der Roboter kommt, was seine Aufgabe sein könnte und warum hunderte davon draußen im All umhertreiben.“
„Da bin ich nicht weniger interessiert.“
Eine Zeit lang analysierten Junis und Elodie den Nanobot mit allen möglichen Verfahren, um etwas über Art und Herkunft zu erfahren.
„Wir finden nicht mehr heraus, als wir bereits auf der Krankenstation ermittelt haben“, seufzte die Ärztin frustriert. „Deine Scanner bringen auch nicht mehr!“
Junis schien frustriert. „Dann machen wir es eben auf die harte Tour!“
Er fixierten den kleinen Krabbler mit einem Temporärkleber auf einer Arbeitsplatte aus gebürstetem Edelstahl. Jedes der sechs Beine bekam einen Tropfen des Klebstoffs und binnen Sekunden wurden die Gliedmaßen verankert. Der Administrator aktivierte ein Vergrößerungsfeld und die beiden betrachteten den filigran gebauten Eindringling in voller Größe.
„Schau mal, der Nanobot besitzt ein programmiertes instinktives Verhalten. Er bemerkt, dass er sich in einer problematischen Situation befindet und versucht sich automatisch zu befreien.“
„Du bist ja richtig fasziniert von dieser Technik“, erwiderte die Ärztin.
„Das stimmt. Schau dir das Verhalten an – einfach genial! Ein Verhalten, wie wir es aus der Tierwelt kennen, wird hier perfekt simuliert und das von einem Ding, das zu ungefähr sechzig Prozent aus den verschiedensten Metalllegierungen besteht. Es ist ein Wunderwerk der Technik!“
„Das kann ich nicht abstreiten. Der Captain erwähnte vorhin auf der Krankenstation, dass die Xality angeblich schon Nanobots in der Größe von Sandkörnern entwickelt hätten. Dagegen sind die hier doch recht groß.“
Junis schaute sie an. „In Sandkorngröße? Das ist nicht schlecht! Ich könnte nicht mal so etwas hier konstruieren.“
Er griff zum Laserskalpell. „Warum sind diese Nanobots dann so groß? Alte Technik oder etwas Besonderes? Lass uns reinschauen!“ Mit diesen Worten schaltete er das Skalpell an, um die oberste Deckschicht des Roboters abzutragen.
„Sei vorsichtig! Wer weiß, was uns erwartet“, gab Elodie zu bedenken und wurde dafür mit einem missmutigen Blick von Junis abgestraft.
Als der Nanobot die Hitze des Lasers bemerkte, fing er an, energisch zu zittern, und versuchte sich zu befreien. Die sechs Klebepunkte reichten nicht, um das Objekt festzuhalten. Elodie griff zum Temporärkleber und platzierte einen weiteren Klebepunkt direkt unter dem Metallkörper. Kurzerhand drückte Junis den Käfer mit der Rückseite des Skalpells nach unten und nach wenigen Sekunden gab es nicht mehr den geringsten Bewegungsspielraum.
„Erstaunlich dieser Überlebensdrang. Warte, das muss ich unbedingt dokumentieren.“ Er begann die Videoaufzeichnung seines Arbeitsplatzes. „Ich werde nun die Deckschicht abschneiden und erhoffe mir, dadurch mit den Scannern einen Zugriff auf die Subroutinen zu erhalten. Da wir seine Programme mit den vorangegangenen Messungen nirgends aufspüren konnten, denke ich, die Roboter schützen diese entscheidenden und sensiblen Daten unter einer undurchdringlichen Schutzhaut.“
„Das könnte gut sein. Wenn wir keine Programmroutinen finden, dürfte es schwierig werden, eine Aussage zur Herkunft, Aufgabe und Funktion zu machen.“
Gespannt betrachtete Elodie, wie ihr Kollege mit filigraner Leichtigkeit einige Schnitte in die Deckschicht des Metallkäfers kerbte. Sie assistierte ihm und holte aus der Werkzeugablage eine langstielige Pinzette. Vorsichtig hob sie das angeschnittene Plättchen Metall an, doch sie konnte es nicht entfernen.
„Ich glaube, es hängt noch hinten am Kopf.“
Junis machte einen weiteren Schnitt, lang und sehr flach.
„Elodie, wir müssen aufpassen, dass wir langsam und schichtweise in das Objekt vordringen. Zum einen zerstören wir sonst, wonach wir suchen, zum anderen: wer weiß, was uns erwartet.“
„Da stimme ich dir zu. Langsam und Schicht für Schicht! So, ich kann das Metallplättchen entfernen. Lass uns mal das ausgeschnittene Fragment vergrößern!“
Langsam wuchs ihre Anerkennung und Bewunderung für dieses künstliche Wesen. Sie richtete die Kamera neu aus und die vergrößerte Darstellung erschien auf dem Wandschirm. Mehrmals erhöhte Junis den Zoomfaktor, bis der Bildausschnitt nur noch die aufgeschnittene Stelle am Nanobot zeigte.
