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„Und du bist ganz sicher“, sagte der Prüfer, „daß es nichts an diesem Artefakt gibt, das du vergessen hast, uns zu berichten, nichts, das du vielleicht getan und dann wieder vergessen hast, als du an Bord gingst und es durchsuchtest?“

„Ich habe nichts vergessen“, sagte Jason-Kator. „Nichts.“

Er stand vor dem Prüfer in dessen Besprechungszimmer. Der Prüfer selbst war schwergewichtig und von den Jahren grau. Er war der Aton, ein ehrenwerter Mann, auf allen Welten der Ruml bekannt. Oberhaupt einer vielköpfigen Familie, ein Experte in seinem Fachgebiet der Untersuchung fremder Fragmente und Artefakte, die im Weltraum gefunden wurden. Er hatte das lange Leben eines ehrenwerten Mannes gelebt, und sein Harnisch war schwer von Ehren. Er blickte auf Jason jetzt nicht nur von der erhöhten Plattform seines Amtes, sondern auch vom Gipfel jenes langen Lebens herunter.

„Du bist erst seit zwei Perioden ein Erwachsener“, sagte er und blickte auf den Artefaktenbericht, richtete sich auf und schaute auf Jason herunter. „Und deshalb bist du so sicher. Ich wäre nicht so sicher, nicht nach all den Jahren. Selbst wenn ich noch so vorsichtig und sorgfältig vorgegangen wäre.“

„Der Zufallsfaktor …“ begann Jason.

„Junger Mann“, unterbrach ihn der Prüfer nicht unfreundlich, „der Zufallsfaktor ist ein Traum, eine Phantasie. Oh, es gibt ihn – es gibt ihn. Aber als Teil der statistischen Masse des Universums. Nicht als etwas, das man würdigen und in das Leben eines Individuums integrieren kann.“

Er verstummte wieder. Jason-Kator empfand ein tiefes Gefühl der Bedeutung dieses Augenblicks, wie dieser Mann, würdig an Alter und würdig an Ehren, seinen Bericht studierte.

„Gibt es denn etwas …“ fragte er vorsichtig, „etwas an dem Artefakt, das unerklärlich ist, Ehrenwerter?“

Der Prüfer hob den Blick von den Papieren und sah Jason an, als staune er darüber, ihn immer noch vor sich zu sehen.

„Nichts“, sagte er. „Nichts Offenkundiges, junger Mann. Nur scheint es mir, daß wir überraschend wenig Informationen daraus entnehmen können. Es ist gerade, als wäre die Explosion, die das Raumschiff – und darum handelt es sich bei unserem Artefakt ja – vernichtete, von Wesen hoher Intelligenz vorbereitet worden, um das in unserem Besitz befindliche Artefakt möglichst vieler informationstragender Elemente zu entkleiden.“

Jason spürte, wie die Angst seinen Herzschlag beschleunigte.

„Ihr meint also, Ehrenwerter“, fragte er mit ruhiger, kontrollierter Stimme, „daß Ihr den Planeten, von dem es stammt, nicht entdecken könnt?“

„Oh, das … ja“, sagte der Prüfer. „Aber es gibt soviel mehr, das wir wissen müssen, ehe wir eine Expedition zum Ursprungsplaneten des Artefakts schicken. Vieles davon sollten wir bereits hier ergründen können. Aber wir können es nicht.“ Wieder sah er den Bericht an. „Deshalb habe ich dich rufen lassen. Ich dachte, wir könnten von dir einen Hinweis erhalten … Übrigens“, sein Blick schien Jason zu durchbohren, „du bist doch nicht etwa für einen weiteren Aufklärungsflug eingeteilt, hoffe ich? Wir wollen dich hier haben, um Fragen zu beantworten, falls sich eine Notwendigkeit ergeben sollte.“

„Ehrenwerter“, sagte Jason, „ich habe veranlaßt, daß der Aufklärungsdienst mich aus seinen Listen streicht.“

„Gut …“ Der Prüfer nickte. Seine Augen musterten Jasons von schwarzem Fell bedeckte Gestalt von Kopf bis Fuß. „Übrigens – glaubst du, du könntest Ehre finden, indem du in meinem Stab hier arbeitest?“

„Ihr seid zu gütig, Ehrenwerter.“

Der Prüfer nickte.

