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„… ich sage Ihnen“, erklärte Swenson, „wir wissen, daß sie gelandet sind. Auf der der Erde abgewandten Seite des Mondes. Warum haben Sie uns das nicht gesagt?“
Jason schwankte etwas vor Müdigkeit und beschloß dann, sich zu setzen. Er ließ sich in einen der schweren geschnitzten Armsessel sinken, die normalerweise in Reih und Glied um den Besprechungstisch standen, jetzt aber im ganzen Raum verstreut waren. Coth saß jetzt an diesem Tisch und ebenso der Mann von den Vereinten Nationen. Swenson stand vor dem Tisch und redete auf Jason ein. Weder Mele noch irgendwelche sonstigen Ausschußmitglieder waren anwesend. Irgendwie schienen sie nicht mehr zu den Diskussionen – oder besser den Streitgesprächen zwischen Jason und Swensons Leuten zu gehören.
„Habe ich Ihnen das nicht gesagt?“ Jason strich sich mit der Hand übers Kinn. „Ich hatte soviel zu tun …“ Er wühlte in seinem Gedächtnis herum und sortierte die Katorerinnerungen und die seinen auseinander. „Ich muß es vergessen haben.“
„Sie sollen nicht vergessen“, sagte Coth. „Das macht Sie ja so wertvoll – wenn Sie nicht vergessen, uns alles zu sagen.“
Jason sah ihn erschöpft an. „Drohen Sie mir nicht“, sagte er. „Ich bin viel zu müde, als daß dies noch Eindruck auf mich macht. Lassen Sie mich meine Kraft für wichtigere Dinge bewahren.“
„Ja“, sagte Swenson, ohne sich umzudrehen. „Vielleicht sollten wir ihn nicht so hart anpacken, Bill. Jason sieht wirklich etwas mitgenommen aus. Aber, Jason – daran sind Sie selbst schuld, weil Sie soviel in der Bibliothek herumwühlen. Warum geben Sie das nicht für eine Weile auf?“
„Das ist unsere einzige Chance“, sagte Jason und schloß eine Weile die Augen. Und dann merkte er, daß Swenson auf ihn einredete, und schlug die Augen wieder auf. Plötzlich war Swensons Stimme wieder klar. „… was haben Sie denn in Erfahrung gebracht?“
„Eine ganze Menge“, sagte Jason. „Wirklich eine Menge.“
„Zum Beispiel?“
„Ich bin jetzt auf der richtigen Spur“, sagte Jason. „Dem Ursprung ihrer instinktiven Reaktionen auf der Spur. Und die müssen wir begreifen – nicht was sie tun, sondern warum sie es tun.“
„Seien Sie doch vernünftig“, unterbrach ihn Coth plötzlich, beinahe ärgerlich. „Die sind auf der anderen Seite des Mondes gelandet und haben sich dort irgendwo eingegraben. Die können jetzt theoretisch jeden Tag hier auftauchen. Haben wir jetzt wirklich Zeit für dieses wissenschaftliche Herumstochern und diesen Unsinn?“
„Unsinn!“ Jason richtete sich in seinem Stuhl auf, ohne den Kopf von der Nackenstütze zu entfernen. „Das ist nur so, weil die Welt keine Zeit für das hat, was Sie Unsinn nennen – ja, die gleiche Art von Unsinn und die gleiche Art von Leuten wie Sie, die dafür nichts übrig haben – das ist schuld daran, daß wir jetzt in dieser Lage sind. Wir mußten ja unseren Kopf in den Weltraum hinausstrecken, bereit, ihn uns jederzeit abhacken zu lassen, während der Körper unserer Rasse immer noch auf der ganz gewöhnlichen Erde ruht und in einer Begriffswelt lebt, die findet, daß es von hier nach Tokio ein weiter Weg sei. Und die Welt liegt nackt da, umgeben von einer Weltraumkugel mit einem Radius von wenigstens sechshundert Lichtjahren …“
Plötzlich hielt er inne. Das war nicht das erstemal, daß er vor diesen Leuten die Fassung verloren hatte. Es nützte nichts. Es half nicht einmal mit, sie aus dem Gefängnis ihrer Engstirnigkeit herauszulocken, die in den Ruml eine Art Kreuzung zwischen einer Horde schwarzbepelzter Ausländer und einem Extrakt sämtlicher Science Fiction-Filmmonster sah, die sie je auf ihren Bildschirmen bestaunt hatten.
