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Jason Barchar drehte sich im Schlaf. Das Gewicht seines Kopfes ruhte jetzt auf seiner rechten Schädelseite, dort, wo man ihm den Empfänger eingepflanzt hatte. Die Stelle tat immer noch weh, obwohl seit der Operation schon zwei Monate verstrichen waren, und so drehte er sich etwas weiter, bis er beinahe auf dem Bauch lag, und fuhr dann fort, von den Bären zu träumen.

Er träumte, er wäre wieder in den kanadischen Rockies wie damals vor sechs Jahren. Ganz still lag er in der warmen Frühlingssonne, den Feldstecher am Auge, und blickte auf die kleine Wiese mit den Birken hinunter. Die steifen, abgebrochenen Grasstoppeln stachen an den Handgelenken in seine Haut, dort, wo die Lederjacke zurückgerutscht war; seine Ellbogen taten bereits von den Steinen weh, auf denen sie ruhten, aber er achtete nicht darauf. Dort unten befanden sich etwa zwei Dutzend Bären, ganz in die Wut der Frühjahrspaarung und ihrer Kämpfe versunken. Die braunen und schwarzen Jungen hingen meistens in den Bäumen, die weiblichen Tiere hielten sich etwas im Hintergrund. Aber unmittelbar unter ihm, in einer künstlichen Arena, die von einem Gestrüpp gebildet wurde, umkreisten sich zwei männliche Tiere, aufrecht auf den Hinterbeinen gehend, den Hals wie Schlangen gebogen und die Köpfe voller Wut nach vorn gestreckt.

Ihre Wut machte sie blind. Sie sahen weder ihn noch die Weibchen noch die Jungen, und sein Anblick wäre ihnen auch völlig gleichgültig gewesen. Für die Kämpfer gab es jetzt nichts außer dem Gegner. Ihr Kampf wirkte beinahe wie ein Ritual, ungemein formell, wie sie immer wieder aufeinander zuschritten und sich dann schlurfend zurückzogen. Jasons Herz schlug mit dem ihren. Das war es, was einen Naturforscher aus ihm gemacht hatte. Denn das war eine Weltanschauung, nicht nur die Anwendung von Buchwissen, wie die Leute immer glaubten – weshalb sie auch Dinge wie diese Frühjahrskämpfe der Bären nicht verstehen konnten.

Sie glaubten, der Drang zu kämpfen, das Kämpfen selbst, das Gewinnen, das Verlieren, dies alles sei einfach nur eine Sache automatischen Instinkts. Aber das stimmte nicht. Brauchtum gehörte dazu und eine komplizierte Erfahrung, derer sich jeder Kämpfer bediente. Jeder Bär brauchte Entscheidungsvermögen und Mut. Da waren auch Hoffnung und Furcht und die Kunst, einen leeren Bluff von einer echten Bedrohung zu unterscheiden. Es gab viele Faktoren, die das Geschehen auf der Wiese bestimmten – und es gab keine zwei Kämpfe, die einander glichen.

So träumte Jason von seinem Erlebnis mit den Bären. Und das Summen der Insekten in seinem Traum verschwamm mit dem Summen der Klimaanlage an seinem Schlafzimmerfenster. Die ganze dunkle Wohnung in der regnerischen Juninacht war eine kalte, isolierte Höhle, völlig getrennt von den schlaflosen, nächtlichen Straßen Washingtons, wo die Taxis die ganze Nacht über den glitzernden Asphalt rollten, an den Verkehrszeichen und den Neonreklamen der Restaurants vorbei.

In dem Schlafzimmer bewegte sich nichts. Die Klimaanlage summte. Der Raum war von Schatten erfüllt. Das Licht einer Straßenlaterne leuchtete schwach durch die heruntergezogenen Jalousien und zeichnete zwei gespenstisch schwache Lichtrechtecke auf die Wand hinter dem Bett. Sie schienen im Begriff, ineinander zu verschwimmen, so undeutlich waren sie und so blaß.