„Ich hab’ es mir schon gedacht“, sagte er. „Diese Arbeit hier ist für die Energien eines jungen Menschen zu langweilig. Männer in deinem Alter wollen aktive Pflichten wie das, was du bei den Aufklärern getan hast. Nun, mein Angebot bleibt bestehen. Immer vorausgesetzt, daß du ein Mann von angemessener Ehre bleibst, kannst du später darauf zurückkommen, wenn du willst.“

Er starrte auf Jason hinunter.

„Vielleicht wirst du dich selbst überraschen und genau das tun“, sagte er. „Wenn wir jung sind, wollen wir alles über Nacht erreichen. Wir haben große Träume von großen Ehren und der Gründung von Reichen. Und so sollte es natürlich auch sein. Aber nach ein paar Jahren kommt die Zeit zu bedenken, daß es für jeden einzelnen, der ein Reich und eine Familie gründet, Millionen anderer geben muß, die die anderen Pflichten der Ehre erfüllen. Denn uns allen obliegt eine noch größere Verantwortung als jene, ein ehrenwerter Mann zu sein – das überrascht dich, junger Mann?“

„Ich …“ stammelte Jason. „Ich bin nur ein Zweitvetter.“

„Das macht keinen Unterschied“, sagte der Prüfer. „Selbst eine Waise ist Mitglied der Rasse. Und auch sie hat eine größere Verantwortung als jene für ihre eigene Ehre – nämlich die, dafür zu sorgen, daß er am Ende Teil einer ehrenwerten Rasse ist.“ Er starrte Jason überrascht und nicht unfreundlich an. „… was trauerst du, junger Mann?“

„Ich bin unwürdig!“ klagte Jason.

„Langsam“, sagte der Prüfer. „Habe ich nicht gesagt, daß der Jugend Träume und Phantasien wohl anstehen? Und wo stünden wir denn, wenn nicht hin und wieder aus solchen Träumen in großen Zeitabständen ein Gründer erwüchse? Ich habe dich nur gewarnt, auf der Suche nach persönlicher Ehre nicht alles andere zu vergessen. Komm …“ sagte der Prüfer, immer noch freundlich, „ich sehe, du bist ein sehr feinfühliger junger Mann. Wenn du noch fünf Perioden lebst, könntest du ein Mensch werden, auf den wir alle stolz sind. Du kannst jetzt gehen.“

Jason neigte den Kopf und ging rückwärts hinaus. Erst als er den mächtigen Gebäudekomplex des Prüfzentrums hinter sich gelassen hatte, gelang es ihm, seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er ging zu den Maklerbüros im Stadtzentrum und dachte über sich selbst nach. Es war so seltsam – in dem einen Augenblick war sein Ehrgeiz so groß, daß er auf alle herunterblickte, und im nächsten Augenblick reichten ein Wort oder zwei, wie jene, die er gerade gehört hatte, um ihn vor sich selbst unwürdiger erscheinen zu lassen als die gemeinste Waise in einem Wohlfahrtsheim. Benommen schüttelte er den Kopf.

Bis er die Maklerbüros erreichte, hatte er das Gefühl abgelegt und fand sich wieder ganz in der Gewalt der Entschlossenheit, die sein Leben seit jenem Augenblick beherrscht hatte, als er das Artefakt zum erstenmal mit den Instrumenten seines Schiffes wahrgenommen hatte. Er fand den Makler, den Bela Erstvetter ihm empfohlen hatte, und gab ihm seine Werteliste.

Der Makler warf einen geübten Blick auf die Liste und wandte sich dann seinem Computerterminal zu, um die Tageswerte der einzelnen Stücke zu überprüfen. Als er fertig war, nickte er nachdenklich, tippte eine Summe und gab Jason die Liste zurück.

