18
Kator stand da und starrte den Eingeborenen an. Er starrte eine Gestalt an, die am abschüssigen Bachufer hinter der Brücke saß.
Jason starrte sich selbst an. Er selbst starrte sich selbst an.
Ein Behälter mit brennender Vegetation hing an seinem Mund, und Rauch kräuselte daraus hervor. Er war in eine blaue Beinbedeckung eingehüllt, und sein Oberkörper steckte in einer abgewetzten, mit Ärmeln versehenen Hülle aus Leder. Seine pelzlosen Hände hielten einen langen Stab aus eingeborener Vegetation über die Wasser des Baches. Am Ende des Stabes hing eine Leine, die in das Wasser hinunterreichte. Die Lippen in seinem pelzlosen Gesicht verzogen sich nach Art der Eingeborenen nach oben, in einer Art, die nicht Aufregung oder Wut, sondern Freundlichkeit bedeutet.
Aber er selbst stand gegenüber am Ende der Brücke. Da war etwas gleichzeitig Tapferes und Klägliches an der kleinen Gestalt, die er vom Bachufer aus ansah. Kein menschliches Wesen hätte sich auch nur einen Augenblick durch sein Aussehen täuschen lassen. Die Kleider, die er trug, waren primitiv und falsch verschlossen. Und die Gestalt, die sich in ihnen versteckte, stand gebückt da wie Groucho Marx in den alten Filmkomödien Anfang der dreißiger Jahre. Das rasierte Gesicht wirkte ohne seinen Pelz und ohne den Bart wie das eines Kindes, und das ganze Wesen war höchstens einen Meter fünfzig groß.
Für Jason war es phantastisch, gleichzeitig einen Meter fünfzig und einen Kopf größer zu sein. Geduckt dazustehen und im gleichen Augenblick aufrecht dazusitzen. Über seinen eigenen Anblick zu erschrecken und über seinen eigenen Anblick Mitleid zu empfinden … Jasons Betrachtungsweise sprang von seinem menschlichen Körper in den Kators, von seinem Katorkörper in den Jasons … in seinen Katorgeist … in seinen Jasongeist. Er war Jason. Er war Kator. Er war Jason-Kator oder Kator-Jason … Jason … Ka-tor-Jator-Jaskatoron … er war beide. Die Persönlichkeiten verschwammen ineinander. Glichen sich an. Gingen ineinander auf. Er taumelte.
„Bist du krank?“ fragte er sich selbst. Vielleicht war es ein Eingeborener, der von einer Krankheit infiziert war, für die seine Rasse anfällig war.
„Nein“, sagte er und fing sich wieder. „Was machst du hier? Kleiner Spaziergang?“
„Ja“, sagte er und fragte sich gleichzeitig, ob der Eingeborene seinen Akzent bemerkte. „Du angelst?“
„Forellen“, antwortete er und bewegte seine Rute. Ein kleines, buntes Etwas hüpfte auf den Wellen, dort, wo die Leine in das Wasser eindrang.
„Aha“, sagte er, ohne zu wissen, was Forellen waren. „Gibt es hier welche?“
„Nun“, antwortete er, „man weiß nie, was man fängt. Bist du von hier aus der Gegend?“
„Nein“, sagte er.
„Stadt?“ fragte er.
„Ja“, sagte er. Er dachte an die planetenweite Stadt der Heimatwelt. Ja, er war aus einer Stadt.
„Wo geht’s denn hin?“
„Oh …“ – er hatte sich das noch auf dem Mond zurechtgelegt – „… ich dachte, ich geh’ zu den Gebäuden dort hinten und suche eine große Straße und vielleicht ein Fahrzeug zur nächsten Stadt.“
„Dann geh nur weiter“, sagte er zu seinem kleinen, geduckten Ich. „Ich würde dir den Weg zeigen, aber ich muß fischen. Du kannst es ohnehin nicht verfehlen.“
„Danke. Und viel Glück mit deiner Jagd im Wasser hier.“
„Danke, Freund.“
Der Impuls kam tief aus seinem Inneren. Er hatte recht gehabt – er hatte recht gehabt. Aber er hatte Kator von Angesicht zu Angesicht als er selbst entgegentreten müssen, um die beiden Persönlichkeiten übereinanderzulegen, wie Ausschnitte aus einem Stück Pappe. Jetzt hatte er es getan, und die Überlappung war zu deutlich und ausgeprägt. Und dann sagte er zu der kleinen, geduckten Gestalt mit dem rasierten Gesicht. „Wir sind uns sehr ähnlich – mehr als du glaubst.“
Er starrte sich an, vermochte das Gehörte nicht zu begreifen. Was der Eingeborene gesagt hatte, klang vernünftig, war es aber nicht. Es schien, daß der Eingeborene sich auf etwas bezog, was er für selbstverständlich hielt, etwas, das er jedoch in ihrer Unterhaltung vorher nicht erwähnt hatte.
