21

 

Jason taumelte etwas und stolperte gegen einen hohen Zaun aus schwarzen, schmiedeeisernen Stangen. Der plötzliche Schmerz an seiner aufgeschürften Schulter rüttelte ihn wach. Erneut versuchte er instinktiv, den bereits hochgeschlagenen Kragen seines Regenmantels gegen den beständig auf ihn einpeitschenden Regen aus dem bleiernen Himmel der Hauptstadt noch höher zu ziehen. Er war jetzt seit mehr als zwanzig Stunden in Washington. Solange er in Bewegung blieb, seiner Wohnung oder jedem anderen Ort, wo man ihn kennen würde, fernblieb, glaubte er, eine gute Chance zu haben, bis zum kritischen Augenblick in Freiheit zu bleiben. Bis hierher hatte er es immerhin geschafft. Vermutlich hatte er noch sechs weitere Stunden Zeit.

Er gab einen Augenblick der verführerischen Müdigkeit seiner Beine nach, lehnte sich gegen die Eisenstäbe und holte das zusammengefaltete Zeitungsblatt aus der Tasche. Es war so zusammengefaltet, daß man drei Spalten auf dem Titelblatt sehen konnte, sein Bild und einen Teil der Überschrift:

… FBI GESUCH …

Darunter ein Bild von ihm in Hemd und Hosen, zum Glück vor drei Jahren aufgenommen. Und dann ertappte er sich dabei, wie er zum dritten Mal den einleitenden Absatz des Artikels las:

Von Will Uhlmann: Auch heute noch von der Polizei gesucht wird Dr. Jason Barchar, den das FBI im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Verrat von Regierungsgeheimnissen an eine unbekannte fremde Macht verhören möchte.

Jason riß sich von dem Artikel los. Was hier geschrieben stand, war nicht wichtig. Sein Bild war wichtig. Zum Glück hatte er in den letzten paar Wochen abgenommen, und die Bartstoppeln von mehr als sechsunddreißig Stunden versteckten sein Gesicht. Und jetzt kam es darauf an, daß er sich nicht in seiner gewohnten Art bewegte, handelte oder auch nur hinstellte. Die meisten Menschen verrieten sich durch ihre Gewohnheiten, ihre Haltungen und ihre Handlungen – das hatte er einmal gelesen, irgendwo, es lag so lange zurück, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, wo und wann das gewesen war. Irgendwann in jener fernen Vergangenheit, ehe er das erstemal von einer Rasse von Wesen gehört hatte, die man die Ruml nannte.

„Das bist du nicht“, sagte er sich und starrte das Zeitungsbild an. „Du siehst nicht so aus, du lächelst nicht so, du fühlst dich auch nicht so. Du bist zwanzig Jahre älter als das, du hast nach vorn gebeugte Schultern, du bist ein Tramp … ein Nichts.“

Er steckte die Zeitung in die Tasche zurück. Zeit, sich wieder zu bewegen, ehe er an den eisernen Zaun gelehnt einschlief. Er stieß sich müde ab und setzte grimmig seine ungeheuer schweren und schmerzenden Beine in Bewegung. „Es ist einfach nicht wahr“, dachte er, „daß man im Stehen einschlafen kann.“ Er hatte das selbst bei der Militärausbildung getan, als man sie eines Tages nach einem Tagesmarsch von zweiunddreißig Meilen nachts geweckt und noch einmal in Marsch gesetzt hatte, dreißig Meilen Nachtmarsch. Im Mondlicht stumpf einen Fuß vor den anderen setzend, hatte er den weißen Tornister des Mannes vor ihm beobachtet, wie er sich dauernd auf und ab bewegte, auf und ab und auf und ab … und dann hatte er sich plötzlich dabei ertappt, wie er stolperte, beinahe in den vom Mondlicht beschienenen Graben neben der Straße fiel, und erst dann bemerkt, daß er die Reihe verlassen hatte. Er hatte sich dann zusammengerissen, und eine Weile andere Dinge angesehen, und dann hatte der Tornister wieder angefangen, seine Blicke einzufangen, auf und ab und auf und ab … und der ganze Vorgang hatte von neuem begonnen.

„Bloß nicht einschlafen“, dachte er. „Wenn ich einschlafe, werde ich überfahren.“ Seine Hand fuhr in die Tasche mit dem Dexedrin und den anderen Pillen, mit denen er eine Flasche gefüllt hatte, als er sich auf das hier vorbereitet hatte. Aber die letzten beiden Male, da er das Dexedrin eingenommen hatte, schien es nicht gewirkt zu haben. Jetzt wurde ihm nur noch übel davon.