„Da drin tobt das Leben“, konnte sich Elodie nicht verkneifen, zu sagen, als sie sah, wie viele winzige Bauteile sich mit der Präzision einer klassischen Analoguhr im Inneren bewegten. Unzählige Rädchen und Kreisel sorgten für permanente Bewegungen, kleinste Schläuche pumpten Flüssigkeiten in die verschiedenen Areale.
„Faszinierendes Innenleben, doch warum sich das eine oder andere bewegt oder dreht – ich verstehe es nicht.“
„Ehrlich gesagt – ich auch nicht“, antwortete Junis. „Versuchen wir erneut eine Messung und halten wir Ausschau nach den Subroutinen. Die werden unser Schlüssel sein!“
Die Ärztin reichte eine mobile Scannereinheit und Junis startete das Suchprogramm. Zur Orientierung zeigte ein grüner, fünf Zentimeter langer Lichtstrahl das Messfeld des Lesegeräts an. Vorsichtig richtete er den Peilstrahl auf die neu geschaffene Öffnung des Nanobots. Sofort erschien eine unüberschaubare Menge an Daten auf dem Display.
„Das ist unlogisches Kauderwelsch!“, schimpfte Junis, kalibrierte den Scanner neu und versuchte einen weiteren Lesevorgang.
„Na also“, lobt Elodie. „Das sind erkennbare Gliederungen.“
„Wahnsinn! Die Übertragung liefert eine ungeheure Anzahl an Prozeduren und Daten.“
Per Tastendruck setzt Junis die Datenübergabe in Gang und die Seiten des Wandbildschirms füllten sich schneller, als Elodie hätte mitzählen können. Nachdem die sechshundertvierzigste Seite auf dem Display erschienen war, endete die Übertragung und der Bordcomputer begann mit einer automatischen Sortierung und Katalogisierung. Weitere zwei Minuten später meldete ein leises Signal den Abschluss der Analyse.
„Fertig. Versuchen wir einen ersten Eindruck von den unzähligen Seiten an Programmcodes zu gewinnen.“
„Ich lese hier mehrmals das Wort ‚Maliram’. Meines Wissens nach stammt es aus der Sprache der Xality und bedeutet ‚System’. Ich will das mal eben prüfen.“ Elodie wandte sich an den Bildschirm auf Junis’ Schreibtisch und fand nach kurzer Suche die Bestätigung.
„Ich hatte recht! Diese Nanobots wurden von den Xality gebaut.“
Junis rief in der Zwischenzeit die Programmsegmente auf und beschäftigte sich mit den Steuerabläufen der künstlichen Lebensform.
„Ich denke, ich werde ein wenig Zeit brauchen, um das hier zu verstehen.“
„Wenn du willst, hole ich uns zwei Kaffeesurrogate aus der Kantine und informiere den Captain über den Zwischenstand.“
„Das ist eine super Idee! Gib mir eine halbe Stunde.“
Elodie verließ das Labor und Junis vertiefte sich in seine Arbeit, vergaß Zeit und Raum, ließ die Hände arbeiten und die Gedanken wandern.
„Au Kacke“, entfuhr es Junis, während sich hinter ihm unbemerkt die automatische Tür geöffnet hatte und Elodie in Begleitung der beiden Captains zurückgekehrt war. Als der Duft von heißem Kaffee in seine Nase wanderte, drehte er sich überrascht um und sah sich direkt seinen beiden Vorgesetzten gegenüber.
„Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, ich dachte, ich sei allein.“
„Kein Problem. Ich hörte, Sie machen Fortschritte und haben Zugriff auf die Subroutinen des kleinen Monsters erlangt?“
Captain Rati machte keinen Hehl daraus, was er von dieser Art technischen Fortschritts hielt, obgleich sein Raumschiff selber mit allen erdenklichen technischen Erweiterungen und Raffinessen ausgestattet war.
„Nanobots sind Killer! Das ist zumindest in den meisten Fällen so. Medizinische Möglichkeiten und neue Operationsmethoden werden da gerne als Grund für die Weiterentwicklung vorgeschoben. Doch in Wirklichkeit hat die Kriegsführung in den letzten Jahrzehnten eine Grausamkeit entwickelt, die bei Weitem die der Erde zur Zeit des Mittelalters übertrifft!“
Der Co-Captain blätterte ein wenig durch die Codes der Subroutinen, die der Administrator auf dem Bildschirm hatte stehen lassen.
„Haben Sie etwas gefunden, das uns weiter bringt? Elodie hat erzählt, die Roboter seien xalityatischen Ursprungs. Was gibt es sonst?“
„Ich habe einige interessante Informationen für Sie. Zu erst einmal: Ja, es handelt sich um xalityatische Technik, aber diese ist keinesfalls überholt, doch dazu komme ich gleich.“
Junis übertrug eine Außenkarte, die sämtliche Lebensformen im Umfeld des Schiffes zeigte, auf seinem Wandbildschirm.