„Ja“, sagte er und beschloß, die unbegreifliche Bemerkung einfach zu ignorieren. „Ich muß jetzt weiter.“ Als er sich gerade abwenden wollte, bewegte ihn ein seltsames Gefühl. Vielleicht war es ein Impuls des Zufallsfaktors. Der Eingeborene hatte ihn verblüfft – es würde nicht schaden, den Eingeborenen auch zu verblüffen. Und wenn der andere unruhig wurde, so trug er immerhin Handwaffen bei sich, mit denen er ihn schnell und geräuschlos töten konnte. „Vielleicht“, sagte er, von diesem seltsamen Impuls beflügelt, „vielleicht kannst du mir sagen – bin ich hier unter Freunden?“
„Ja“, sagte der Eingeborene. „Du bist hier unter Freunden.“
Sein Magen zog sich zusammen. Zweifellos war es der Zufallsfaktor, der ihn veranlaßt hatte, so zu sprechen – und den Eingeborenen veranlaßt hatte, auf höfliche, ehrenwerte Rumlart zu antworten. Vielleicht wollte ihm der Zufallsfaktor damit zeigen, daß diese Eingeborenen seines künftigen Reiches nicht ohne Ehre waren, wie er früher befürchtet hatte, als die Berichte der Sammler darauf hinwiesen, daß sie keine Waffen besaßen und sich nicht duellierten. Dankbarkeit stieg in ihm auf. Er hob in grüßender Art, in der Art der Eingeborenen, die Hand und sprach still für sich einen Segen für diese fremde Eingeborenengestalt, die ihn nie verstanden hätte, selbst wenn er ihn laut ausgesprochen hätte – lagen doch so viele Jahrtausende Rumlgeschichte dahinter.
„Wasser sei mit dir, Schatten sei mit dir, Frieden sei mit dir …“
Und ohne den Blick vom Wasser abzuwenden, hob der Eingeborene die Hand – gerade als hätte er ihn gehört.
Und Jason drehte sich in seinen schwerfälligen Hüllen um und ging in dem Rumlkörper Kators auf die Fabrik zu.
Der Feldweg beschrieb einen kleinen Bogen. Dann stand er vor dem breiten Drahttor, wo die Straße auf dem Fabrikgelände in die Tiefe führte. Das Tor war verschlossen und abgesperrt. Jason in Kators Körper sah sich um, erblickte niemanden und nahm einen Silberkegel aus der Tasche. Er berührte damit das Schloß. Es gab eine kleine Rauchwolke, und das Tor senkte sich nach innen. Er schob sich durch, schloß das Tor hinter sich und ging auf das Gebäude mit dem Liftschacht zu.
Auch die Tür dieses Gebäudes war versperrt. Wieder sah Jason sich um, aber die Bewacher der verlassenen Fabrik schienen nicht auf ihn zu achten. Jason hielt das kegelförmige Objekt an das Schloß einer kleinen Tür, die in das große Tor eingelassen war, und schlüpfte hinein.
Dahinter war eine große freie Fläche. Offensichtlich parkten hier die Lastwagen, wenn sie Vorräte und Material abluden, die dann auf einem Förderband, breit genug, um auch große Kisten aufzunehmen, nach unten gebracht wurden. Das Band führte durch ein wirres Durcheinander dunkler, schlafender Maschinen im düsteren Licht von Fenstern, die ein paar Stockwerke hoch in die Wellblechwände eingelassen waren.
Jason lauschte. Er hörte nichts. Dann steckte er den Kegel weg und zog die Handwaffe. Er duckte sich und sprang in einem Satz auf das Förderband, das einen Meter fünfzig über dem Boden hing. Mit schußbereiter Waffe folgte er dem Band in das Labyrinth von Maschinen hinein.
Es war eine fremdartige, mechanische Wildnis, durch die er sich hier schlich. Das Förderband war keineswegs kurz. Nachdem er eine gewisse Strecke zurückgelegt hatte, nahmen seine lauschenden Ohren ein Geräusch auf.