„… was wollen Sie denn von mir?“ fragte Jason müde.
„Wir wissen, daß sie auf der anderen Seite des Mondes gelandet sind“, sagte Swenson. „Wir wissen aber nicht, wo. Das können nur Sie uns sagen.“
„Warum denn?“ fragte Jason. „Damit Sie ein Raumschiff hinaufschicken und eine Atombombe abwerfen können?“
„Natürlich nicht!“ sagte Swenson. „Wir würden selbstverständlich versuchen, sie lebend gefangenzunehmen.“
„Das wäre nicht möglich“, sagte Jason. „Jedenfalls sollen Sie sie in Ruhe lassen.“
Wieder schloß er müde die Augen und dachte, wie schön es doch wäre, jetzt eine Zeitlang schlafen zu dürfen. „Ich werde es Ihnen nicht sagen.“
„Nicht sagen!“ Coths Ausruf ließ Jason wieder die Augen aufreißen.
„Nicht sagen?“
„Nein“, sagte Jason. „Solange Sie sie ignorieren, haben die Ruml keine Veranlassung anzunehmen, daß Sie um ihre Existenz wissen. Sie werden weiterhin versuchen, uns auszukundschaften, anstatt von ihren sieben Welten eine Invasionsflotte kommen zu lassen. Sobald sie das tun, haben wir keine Chance mehr. Solange sie sich zurückhalten, habe ich Zeit weiterzusuchen, was jemanden wie Kator bewegt … in Erfahrung zu bringen, was sein Verhalten so edel macht …“
„Edel?“ sagte Coth. „Diese Kontaktperson – dieser Kator Zweitvetter, den Sie da haben – hat seinen Partner im Schlaf umgebracht, seinen eigenen Behörden einen Teil des Köders gestohlen, sich einen unfairen Vorteil verschafft, um ein anderes Mitglied seiner Rasse in einem Duell zu töten – und soeben hat er den einzigen nahen Verwandten, den er gerne mochte, hinrichten lassen, nur damit die Mannschaft auf dem Schiff ihn bewunderte.“ Coths Atem ging schneller. An seinen Wangen waren zwei hektische rote Flecken zu sehen. „Und nach dem, was Sie für richtig befunden haben, uns über ihn und seine Rasse mitzuteilen, ist das also edel!“
„Edel nach seinen Begriffen, nicht nach den unseren“, antwortete Jason. Er sah sich im Raum um. „Gibt es denn hier gar niemanden, der bereit ist, den Unterschied zwischen Menschen und Ruml objektiv zu sehen?“
„Natürlich“, sagte Swenson. „Sie brauchen uns bloß zu sagen, was das für Unterschiede sind und was sie zu bedeuten haben.“
„Aber genau das ist es doch, was ich herauszubringen versuche“, sagte Jason wütend. „Ich verlange ja nur von Ihnen, daß Sie endlich einmal glauben, daß die Ruml von vornherein anders sind als wir und daß Sie von dieser Voraussetzung aus ihre völlig anderen Gedanken, Handlungen und Ideen begreifen müssen!“
„Und wenn wir das begriffen haben, was dann?“ fragte Coth. „Wenn wir sie verstehen, wird das dann Kator und seine Expedition aufhalten? Oder die Ruml, die nach ihnen kommen?“
„Nein“, sagte Jason. „Aber wenn wir sie verstehen, können wir ihnen vielleicht erklären, warum sie uns nicht zu töten brauchen oder nicht töten sollten, warum sie unsere Welt nicht erobern müssen, wie sie es vorhaben. Begreifen Sie denn nicht?“ schrie er Swenson an. „Die wissen es nicht anders. Und wir auch nicht – noch nicht. Aber in mir liegt eine Chance, in mir und meinem Kontakt mit Kator. Also ist es unsere Verantwortung, die Antwort zu finden, nicht die ihre.“
Einer der Anwesenden, der noch nie etwas gesagt hatte, knurrte unartikuliert.