„Gar nicht schlecht für einen Zweitvetter in seiner zweiten Periode“, sagte der Makler. Er war ein Stab-Gläubiger und gehörte der Familie Machidae an, die den Brutogasi immer freundlich gesinnt gewesen war – das ging auf ein Wassergeschenk zurück, das der ursprüngliche Brutogas dem jungen Gründer der Machidae gemacht hatte.

„Es ist natürlich dieses Guthaben aus der Belohnung für das Auffinden jenes Artefakts, das die Summe so ungewöhnlich hoch macht. Was hattest du mit der Liste vor?“

„Ich möchte sie zu Geld machen“, sagte Jason.

Der Makler hob die Brauen.

Jason mußte eine Weile reden, um den Makler zu überzeugen – einen vernünftigen Mann, bereits auf dem besten Wege zu einem ehrenwerten Alter –, daß dies wirklich seine Absicht war. Und noch mehr Überredungskunst gehörte dazu, den Makler davon zu überzeugen, daß auch der letzte Teilbetrag, eine Option auf den Notfonds der Brutogasi, eingeschlossen werden sollte.

„Das kannst du nicht tun“, sagte der Makler schließlich. „Oder besser gesagt, ich tue das nicht. Wenn du dich genügend bemühst, kannst du wahrscheinlich irgendein skrupelloses Individuum finden, das auch diesen Betrag für dich zu Geld macht – doch ich lehne das ab. Aber ich bin bereit, dir ein Darlehen darauf zu geben – bis zu Dreiviertel des Wertes. Und damit verstoße ich bereits gegen meine eigene Ehre und gegen die Freundschaft zwischen unseren Familien. Du bist dir doch im klaren darüber, was geschieht, wenn du das Darlehen nicht innerhalb einer Periode zurückbezahlen kannst, oder?“

„Ja“, sagte Jason.

„Ich will es trotzdem aussprechen“, sagte der Makler. „Wenn du es bis dahin nicht zurückbezahlt hast, habe ich einen Anspruch gegen die Familie Brutogas, und du weißt genau, was das bedeutet. Dein Familienoberhaupt wird unverzüglich bezahlen, aber im gleichen Augenblick wirst du zu einer Verbindlichkeit für die Familie – da auch weitere Schulden bezahlt werden müßten, aber du keinen persönlichen Kredit mehr hättest, um für die Zahlung aufzukommen. Deine Familie müßte sich also in einem Akt der Notwehr von dir lossagen. Weißt du, was es bedeutet, ohne den Schutz der Familie leben zu müssen?“

„Das wäre nicht das erstemal, daß ehrenwerte Männer so gelebt hätten“, sagte Jason halsstarrig.

„Ehrenwerte Riesen! Ehrenwerte Genies!“ sagte der Makler. „Aber nicht so etwas Schwaches wie gewöhnliche ehrenwerte Männer. Die meisten gewöhnlichen Menschen, gleichgültig wie ehrenwert auch jeder einzelne sein mag, begehen entweder kurz darauf Selbstmord oder werden von irgendeinem Individuum, das einer Familie angehört, getötet, da dieses Individuum ja weiß, daß niemals jemand eine Frage stellen wird – wie es natürlich auch durchaus recht und billig ist. Es hätte wenig Sinn, Familien zu haben, wenn es so leicht wäre, außerhalb von Familien zu existieren. Was feststeht, ist jedenfalls, daß ein Verstoßener selten länger als noch ein paar Tage lebt, wenn er Glück hat. Und es ist ein zweckloser Weg zum Tode – du willst es aber dennoch tun?“

„Ja“, sagte Jason, obwohl sich sein Magen dabei zusammenzog. Sein Vorstellungsvermögen war stark genug, um sich die schreckliche Einsamkeit ausmalen zu können, in der man ohne Familie oder Namen leben mußte.

„Nun gut“, sagte der Makler. „Und du willst mir nicht sagen, wozu du das Geld brauchst?“

„Nein, lieber nicht“, sagte Jason.

„Gut. Ich habe dir gesagt, was mir mein Gewissen gebot. Unser Geschäft wäre damit abgeschlossen. Es wird etwa eine Stunde dauern, die Papiere fertig zu machen, aber praktisch betrachtet kannst du sofort Wechsel gegen die Summe ausstellen, die ich hier notiert habe.“

Jason dankte ihm und ging hinaus.