Er blieb stehen, horchte.
Das Geräusch, das er wahrgenommen hatte, waren die Stimmen von Eingeborenen, die sich unterhielten.
Vorsichtig ging er weiter. Langsam kam er den Stimmen näher. Sie schienen sich nicht auf dem Förderband, sondern in einiger Entfernung davon zu befinden. Schließlich hatte er sie erreicht. Er kniete nieder, spähte zwischen den Maschinen hindurch und sah etwa zehn Meter vom Band entfernt eine freie Fläche. Dahinter gab es einen verglasten Käfig, in dem fünf Menschen an Tischen saßen oder herumstanden; sie trugen blaue Hüllen mit Waffenharnischen, an denen Handwaffen hingen.
Jason duckte sich und kroch wie ein Schatten auf dem Förderband an ihnen vorbei. Die Stimmen hinter ihm wurden leiser. Dann erreichte er den Liftschacht und die Plattform, auf die das Förderband offenbar seine Last ablud.
Jason untersuchte die Plattform. Sie wurde offenbar von unten gesteuert. Aber irgendwelche Steuerorgane mußte es auch auf der Plattform selbst geben – wenn auch nur für den Notfall.
Jason sah sich um und entdeckte drei Schalter auf einer Platte am fernen Ende der Plattform. Mit Hilfe des kleinen Magnetwerkzeugs löste er die Platte und studierte die Drähte, die zu den Schaltern führten. Wiederum fand er etwas vor, worauf er durch die Fachleute der Mannschaft vorbereitet worden war. Erstaunlicherweise – nach den Begriffen normaler, vernünftiger Ruml – befand sich an den Schaltern überhaupt kein Schloß.
Er befestigte die Platte wieder und griff nach dem Schalter, der nach seinen Informationen die Plattform nach unten schicken mußte. Einen Augenblick zögerte er. Von jetzt an ging er ein kalkuliertes Risiko ein. Es war unmöglich vorherzusehen, was für Verteidigungsanlagen oder wie viele Bewaffnete ihn unten erwarteten. Er hatte die Wahl gehabt, schon vorher Sammler auszuschicken, um diese Informationen zu beschaffen, hätte dabei aber riskiert, die Eingeborenen zu warnen. Er hatte sich lieber dafür entschieden, selbst das Risiko auf sich zu nehmen.
Er drückte den Schalter nieder. Die Plattform sank mit ihm nach unten. Die Dunkelheit des Schachts umgab ihn.
Die Plattform fiel so schnell, daß er instinktiv die Klauen an den Fingerspitzen ausfuhr, um sich festzuhalten. Einen Augenblick lang sah er das Bild eines Gerätes vor sich, das nur für nichtlebende Lasten bestimmt war. Dann beruhigte ihn wieder das, was er über verderbliche Früchte und empfindliche Geräte erfahren hatte. Und da kam die Plattform schnell, aber ohne den leisesten Ruck zum Stillstand. Licht aus einem Seitengang überflutete ihn.
Jason sprang im gleichen Augenblick herunter und rannte auf Deckung zu – hinter der Tür des kleinen Raums, wo der Schacht endete. Und das geschah keine Sekunde zu früh. Ein Kreuzfeuer von blauen Strahlen zuckte über die Fläche, wo er noch einen Augenblick vorher gestanden hatte.
Dann erloschen die Strahlen wieder. Der Geruch von Ozon erfüllte den Raum. Einen Augenblick stand Jason wie erstarrt da, die Waffe in der Hand, aber kein lebendes Wesen zeigte sich. Die Strahlen waren offenbar automatisch als Verteidigungsmaßnahme gegen tierische Eindringlinge abgefeuert worden. Das gehörte zu den normalen Schutzvorrichtungen des Lifts. Und dann stellte er fest – sein Magen zog sich dabei zusammen –, daß die Stelle, wo er Deckung gefunden hatte, praktisch die einzige im ganzen Raum war, die nicht von den Strahlen bestrichen worden war.
Er schob sich hinter der Tür hervor – und blieb sofort stehen. Er hatte es gefunden.
Er stand in einer unterirdischen Halle von ungeheuren Ausmaßen. Er selbst war im Vergleich dazu auf die Größe eines seiner kleinen Sammler zusammengeschrumpft. Hier war er ein Pygmäe. Nein, weniger als ein Pygmäe. Eine Ameise unter Riesen, schwach erleuchtet von einer beinahe unsichtbaren Decke hundertfünfzig Meter über ihm.