„Hören Sie doch auf,“ sagte Jason und sah angewidert zu ihm hinüber. „Ich bin ebenso ein Mensch wie Sie. Das ist kein Fremder, der aus meinem Mund spricht.“ Der Mann, der geknurrt hatte, holte sich eine Zigarette heraus, studierte sie und zündete sie sich an – ohne dabei Jason anzusehen oder in irgendeiner Weise zu erkennen zu geben, daß er es gehört hatte.
„Nur zu“, sagte Swenson geduldig. „Erklären Sie es uns doch.“
„Schauen Sie …“ sagte Jason und beugte sich in seinem Stuhl vor. „J. P. Scott hat um 1960 einen Artikel in Science geschrieben, der sich mit den kritischen Perioden der Verhaltensentwicklung befaßte. Ich habe seinen Artikel soeben noch einmal gelesen. Er weist darauf hin, daß es in der Verhaltensentwicklung eine erstaunliche Flexibilität gibt. Bei Menschen und Hunden können diese Perioden zum Beispiel in umgekehrter Reihenfolge auftreten …“
„Welche Perioden?“ fragte Swenson.
„Nun, sie sind von Spezies zu Spezies verschieden. Der Sperling zum Beispiel, erklärt Scott, hat sechs Entwicklungsperioden, der Hund vier. Zuerst kommt die neonatale Periode, die Säugeperiode. Dann die Übergangsperiode, in der der Welpe den Übergang zu den erwachsenen Freß- und Bewegungsmethoden durchmacht. Die dritte ist dann die Sozialisierungsperiode, in der der junge Welpe zum erstenmal anfängt, mit seinesgleichen Verbindung aufzunehmen, in der er spielt und primäre soziale Bindungen eingeht. Die vierte und letzte Periode, die jugendliche, wird durch den Anfang der endgültigen Entwöhnung gekennzeichnet – Unabhängigkeit.“
Jason hielt inne und schluckte. Seine Kehle war trocken.
„Und was hat das zu sagen?“ fragte Coth.
„Begreifen Sie denn nicht?“ fragte Jason. „Überlegen Sie doch, wie groß der Unterschied zwischen einem Hund und einem Menschen ist. Und doch stimmen diese vier Perioden – wenn auch nicht in dieser Reihenfolge – mit ähnlichen Perioden in der Entwicklung des Menschen überein. Aber von diesen vier Perioden ist nur eine mit einer Periode der Rumlentwicklung vergleichbar. Die anderen sind entweder unbewußt oder in der Entwicklung eines jungen Individuums, wie Kator es ist, von Anfang an überhaupt nicht vorhanden.“
„Was wollen Sie damit sagen?“ fragte Swenson, nahm die Brille ab und begann sie mit seinem Taschentuch zu reinigen.
„Haben Sie denn meine Berichte nicht gelesen?“ fragte Jason.
„Kator war nach menschlichen Begriffen etwa zehn Jahre alt, als er bewußt zu denken und zu empfinden begann. Bis zu seiner Geburt mußte seine Mutter ihn drei Jahre lang austragen. Die nächsten sechs Jahre verbrachte er in einem Beutel. Dabei hat er sich zwar physisch entwickelt, ist aber kaum gewachsen und war ebenso bewußtlos wie ein Mensch in einem tiefen Schlaf. Die Atmung und die Ernährung erfolgten nur durch instinktive Reflexe. Und dann fing er in seinem zehnten Jahr plötzlich zu wachsen an. Binnen einer Woche war er für den Beutel zu groß, der sechs Jahre lang sein Heim gewesen war. Er erwachte, gewann sein Bewußtsein, kroch aus dem Beutel und verließ seine Mutter. Binnen ein oder zwei Stunden, nachdem er sie verlassen hatte, ging er aufrecht und war physisch imstande, für sich selbst zu sorgen – praktisch ein junger Erwachsener in Miniaturausgabe, bereits entwöhnt. Allein gelassen, wäre er von seiner Mutter weggegangen. Unter den Bedingungen der Rumlzivilisation wurde er erst zum Familienoberhaupt geführt, erhielt einen Namen und ein eigenes Zimmer. In den nächsten zwei Jahren wuchs er auf neun Zehntel seiner Erwachsenengröße an und nahm seinen Platz in der Rumlgesellschaft ein.“
Jason hielt inne, räusperte sich und sah sich um. Keines der Gesichter, die ihn anstarrten, zeigte die geringsten Anzeichen dafür, daß die Implikationen dessen, was er gesagt hatte, begriffen worden waren. Sie zeigten eher Anzeichen von Unruhe und Langeweile.