Es regnete gleichmäßig aus einem Himmel, so finster, daß man am hellichten Tag die Straßenlaternen eingeschaltet hatte. In der Ferne grollte hin und wieder der Donner. Die Beleuchtung der Bürogebäude in der Stadt war eingeschaltet. Die Verkehrsampeln funkelten im Regennebel, wenn er eine Kreuzung erreichte.

Seine Kehle fühlte sich wie trockenes Sandpapier an, seine Augen waren schwer und trocken, sein Gesicht brannte unter der Hutkrempe und in dem hochgeklappten Kragen seines Regenmantels. Diese letzte Anstrengung nach der Erschöpfung der letzten Wochen war mehr, als er ertragen konnte. Er war krank, hatte Fieber.

Zuerst war er dankbar für das Fieber gewesen, weil er das Gefühl hatte, daß es ihn aufweckte und ihn wachsamer machte. Aber jetzt hatte der Kreis sich geschlossen, und er haßte es – es zehrte an seinen Kräften.

Seine Füße stießen gegeneinander, und er wäre beinahe hingefallen. Eine Frau, die in entgegengesetzter Richtung ging, sah ihn im Vorübergehen an mit einem Blick, der ihn einen Augenblick lang zusammengepreßte Lippen und verengte Augen erkennen ließ, als sie einen kleinen Bogen schlug, um nicht mit ihm zu kollidieren.

„So geht das nicht“, dachte er plötzlich. „Ich schaffe das nicht auf der Straße, wenn ich versuche, mich so in Bewegung zu halten.“

„Muß mich irgendwo verstecken“, dachte er.

Er schüttelte den Kopf und sah sich um, um festzustellen, wo er war. Einen Augenblick erkannte er die Straße nicht – und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Er war wieder in vertraute Gefilde geraten – und diesmal war er nur ein paar Häuserblocks vom Gebäude der Stiftung entfernt.

Ein paar Sekunden lang arbeitete sein Verstand messerscharf. Das Stiftungsgebäude! Das war eine Chance. Sein ursprünglicher Plan war gewesen, dorthin zurückzukehren und sich zwischen den Büchern zu verstecken. Er hatte den Plan dann verworfen, weil er fürchtete, dort in eine Falle zu geraten, aus der es keinen schnellen Ausweg mehr gab. Blieb er dagegen auf der Straße, so konnte er seine Pläne von einer Sekunde auf die nächste ändern.

Aber jetzt war ihm bewußt, daß sein Verstand nicht mehr richtig arbeitete, daß er jeden Augenblick aus physischer Erschöpfung zusammenbrechen und damit der Polizei in die Hände fallen konnte – oder, was ebenso schlimm war, irgendeinem guten Samariter, der die Polizei rufen würde. Nein, so hatte das keinen Sinn. Das Stiftungsgebäude bot mehr Sicherheit als die Straße.

Es war etwa drei Häuserblocks entfernt. Als er näher kam, begann es sich vor seinem geistigen Auge zu verklären – das Versprechen eines warmen Platzes am Kamin für einen Mann, der im Blizzard erstarrt. Eine Vision des Betts im Kellerraum, das er benutzt hatte, drängte sich ihm auf. Er kämpfte gegen den verführerischen Gedanken an, in einem Bett zu schlafen.

Er streifte jetzt mit einer Hand an der feuchten Ziegelmauer des Stiftungsgebäudes entlang, um sich auf den Beinen zu halten, und näherte sich der Seitengasse, die an der Hinterseite des Gebäudes vorbeiführte. Er bog in die Gasse ein. Nach etwa dreißig Fuß mußte der Hintereingang des Gebäudes kommen – der Eingang zur Küche der alten Kantine und zu der Treppe, die in den Keller hinunterführte. In der Küche würden Leute sein, die mittags dort arbeiteten. Wenn er Glück hatte, konnte er sich an ihnen vorbeischleichen. Er hatte da einen nicht ganz zu Ende gedachten Plan …

Jetzt hatte er die Metalltür in der Hinterwand des Gebäudes erreicht. In dem schwachen Licht konnte man die Kratzer und die Kritzeleien an der Blechtür erkennen. Er blieb stehen, lehnte sich gegen die geschlossene Tür und überlegte sorgfältig, was er tun mußte.

Dann füllte er seine Lungen, damit seine Stimme sicher und nicht erschöpft klang. Er schluckte ein paarmal, um sich die Kehle anzufeuchten. In der Ferne rollte der Donner, und der Regen prasselte stetig herunter. Er richtete sich auf, schlug mit der Faust gegen die Blechtür und riß sie auf.