Er befand sich am Rande eines unterirdischen Raumflughafens. In seiner Nähe ragten die gigantischen Umrisse riesiger Raumkreuzer auf. Er hatte es gefunden – den geheimen Versammlungsort, wo sich die militärische Macht der Verhüllten Leute sammelte. Tief in seinem Innern regte sich Dankbarkeit, Dankbarkeit darüber, daß die Verhüllten Leute jetzt ohne allen Zweifel den Beweis erbracht hatten, nicht ohne Ehre zu sein.
Zwischen den titanischen Schiffsleibern hallte der Klang von Metall, das gegen anderes Metall und Beton schlug, an sein Ohr; hinzu kam das Geräusch von Füßen und Stimmen. Wie ein Raubtier auf der Heimatwelt der Ruml glitt Jason von Schatten zu Schatten zwischen den großen Schiffen dahin, bis er eine Stelle erreicht hatte, von der aus er die Vorgänge verfolgen konnte, ohne selbst gesehen zu werden.
Er spähte hinter einem runden faßdicken Träger hervor und sah, daß er ganz gegen seine Erwartung am Rand der abgestellten Schiffe stand. Die Entdeckung versetzte ihm einen Schock. Waren das alle?
Auf diesem Platz befanden sich höchstens ein Dutzend Schiffe – und dabei hätte er wesentlich mehr aufnehmen können.
Er sah sich um. In endloser Weite dehnte sich das Feld vor ihm, und höchstens fünfzehn Meter von ihm entfernt standen fünf Eingeborene in grünen, einteiligen Hüllen und bauten den Regulator einer Hyperantriebseinheit aus einem Schiff aus. Ein einzelner Eingeborener in blauer Hülle mit Waffenharnisch und Handwaffe stand daneben und – das war zweifellos seine Aufgabe – bewachte sie.
Jetzt tauchte ein weiterer Eingeborener in Blau zwischen den Schiffen auf. Jason duckte sich hinter den Träger, der ihm Deckung bot. Der zweite Wächter kam auf den ersten zu.
„Nichts“, hörte Jason ihn sagen. „Vielleicht ein Kurzschluß in der Kraftstation. Jedenfalls ist nichts mit dem Lift heruntergekommen. Ich habe nachgesehen.“
„Vielleicht eine Ratte?“ fragte der erste Wächter.
„Nein, ich hab’ alles überprüft. Wenn etwas auf der Plattform gewesen wäre, hätten die Strahlen es erfaßt. Aber sie sehen jetzt oben nach.“
Jason duckte sich noch tiefer.
Die Eingeborenen waren jetzt gewarnt, selbst wenn sie nicht ernsthaft mit einem Eindringling wie ihm rechneten. Trotzdem war er freudig erregt. Er hatte in eines der Schiffe eindringen wollen, um seine Maschinenanlage kennenzulernen. Jetzt war das – dank der ausgebauten Hypereinheit, die er gesehen hatte – nicht mehr nötig. Seine Hoffnung, das große Risiko, das er eingegangen war, sollten sich auszahlen. Sein Reich lag vor ihm.
Jetzt blieben nur noch zwei Dinge zu tun. Zunächst mußte er eine Bildaufzeichnung der Raumschiffhalle machen und sie mit nach Hause nehmen, und dann mußte es ihm gelingen, unversehrt sein Schiff wieder zu erreichen.
Er griff an den obersten Knopf seiner Außenhülle, die nach Art der Eingeborenen seinen Oberkörper bedeckte. In dem Knopf war die Kamera verborgen, die unablässig lief und Bild und Ton all dessen, was ihm begegnet war, aufgezeichnet hatte. Aber jetzt mußte er die Einstellung korrigieren, um die riesige Halle und die mächtigen Raumkreuzer um ihn herum aufzuzeichnen. Jasons Finger nahmen die nötigen Einstellungen an der scheinbar glatten Oberfläche des Knopfes vor. Und dann lief er eine halbe Stunde lang wie ein Unterhaltungsrecorder herum und nahm Bilder, nicht nur von den mächtigen Schiffen, sondern auch von allem anderen in diesem geheimen unterirdischen Hangar auf.