Wieder im Licht der weißen Sonne, bestieg Jason einen Pendelbus, der durch die Tunnels zur anderen Seite der Stadt fuhr, wo sich die meisten Sportanlagen befanden. Jason suchte sich eine Fechtschule aus, wo der Gebrauch des Duellschwerts gelehrt wurde. Beinahe hätte er den Eingang verpaßt, denn es handelte sich um ein einfaches, kahles Zimmer, lediglich mit einem kleinen Teich in der Mitte und ein paar kargen Sitzplattformen an den Wänden. Dann sah er das Zeichen über dem Eingang, welches verkündete, daß dies die Schule von Brodth Jüngerbruder Clanth, Schwertmeister, sei. Er trat ein.

Drinnen hörte er das Schlurfen von Füßen und das Klirren von Metall auf Metall. Es gab keine Tür zu diesem Innenraum, was ihn überraschte – oder was ihn vielleicht überrascht haben würde, hätte er es hier nicht mit einem Schwertmeister vom Ruf eines Brodth Jüngerbruders zu tun gehabt. Bei einem Schwertmeister von solch hohem Ruf war es zweifellos Ehrensache, weder öffentliche noch private Schlüsselträger zu beschäftigen.

Jason trat in den inneren Raum. Er sah eine rechteckig angelegte, hell erleuchtete Halle mit hoher Decke, in der drei Paare von Fechtern miteinander übten. Ein hochgewachsener, schlanker Ruml von ungewöhnlich gerader Haltung ging von Gruppe zu Gruppe, um seine Anweisungen zu erteilen. Hin und wieder klatschte er ein paar Sekunden lang rhythmisch in die Hände, um einen der Fechter wieder zu dem Rhythmus zurückzuzwingen, der für Schwertarbeit nötig war.

„… vorbeugen“, sagte seine rauhe, ziemlich hoch klingende Stimme erregt zu einem der Fechter am Ende des Saals. „Du mußt dich in deinen Schlag hineinlehnen! Und wieder! Und wieder – der Schlag kommt aus der Hüfte – so! Und wieder …!“

Als er Jason sah, verstummte er und kam auf den Eingang zu. Er bewegte sich mit dem schnellen, an ein Metronom erinnernden Gang eines ausgebildeten Fechters – seine Schritte waren so gleichmäßig wie das Ticken einer erstklassigen Uhr.

„Ehrenwerter?“ sagte er und blickte auf Jason hinab. „Ich bin Schwertmeister Brodth.“

„Ich möchte hier Schüler werden und die Kunst des Schwertkampfes studieren“, sagte Jason.

„Eine Ehre …“ Brodth neigte seinen schon etwas angegrauten Kopf. „Zweifellos weißt du, daß meine Gebühren etwas höher sind als die üblichen?“

„Ja“, sagte Jason. „Ich weiß. Es macht mir nichts aus, den dreifachen Preis zu bezahlen, wenn ich unter einem Meister studieren kann.“

„Danke“, sagte Brodth und neigte den Kopf, ohne daß sein Gesichtsausdruck sich dabei veränderte. Dann lehnte er sich etwas zur Seite und deutete auf die Fechterpaare. „Meine drei Gehilfen sind im Augenblick beschäftigt, du kannst dir also aussuchen, mit wem du arbeiten willst. Alle drei haben Termine frei. Wenn ich einen Vorschlag machen darf … wie vertraut bist du mit der Duellwaffe?“

„Ich habe zwei Perioden regelmäßig damit gearbeitet“, sagte Jason. „Natürlich … allein … und mit anderen in meiner Familie.“

„Aha. Nun, dann würde ich Lyth Vettersvetter vorschlagen. Der ist vielleicht für den Anfang etwas zu stark für dich – er ist mein bester Gehilfe –, aber wenn du willst …“

„Ich wollte mit dir arbeiten“, sagte Jason.