„Stromableser!“ schrie er und ging hinein, ließ die Tür hinter sich zuknallen.

„Unten im Keller!“ rief eine Stimme aus der dampferfüllten Küche zu seiner Rechten. Niemand kam heraus, um ihn anzusehen. Er ging schnell weiter, damit seine Schritte normal klangen. Aber als er die schmalen Holzstufen hinunterging, versagten ihm plötzlich die Knie den Dienst. Beinahe wäre er gestürzt.

Aber sein Wille trieb ihn weiter, und wenige Sekunden später schlugen seine Schuhsohlen auf den harten Beton des Kellerbodens. Er ging einen Korridor hinunter, vorbei an den grünen Metalltüren, hinter denen die Vorratsräume lagen.

Seine Willenskraft ließ ihn beinahe im Stich, als er die etwas größere Holztüre zwischen den grünen Stahltüren zu seiner Linken erreichte. Dahinter waren der Raum und das Bett, das jetzt seit Stunden vor ihm schwebte, ebenso verführerisch wie der Traum von einer Quelle für einen in der Wüste Verlorenen.

Trotzdem ging er weiter durch die schmale Tür, die in die Bücherräume führte. Hier waren die Fenster nicht groß genug, um genügend Tageslicht hereinzulassen. Die künstliche Beleuchtung war abgeschaltet. Er griff in die Höhe, fand die herunterhängende Schnur der ersten Sechzig-Watt-Birne hinter dem Eingang und zog daran. Gelbes Licht enthüllte ihm die Bücherstapel und die Magazine und die enge Wendeltreppe, die nach oben führte.

Das Klettern kostete ihn große Mühe. Als er schließlich die dritte Etage erreicht hatte, stampfte er schwer die Gänge zwischen den Regalen hinunter, bis er die polierte Hartholztür erreichte, die zu Meles Büro führte.

Er legte sein Ohr an die Tür, lehnte sich dankbar und erschöpft dagegen und hörte das leise, höfliche Klicken ihrer Schreibmaschine – er seufzte –, und in seinem inneren Ohr klang es wie eine Explosion. Er legte die Hand auf den Türknopf, öffnete ihn und taumelte die beiden Stufen zu ihrem Schreibtisch hinunter.

Seine Hand tastete nach dem Papierkorb, wollte ihn umkippen und darauf Platz nehmen, so wie er es früher getan hatte. Aber die Mühe war zu groß, seine Kräfte waren ihr nicht mehr gewachsen. Die Knie versagten ihm den Dienst, und er fiel schwer auf einen großen tragbaren Video-Audio-Recorder, der neben ihrem Schreibtisch stand.

Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß ihr Gesicht ihn hinter der jetzt verstummten Schreibmaschine anstarrte. Er starrte zurück. Er hatte sich – vor undenklichen Zeiten – zurechtgelegt, was er ihr sagen würde … daß die Situation es unumgänglich machte, sie um ihre Hilfe zu bitten. Aber jetzt, da er sie von Angesicht zu Angesicht vor sich sah, hatte er weder die Kraft noch die Worte. Er saß einfach da, immer noch triefnaß, lehnte sich auf ihren Schreibtisch und starrte sie mit Augen an, die die Schlaflosigkeit trocken gebrannt hatte – und schwieg.

Und dann begann der Raum sich langsam auf ihn herunterzusenken. Er merkte kaum, wie er fiel, wie er von dem Recorder glitt, wurde sich seiner hilflosen Versuche, aufrecht zu bleiben, kaum bewußt … und dann … Schwärze.

Als er erwachte, war er wieder zwischen den Büchern. Nicht weit von der Tür, die zu Meles Büro führte, aber in einer Ecke. Das Licht warf Schatten, die ihm genügend Schutz boten, sollte hier jemand nach ihm suchen. Er befand sich in einer Ecke, halbaufgerichtet, und eine schwere graue Wolldecke bedeckte ihn und war um seine Schultern gewickelt.

Mele kniete vor ihm und goß etwas aus einer Thermosflasche in eine große Kaffeetasse. Er blinzelte sie unsicher an, sammelte seine verwirrten Sinne. Wie es ihr gelungen war, seine hundertsiebzig Pfund die Treppe hinaufzuschleppen – ganz zu schweigen von der Decke, in die sie ihn hatte einhüllen müssen –, war mehr, als sein müdes Gehirn sich jetzt vorstellen konnte.