Schade, dachte er, daß er nicht auch ein Bild von der Decke weit über ihm aufnehmen konnte, die hinter den Lichtquellen, die auf die Schiffe und ihn herunterstrahlten, verborgen war. Ein solches Bild würde den Mechanismus zeigen, der notwendig war, um die Decke zur Seite zu schieben, wenn all diese Schiffe starten sollten. Aber das war nicht so wichtig. Das wichtigste war das, was er hier unten filmte.
Als er schließlich fertig war, arbeitete er sich zum Liftschacht zurück. Beinahe hätte er in dem mächtigen Labyrinth von Schiffen und Trägern vergessen, wo er war, aber der Orientierungssinn, den man in seiner ersten Erwachsenenperiode bei der Aufklärerausbildung zu einem wahren Präzisionswerk entwickelt hatte, trug jetzt Früchte. Er orientierte sich und arbeitete sich zum Eingang des Raumes zurück.
Dort blieb er vor der Plattform stehen und spähte vorsichtig hinüber. Wenn er den Raum jetzt durchquerte, würden zweifellos die automatischen Mechanismen ausgelöst werden, die die Strahlwaffen abfeuerten. Er suchte ein paar Augenblicke nach den Schaltern, die die Eingeborenen zweifellos angebracht hatten, um den Mechanismus dann abzuschalten, wenn sie sich selbst der Plattform nähern wollten. Aber er fand nichts. Und mit jeder Minute nahm die Gefahr zu, daß man ihn entdeckte. Und wenn man ihn jetzt entdeckte, dann war alles, was die Expedition und er geleistet hatten, sinnlos – und die Eingeborenen würden gewarnt sein, würden erfahren, daß sein Volk ihre Welt entdeckt hatte. Gelang es ihm dagegen, jetzt zu entkommen, ohne jemanden zu alarmieren, so würde die künftige Expedition den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite haben. Sein Reich würde in die Hände der Ruml und in seine eigenen Hände fallen, und es würde kaum Mühe kosten.
Er kehrte zu der offenen Türe zurück und starrte hinaus.
Ein paar Sekunden lang stand er da und dachte so intensiv nach wie noch nie zuvor in seinem Leben – stärker sogar als während des Duells mit Hurrag Adoptivsohn. Es mußte einen Weg zur Plattform geben, der an den Lichtschranken vorbeiführte.
Plötzlich kam ihm eine Idee. Er wußte, daß die Stelle hinter der Tür sicher war. Dort hatten ihn die Strahlen bei seinem Kommen auch nicht erreicht. Zwei lange Sprünge würden ihn von dort zur Plattform tragen. Und im Gegensatz zu den Eingeborenen war sein Körper dazu ausgerüstet, lange Sprünge zu machen. Wenn es ihm gelang, mit einem Satz die Plattform zu erreichen … Das war möglich, er wußte es. Aber damit setzte er alles auf eine Karte. Wenn er sein Ziel verfehlte, bestand keine Hoffnung, den Strahlen zu entgehen.
Die Tür ging nach innen auf und war etwa zwei Meter hoch und einen Meter breit. Von dem innersten Punkt aus waren es etwa sechs Meter bis zur Plattform. Er griff durch den Eingang hinein und schob die Tür so auf, daß sie im rechten Winkel zum Türstock stand, ging ein paar Schritte zurück, nahm die schwerfälligen Fußhüllen ab und stopfte sie in die Taschen seiner Körperhülle. Dann ging er auf allen vieren zu Boden und krümmte den Rücken. Seine Klauen streckten sich. Einen Augenblick lang spürte er die Welle von Verzweiflung und Angst, daß die schwerfälligen Hüllen den Sprung unmöglich machen würden. Aber er hatte jetzt keine Zeit mehr, sie abzunehmen. Und dann schob er alle Zweifel von sich und trat noch ein paar Schritte zurück, bis er gute zehn Meter von der Tür entfernt war.
Er dachte an sein Reich und sprang.
Er war erst seit zwei Perioden erwachsen, seine Reflexe waren hervorragend, und das Training unter Schwertmeister Brodth war erstklassig gewesen. Als er die zehn Meter zurückgelegt hatte, betrug seine Geschwindigkeit gute dreißig Stundenkilometer. Er stieß sich von der Türschwelle ab und flog an der Tür vorbei. Er selbst hatte den Eindruck, die Tür dabei kaum zu berühren. Aber vier Klauen klammerten sich an dem Holz fest und verliehen ihm die geringfügige Richtungsänderung und den Stoß, den er brauchte. Einen Augenblick flog er über den tödlichen Boden des Raums hinweg. Dann schienen ihm die Plattform und der Schacht entgegenzuspringen. Und er klatschte mit solcher Wucht auf die Plattform, daß es ihm den Atem nahm.