„Da wäre die Frage nach dem Grund. Warum schweben fast dreihundert Nanobots im Umkreis der „Decision“? Antwort – ich habe keine Ahnung. Aber eines ist sicher, die Dinger haben eine massive Fehlfunktion im Hauptprogramm. Viele ihrer Subroutinen werden mit falschen Werten aufgerufen und funktionieren deshalb nicht. Wahrscheinlich hat jemand im Vorfeld nicht richtig getestet und ein fehlerhaftes Steuerprogramm auf die Platine gebrannt. Schon nach wenigen Befehlen verweigern sie die weitere Zusammenarbeit und beginnen ein Eigenleben zu führen.“
„Denken Sie, jemand hat versucht die defekten Bots auf Kollisionskurs mit einem Stern zu schicken, um den gefährlichen Schrott loszuwerden?“, hakte Vanti nach.
„Das wäre möglich. Was sagt Ihnen in diesem Zusammenhang die chemische Verbindung Tiamid?“
Dem Zweiten stockte der Atem.
„Soweit ich informiert bin, ist Tiamid ein brisanter Sprengstoff für größere Detonationen.“
„Das ist so leider ein wenig untertrieben“, spottete Junis. „Jeder der Nanobots dürfte nach meinen Berechnungen mit Tiamid vom Volumen einer Erbse gefüllt sein. Dieser Sprengstoff macht aus diesen Krabblern mobile Bomben von beachtlicher Stärke.“ Die Minen der drei Zuhörer verfinsterten sich. „Nimmt man die Sprengkraft der dreihundert Bots und zündet sie gemeinsam, hätte man eine Bombe von unvorstellbarer Zerstörungskraft.“
Der Captain setzte sich, Elodie war geschockt und Vantis Gesichtsfarbe wurde immer heller.
„Ich habe das noch mal genau recherchiert. In der Vergangenheit haben die Xality Nanobots als intelligente Bomben mit Tiamid gefüllt. Dessen Hauptbestandteile sind natürlichen Ursprungs, doch die Förderung wurde nach einigen Jahren unrentabel. Deshalb wird dieser Sprengstoff heute nicht mehr hergestellt.“
„Allerdings gibt es hier noch reichlich davon“, vermerkte der Captain.
„Der Wert dieser Viecher dürfte für Kriegstreiber oder Partisanen wahrscheinlich unbeschreiblich sein. Wer also mutig genug ist, könnte damit ein lukratives illegales Geschäft aufziehen, sofern er lebensmüde ist und ihn keine ethischen Bedenken quälen.“
„Was für ein Wahnsinn, und das hier draußen und für jeden kostenlos zugänglich.“ Rati wischte sich über die Stirn.
„Ich kann Sie zumindest dahingehend beruhigen, dass die fehlerhaften Codezeilen keine programmierte Detonation per Befehl erlauben. Brauchbar ist das Tiamid also nur, wenn es mit einem anderen Sprengstoff zur Explosion gebracht wird. Ich finde zumindest keinen Grund, warum sich die Nanobots derzeit selbst zünden sollten. Aber, wenn einer von ihnen ein Feuerwerk startet, dann, denke ich, werden die anderen dreihundert wie die Lemminge folgen.“
„Danke für Ihre Ergebnisse. Haben Sie eine Idee, warum die Bots unseren Navigator angegriffen haben?“, fragte der Erste.
„Nein, darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben. Vielleicht nur eine einfache Programmierung als Taktik oder zum Selbstschutz. Aber sicher sagen, kann ich das nicht.“
Der Captain drehte sich zu Elodie, die bereits längere Zeit geschwiegen hatte. Sie stand wie versteinert an Junis’ Arbeitsplatz und hielt noch immer die zwei dampfenden Kaffeebecher in den Händen.
„Elodie, geht es Ihnen gut? Elodie, hören Sie mich?“ Der Captain sprach auf die Ärztin ein und packte sie am Unterarm. Da erst reagierte sie und stellte die beiden Becher auf den Tisch.
„Was haben wir uns da nur an Bord geholt?“, murmelte sie.
„Auf jeden Fall wird es Zeit, die Nanobots schnellstens loszuwerden. Bitte bereiten Sie sofort eine Folgeoperation für Richard vor!“
Die Ärztin willigte ein und der Captain wandte sich an Junis.
„Was machen wir mit diesem Krabbler? Vorerst sollten wir ihn auch in einer mobilen Stasiskammer ins Land der Träume schicken. Begleiten Sie Elodie und besorgen Sie sich ein passendes Modul aus dem Lagerraum der medizinischen Abteilung.“
„Ich mache mir Gedanken über einen sicheren Platz zur Aufbewahrung und werde Sie informieren“, fügte Vanti hinzu.
„Dann findet man mich ab sofort in der Navigationszentrale.“
Der Captain war gerade im Begriff das Labor zu verlassen, als der Kommunikator des Labors surrte.
„Nali, was gibt es?“, fragte Junis.
„Kommt bitte sofort auf die Krankenstation, etwas Schreckliches ist passiert!“