„Trink das jetzt“, sagte sie und hielt die volle Tasse an seine Lippen. Er fing an zu schlucken, hielt aber dann so plötzlich inne, daß ein Teil der Flüssigkeit heruntertropfte. Plötzlich hatte er erkannt, daß das vielleicht Kaffee war. Dabei hatte er in den letzten vierundzwanzig Stunden unzählige Tassen Kaffee in Schnellimbissen und aus Kaffeemaschinen getrunken, so daß ihm allein von dem Gedanken übel wurde.

Aber dann beruhigte ihn der Geschmack, den er auf den Lippen empfunden hatte, und der Duft, der von der Flüssigkeit ausging. Es war heiße Fleischbrühe mit Gemüseeinlage, und die schmeckte wie eine fremdartige, wundersame Delikatesse aus einem fernen Land. Er war ebenso hungrig wie durstig, und ein Schüttelfrost, der sich mit dem Fieber in seinem Kopf angefreundet hatte, rüttelte ihn vom Kopf bis zu den Zehen.

Eineinhalb Tassen von der Suppe schluckte er hinunter – und dann war er plötzlich voll. Keinen weiteren Tropfen brachte er hinunter, und er kniff die Lippen zusammen und versuchte gleichzeitig, die Hand unter der Decke hervorzuarbeiten, um die Tasse wegzuschieben. Aber Mele begriff und nahm die Tasse weg.

„Jetzt schluck das“, sagte sie und holte ein paar Pillen und eine Tasse mit Wasser. „Das sind Antibiotica, Achrocidin.“

Er nahm die Pillen in den Mund und schluckte das kalte Wasser.

„Jason“, sagte sie und stellte die Tasse weg. „Hast du getan … was die behaupten?“

„Was?“ fragte er. „Was … behaupten die denn?“

„Hast du einen Filmstreifen an die Aufzeichnung gehängt, die Kator gemacht hat, und den Ruml gesagt, daß wir über sie Bescheid wissen und was es mit den Ködern auf sich hatte und ihnen ein Bild unserer Kriegsschiffe im Weltraum gezeigt?“

„Ja“, sagte er heiser, denn seine Kehle hatte inzwischen zu schmerzen begonnen. „Ich mußte. Weißt du …“

„Du brauchst es mir nicht zu erklären.“ Sie starrte ihn immer noch an, immer noch auf den Knien. „Mir ist es gleichgültig, warum du es getan hast. Als Swenson zu mir kam, um festzustellen, ob ich etwas über deine Pläne wußte, versuchte ich mir vorzustellen, warum du so etwas tun konntest – den einzigen Vorteil, den wir besaßen, den Fremden auszuliefern, die uns zehn zu eins überlegen sind. Dann, als sie dich nicht fanden und ich langsam erkannte, wie alle anderen darüber dachten – was sie vorhatten, falls sie dich erwischen würden –, wurde mir plötzlich klar, daß es mir egal war.“

Er sah sie an. In seinem fiebrigen Kopf summten und sangen ihre Worte, ohne verständlich zu werden.

„Jason …“ sagte sie. Sie griff durch die Decke nach seinem Oberarm. „Verstehst du denn nicht? Du mußt verstehen! Mir ist es egal, was du getan hast! Ich war stolz auf dich – ich dachte immer, alles müßte entweder richtig oder falsch sein, ganz gleich, was ich darüber dachte. Aber das kann ich nicht mehr!“ Sie beugte sich vor und drückte ihn durch die schwere Decke an sich, preßte ihr Gesicht gegen die grobe Decke über seiner Brust. „Nur du bist für mich wichtig. Du!“ Ihre Arme preßten ihn an sich, als wollte sie ihn erdrücken. „Und sie werden dich nicht erwischen! Das werde ich nicht zulassen!“

Er sah ihr dunkles Haar unter seinem Kinn, er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber seine Lippen zitterten nur, er brachte keinen Laut heraus. Und dann sah er, wie sich hinter ihr ein schwarzer Schatten bewegte, wie sich das Licht von der Decke verdunkelte. Einen Augenblick verschwand er, dann tauchte er wieder auf.

Er näherte sich ihnen, und plötzlich wurde der Umriß eines Mannes und dann einiger Männer, einer hinter dem anderen, daraus. Sie schlichen sich heran, während Mele sich immer noch an ihn klammerte und er dasaß, unfähig, etwas zu sagen.

Sie bemerkte ihre Anwesenheit nicht, bis ihre Hände sie packten und wegzogen. Und erst dann wurde ihr bewußt, daß sie Jason gefunden hatten, und sie fing an, sich zu wehren.