Die Strahlen flammten nicht auf.
Der Raum blieb still und sicher.
Halb benommen, aber des Lärms bewußt, den er bei der Landung verursacht hatte, suchte er am Rand der Plattform herum, fand die Schalter und legte jenen um, den er sich vorher gemerkt hatte und von dem er wußte, daß er die Plattform nach oben schicken würde.
Er schoß in die Finsternis des Schachts empor. Auf dem Weg nach oben holte er wieder Luft. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, die schwerfälligen Fußhüllen wieder anzulegen, sondern zog die Handwaffe und hielt sie schußbereit. In der Sekunde, als die Plattform am oberen Ende des Schachts anhielt, sprang er herunter und rannte lautlos über das Förderband. Und das mit einer Schnelligkeit, zu der kein Eingeborener je fähig gewesen wäre.
Er hörte jetzt die Laute von Eingeborenen, die sich draußen bewegten, aber er achtete nicht auf sie, sondern rannte weiter. Zweifellos würde ihn der Zufallsfaktor, nachdem er ihn so weit gebracht hatte, auch jetzt nicht verlassen – davon war er überzeugt – und da hallte ein Ruf aus dem Labyrinth von Maschinen zu seiner Linken.
„Stehenbleiben! He!“
Ohne zu zögern feuerte er in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und warf sich von dem Förderband in das Durcheinander von Zahnrädern und Antriebselementen zu seiner Rechten. Hinter ihm war ein Stöhnen und das Aufklatschen eines fallenden Körpers zu hören. Ein blauer Strahl zuckte über das Förderband, genau zu der Stelle, wo er noch vor einer Sekunde gewesen war.
Er verhielt sich jetzt ganz ruhig und lauschte. Sein erster Eindruck war gewesen, daß er es nur mit einem Eingeborenen zu tun gehabt hatte. Aber jetzt hörte er drei Stimmen.
„Was war los?“
„Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.“
Die Stimme, die ihn angerufen hatte, stöhnte plötzlich. „Ich wollte schießen und bin zwischen die Antriebstrommeln gefallen.“
„Bist du festgeklemmt?“
„Ich glaube, ich hab’ mir die Beine gebrochen.“
„Du sagst, du hättest etwas gesehen? Augenblick, wir holen dich raus.“
„Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Ich weiß nicht. Ich glaube, der Alarm hat mich nervös gemacht. Da ist jetzt nichts auf dem Band. Helft mir heraus!“
„Bill, hilf mir.“
„Nur ruhig! So … vorsichtig … schon gut!“
„So ist’s gut. In Ordnung. Wir bringen dich zum Arzt.“
Jason blieb reglos stehen, während die zwei ihren verletzten Kameraden aus dem Gebäude schleppten. Dann war wieder Schweigen um ihn. Er atmete tief durch. Es war kaum zu glauben, aber der Zufallsfaktor hatte ihm erneut beigestanden.
Vorsichtig und leise schob er sich wieder auf das Förderband zu. Jetzt konnte nichts mehr passieren. Er arbeitete sich langsam nach vorne, bis er die Tür des Gebäudes und einen kleinen Streifen Tageslicht sehen konnte.
Perfektion, sagte er sich, zieht den Zufallsfaktor an. Seine Klauen rutschten ab, die Oberfläche, auf der er sich jetzt befand, war glatter, als er es angenommen hatte. Er spürte, wie er zur Seite abglitt. Er beschleunigte sein Tempo. Er durfte jetzt einfach nicht abrutschen.
Seine Klauen konnten an der polierten Fläche keinen Halt finden. Von irgendwo kam ein seltsames klopfendes Geräusch. Und dann spürte er einen plötzlichen Krampf wie von einem verzerrten Muskel im Nacken. Er mühte sich noch mehr … und plötzlich begann sich seine Umgebung um ihn zu drehen.
Eine Welle von Übelkeit überkam ihn. Er spürte, wie seine Glieder sich lockerten, wie sein Körper in die Nacht abglitt.
Er fiel, und die Dunkelheit schloß sich um ihn, als seine Sinne versagten.