„Aber du arbeitest mit mir …“ Brodth hielt inne. Die Haut um seine Nase spannte sich, und seine Augen verengten sich. „Ehrenwerter“, sagte er trocken, „ich stehe nicht zur Verfügung. Wenn du direkt mit einem Schwertmeister arbeiten willst, gibt es andere Fechtschulen …“

„Ehrenwerter“, sagte Jason. „Als Mann von Ehre liegt mir nichts ferner, als Euch in irgendeiner Weise beleidigen zu wollen. Meine Lage ist ungewöhnlich und ernst. Binnen weniger Tage werde ich einen Mann vom Geschick und den Fähigkeiten eines durchschnittlichen Schwertmeisters schlagen müssen.“

Brodth sah ihn an.

„Und wer …“ erkundigte er sich, immer noch mit trockener, ausdrucksloser Stimme, „wer ist dieser Mann?“

„Ich weiß es noch nicht“, sagte Jason. „Aber wahrscheinlich wird es ein Meister eines der Familienoberhäupter sein.“

Brodth starrte ihn eine volle Sekunde lang an. Dann lockerte sich die Spannung in seinem Gesicht, und seine Augen blickten ihn mit so etwas wie Humor an.

„Wenigstens“, meinte er, „bist du nicht irgendein junger Tunichtgut, der sich einbildet, er könnte sich das Recht kaufen, damit zu prahlen, Brodth Jüngerbruder sei sein persönlicher Fechtmeister.“

„Ehrenwerter“, sagte Jason bescheiden, „es wird mir ein Vergnügen sein, es sogar geheimzuhalten, wenn Ihr dies wünscht.“

Brodth lachte. Jason sah, daß er wie die meisten Schwertmeister schon vor langer Zeit aufgehört hatte, in Fragen seiner persönlichen Ehre empfindlich zu sein – die ja ohnehin kein gewöhnlicher Laie herausfordern würde. Jasons Hoffnung stieg. Er hatte sich viel erhofft, aber daß Brodth Sinn für Humor haben würde, überstieg seine kühnsten Erwartungen.

„Nun schön“, sagte der Schwertmeister. „Komm her.“ Er führte Jason an ein Regal mit den langen, doppelklingigen Duellrapieren mit ihren Korbgriffen – Waffen, die bis auf Schneide und Spitze mit den echten Waffen, die in Ehrensachen benutzt wurden, völlig identisch waren. „Wähle eine“, sagte er zu Jason, „und dann zeig mir die ersten sechsundzwanzig Schläge der Grundübung. Ich werde dir zusehen und daraus alles, was ich wissen muß, entnehmen können.“

Jason spürte, wie der Pelz unter seinem Kinn feucht von Schweiß wurde, während er das Schwertregal ansah. Waffen jeder nur denkbaren Länge und jedes zulässigen Gewichts standen hier zur Verfügung. Als Schwertmeister und insbesondere als der Mann, der in den interplanetarischen Meisterschaften der besten Fechter der ganzen Rumlrasse den Titel davongetragen hatte, hätte Brodth ohne zu zögern die schwerste und längste Waffe für sich ausgewählt. Aber Jason, erst seit zwei Perioden erwachsen, hatte noch kaum die Durchschnittsgröße eines Ruml erreicht.

Schließlich wählte er ein Schwert, das er sogar für etwas leichter und kürzer hielt als das, mit dem er im Brutogasischloß geübt hatte. Er wog es in der Hand, die Spitze nach oben, und schlug dann ein paarmal damit zu, um ein Gefühl für die Elastizität der langen Zwillingsklingen zu bekommen. Dann stampfte er einmal auf den Boden, um sich an den Rhythmus zu gewöhnen, und fing dann an, die Routineschläge der Grundausbildung durchzuführen.

Er griff in fünf Bewegungen an, wich vier Tempi zurück, griff sechs an, wich zwei zurück, griff zwei an, ging zwei zurück, griff vier an … und plötzlich überkam ihn tiefe Scham. Sein fünfter Angriff, der abschließende Ausfall, ließ ihn stolpern und beinahe das Gleichgewicht verlieren.

Er riß sich zusammen. Sein Nackenpelz war feucht vom Schweiß des Selbsthasses und des Elends. Er legte das Schwert auf das Regal zurück und drehte sich um. Jetzt würde Brodth ihn eisig auffordern, den Fechtsaal zu verlassen.