Jasons Kleider lagen zusammengeknüllt auf dem Stuhl neben dem Bett. Der Teppich unter dem Stuhl war eine dunkle Fläche, die zu der offenen Tür und durch sie hindurch ins Wohnzimmer hinausreichte. Das fahle Licht, das durch die Fenster hereindrang, beleuchtete Bücherregale und ein Glaskabinett, vollgestopft mit den Bälgen kleiner Tiere, sorgfältig zusammengenäht, mit Borax konserviert und mit kleinen Etiketten versehen. Ihre große Zahl ließ sie in dem Kabinett wie ein Rudel Gefangener erscheinen. Eingeschlossen von unsichtbaren Glaswänden, ebenso wie die Bären von unsichtbaren Instinkten und Wünschen eingeschlossen waren. Auf den Bücherregalen, die die Wände des Raums vom Boden bis zur Decke bedeckten, ließ das schwache Licht, das durch die Jalousetten hereinfiel, undeutlich einige der Titel erkennen. P. Chapin, Präparation von Vogelhäuten; H. Hediger, Wildgänse in Gefangenschaft; K. P. Schmidt, Kommentar zu Klima und Evolution; W. K. Gregory, Die Entwicklung der Spezies …

Auf dem mit Papieren übersäten Schreibtisch lag der bis jetzt uneingelöste letzte Gehaltsscheck, ausgestellt an Jason S. Barchar von der „Studienabteilung für wilde Tiere“, die das US-Innenministerium kürzlich gegründet hatte. Der Scheck lautete nur über sein halbes Gehalt, da Jason die letzten beiden Monate Studienurlaub genommen hatte. Und unter dem Scheck lag eine zwei Wochen alte Geburtstagskarte mit der gekritzelten Aufschrift: „Alles Liebe – Liebe zum Geburts-un-tag, Mele.“

Isoliert, dunkel, schlummerte die Wohnung – mit Ausnahme des Empfängers, jenes winzigen Mikrogeräts, das man in Jasons Schädel eingebettet hatte. Mit seinem haarfeinen Draht, der zu gewissen Zentren seines Gehirns führte. Schlaflos, unisoliert, tastete der Empfänger durch den Hyperraum hinaus ins Weltall zu einem kalten, finsteren Fragment irdischer Herkunft, das so fern war, daß in diesem Augenblick dasselbe Sonnenlicht darauf fiel, das die Verurteilten in den Hexenprozessen von Salem im Jahre 1692 beschienen hatte.

Und diesem Fragment nahe und immer näher rückend – obwohl er das noch nicht wußte –, in einem Schiff, das nicht viel größer war als ein Zehn-Meter-Motorboot auf der Erde, kam ein anderer Träumer, ein Träumer, der nie die Frühlingsluft in den Bergen oder die schwüle Luft einer Nacht von Washington geatmet hatte. Er hätte keines der ausgestopften Tiere, kein menschliches Buch und kein Neonzeichen verstanden. Auch keine Geburtstagskarte wäre ihm begreiflich gewesen, und kein unterzeichneter Scheck hätte ihm genützt, noch hätten die Kämpfe irgendwelcher Bären ihn erregt.

Und dennoch – auch er träumte. Er saß mit den Händen auf einem mit Schaltern und Knöpfen bedeckten Tisch. Seine Hände waren ebenso wie sein Körper mit schwarzem Fell bedeckt. Aber sein Fleisch war warm; eine Lebensflüssigkeit, die von einem herzähnlichen Pumporgan angetrieben wurde, floß durch Adern in seinem Körper und wurde von Sauerstoff aus einer Atmosphäre, in der auch Jason hätte atmen können, erfrischt.

Sein Geist kannte seine eigenen Wünsche. Er spürte Hitze, Kälte, Triebe und Angst und die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen. Wilde Wut war in ihm – und Hoffnung.

Und jener andere Träumer träumte. Er träumte von einem weißen Palast mit vielen unterirdischen Stockwerken und nur drei Stockwerken über der Erde im Licht eines Sterns, den er noch nicht gefunden hatte. Und in der obersten Etage befanden sich die Mütter seiner Söhne und seine Söhne selbst, aufrecht, stark und ehrenhaft – und träumend, so wie er jetzt träumte.

Aber es war ein Wachtraum, den er träumte. Der Traum, ein Reich zu gründen.