Aber das geschah nicht. Brodth sah ihn eigenartig an. „Ich weiß nicht, was …“ begann Jason zu stammeln, aber Brodth schnitt ihm mit einer gleichgültigen Handbewegung das Wort ab.

„Dieser Fehler?“ sagte der Schwertmeister. „Nichts. Du hast dich plötzlich daran erinnert, daß ich zusehe. In einem echten Duell wäre das nicht passiert. Nein …“ – er sah Jason an und rieb sich das Kinn – „… du bist nicht schlecht. Du hast kein zu schweres Schwert gewählt, um damit vor mir zu prahlen. Deine Reflexe sind wirklich ausgezeichnet. Und als du jetzt den Fehler machtest, hast du gar nicht erst versucht, ihn auf eine fremde Waffe oder den zu glatten Boden zu schieben.“

Er verstummte, rieb sich wieder das Kinn und betrachtete Jason interessiert.

„Dann …?“ fragte Jason. „Ihr meint, es wäre möglich? Ich könnte ausgebildet werden und gewinnen?“

Brodth nahm die Hand vom Kinn. „Gegen den Meister eines Familienoberhauptes?“ fragte er. „Nicht in tausend Jahren. Wie gesagt, deine Reflexe sind ausgezeichnet. Wenn das alles wäre …“ Er zuckte die Achseln. „Aber du bist zu klein, mein junger Freund.“ Er sah Jason beinahe mitfühlend an. „Ein Familienmeister hat allein schon eine Reichweite, die eine halbe Armeslänge größer ist als die deine. Darüber hinaus ist er um ein Drittel schwerer – ganz zu schweigen von seiner Erfahrung und von seinen Reflexen, die mindestens ebenso schnell sind wie die deinen.“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte er, „glaube mir – ich nehme nicht einmal Geld für diesen Rat. Fordere diesen Mann nicht heraus.“

„Ich fürchte …“, sagte Jason, „ich habe keine Wahl.“

„Keine Wahl?“ Brodth starrte ihn an. „Was soll das heißen. Er kann doch unmöglich dich herausgefordert haben – das wäre nicht möglich. Und er kann dich auch nicht dazu zwingen, ihn herauszufordern. Schau“, sagte er dann, „wenn jemand seine Position oder seine Fechtkunst als Meister eines Familienoberhaupts ausgenützt hat und dich …“

„Nein. So ist es nicht“, sagte Jason. „Wie gesagt, ich weiß nicht einmal, wen ich herausfordern muß. Aber es wird nicht lange dauern, dann muß ich es tun.“ Er zögerte.

„Ehrenwerter, ich wiederhole, mir liegt nichts ferner, als Euch beleidigen zu wollen, aber wenn Ihr mir auch nur ein klein wenig helfen könntet, selbst in dem Wissen, daß es hoffnungslos ist …“ Er zog die Werteliste aus der Tasche seines Harnischs und reichte sie dem Schwertmeister.

„Ich habe ein ausreichend großes Konto, und selbst wenn einer Eurer Gehilfen mir helfen …“

„Bei meinem Schwert und bei meiner Ehre!“ platzte Brodth heraus und starrte die Liste an. „Du hast das Guthaben deiner Familie verpfändet? Um Fechtstunden zu bezahlen?“

Jasons Nacken zitterte. Unter Aufbietung größter Willenskraft hinderte er sich daran, dem Schwertmeister die Liste wieder wegzureißen. Er hatte lediglich vorgehabt, dem Mann die Summe zu zeigen. Die Verlegenheit, die er empfand, ließ seine Augen brennen.

Der Fechtsaal, der ihn umgab, schien zu schwanken. Er sah nach rechts und links und rechnete damit, daß die Helfer und Schüler alle ihr Fechten eingestellt hätten und ihn anstarrten. Aber dann sah er plötzlich, daß außer ihm und Brodth der Saal leer war. Die anderen hatten ihre Übungen abgeschlossen und den Saal verlassen.

„Ich plane …“ Jasons Stimme klang heiser. „Ich plane eine große Anstrengung …“

„Aber du junger Narr!“ Das war recht typisch für Fechtmeister, daß sie keinerlei Rücksicht auf die Empfindlichkeit anderer Leute nahmen. „Ist dir denn nicht klar, daß deine Familie dich ausstoßen wird, wenn du nicht rechtzeitig bezahlen kannst? Und wie kommt es überhaupt, das jemand in deinem Alter über eine solche Summe verfügt? Was hast du vor – willst du ein Reich gründen?“

„Ja“, gab Jason gequält zu. „Ich …“

Er hielt inne, merkte jetzt, daß Brodth ihn anstarrte und merkte zu spät, daß der andere seine Frage nicht ernst gemeint hatte. „Das … ist dein Ernst?“ sagte der Schwertmeister schließlich. „Du glaubst tatsächlich … weißt du eigentlich, welche Wahrscheinlichkeit dagegen spricht, daß ein Mann …?“

Jason nickte grimmig. „Deshalb wollte ich es auch niemandem gegenüber erwähnen“, sagte er etwas steif. „Darf ich mich auf Euch als auf einem ehrenwerten Mann verlassen, daß Ihr …“

„Ja, ja, natürlich …“ murmelte Brodth und starrte ihn immer noch an. „Wie heißt du?“

Jason sagte es ihm. Brodth starrte ihn noch ein paar Sekunden an, und dann leuchtete in seinen Augen plötzlich das Erkennen auf.

„Du bist der Aufklärer, der vor ein paar Wochen dieses Artefakt im Weltraum gefunden hat!“ stieß er hervor.

„Ja“, sagte Jason. Und dann drehte er sich um und ging zum Eingang. „Nun, Ehrenwerter, wenn keiner Eurer Gehilfen mir …“

„Warte!“ sagte Brodth.

Jason drehte sich um. Der Schwertmeister musterte ihn mit eigenartigem Blick.

„Du wirst es vielleicht nicht glauben“, sagte er langsam, „aber ich war auch einmal ein solch junger Narr. Ich hatte mir die Idee in den Kopf gesetzt, ein Reich zu gründen …“ Einen Augenblick lang leuchteten seine Augen. „Und es war gar nicht so weit hergeholt …“ murmelte er. „Rassenmeister in drei aufeinanderfolgenden Jahreszeiten … ich hätte noch eine Stufe weiterkommen können.“ Dann faßte er sich, und seine Stimme klang wieder normal.

„Komm mit.“

Er führte ihn in das Vorzimmer mit dem Teich zurück und durch eine geschlossene Tür, die Jason vorher nicht aufgefallen war, in einen Raum, der zur Hälfte Büro, zur Hälfte Wohnzimmer war. Er geleitete Jason durch eine weitere Tür in ein Zimmer, das wie ein kleiner Fechtsaal aussah. An den Wänden hingen einige Waffen, alte und moderne.

„Unser augenblickliches Duellschwert nützt dir nichts“, murmelte Brodth. „Da liegen alle Vorteile bei dem größeren, stärkeren Mann. Aber hier …“ Er blieb stehen. „Schau dir die an.“

Jason folgte Brodths Blick. Er sah zwei doppelklingige Schwerter, die gekreuzt an der Wand hingen. Sie hatten praktisch kein Heft, und die Klingen waren um ein Vielfaches breiter als die Klinge eines normalen Schwertes und nur halb so lang. Zwischen dem X, das diese Schwerter bildeten, hingen zwei runde Metallscheiben, die Jason plötzlich als Schilde erkannte. Er sah hier Waffen, wie man sie vor beinahe zweitausend Jahren gebraucht hatte.

„Hier“, sagte Brodth und wies mit seiner mit grauem Pelz bewachsenen Hand darauf, „sind Waffen, die deinen Fähigkeiten ebenso entgegenkommen, wie die augenblicklichen Duellschwerter deinem Widersacher nützen würden. Wir haben nicht sehr viel Zeit, um einen antiken Rumlkrieger aus dir zu machen, aber – bist du bereit, ein Risiko einzugehen, Kator Zweitvetter?“