„Verstehen Sie denn nicht – können Sie denn nicht verstehen?“ appellierte Jason an Swenson. „All die Dinge, die ein menschliches Kind in zehn Jahren bewußter Assoziation, in zehn Jahren des Aufwachsens mit seinen Eltern oder anderen Erwachsenen lernt, sind einem Ruml völlig unbekannt. Mutterliebe ist unbekannt. Kindliches Spiel und kindliche Anpassung an die Gesellschaft sind unbekannt. Der ganze Prozeß des Lernens durch Beispiele ist unbekannt. Anstelle all dieser Dinge stehen Reflexe oder eine instinktive Konditionierung, über die wir nur Vermutungen anstellen können. Kators Gründe für das, was er tut, sind nach unseren Begriffen unerklärlich – aber für ihn sind sie selbstverständlich –, und wir müssen begreifen, warum sie das sind, wenn wir den Angriff der Ruml aufhalten wollen!“
Endlich war Jason zu einem Ende gekommen. Swenson sah ihn an.
„Es tut mir leid“, sagte er schließlich, „ich verstehe Sie nicht, und Sie haben mich auch nicht überzeugt, daß all dieses Studieren und Suchen zu irgend etwas Wesentlichem führen soll. Ganz abgesehen davon, daß es ungemein wichtig und zwingend ist, jetzt die Rumlexpedition dort oben auf der anderen Seite des Mondes zu umzingeln. Wollen Sie uns jetzt sagen, wo sie sind?“
„Nein“, sagte Jason. Er stand auf, schwankte etwas und griff nach dem Stuhl, um sich daran festzuhalten.
„Und Sie werden nichts unternehmen, weil ich Ihnen jetzt sage, daß Sie unmöglich die andere Seite des Mondes absuchen können, ohne daß man Sie entdeckt. Und wenn man Sie entdeckt, wird die Rumlheimatwelt dies sofort erfahren, und die Invasion wird beginnen. Also – ich sage es Ihnen nicht, und Sie werden sie in Ruhe lassen.“
Er wandte sich ab und ging auf die geschlossene Tür zu. Auf halbem Wege blieb er plötzlich stehen und sah sich noch einmal um.
„Ich werde Ihnen sagen, was jetzt kommt“, sagte er. „Jetzt, da die Ruml sich auf dem Mond eingegraben haben. Sie werden kleine Übertragungsgeräte zur Oberfläche der Erde schicken, um Bilder von uns und unserer Umgebung zu bekommen. Ich werde Sie darüber informieren, wohin die einzelnen Geräte geschickt werden – und wenn es dort etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, daß die Ruml es sehen, können Sie ja dafür sorgen, daß das Gerät ‚zufällig’ zerstört wird.“ Er hielt inne und sah sich um. „Und unterdessen“, fuhr er dann fort, „werde ich mit meiner Arbeit fortfahren, und Sie werden mich nicht dabei stören. Ich bin nämlich die einzige Verbindung mit dem feindlichen Lager, und Sie können mich nicht zwingen.“
Er lachte – oder besser gesagt, er hatte lachen wollen. Aber es war nur das heisere Bellen eines Erschöpften.
„Weil ich nämlich“, sagte er und grinste dabei verzerrt, „weil ich nämlich ebenso bereit bin wie Sie, mein Leben für die Rettung dieser Welt zu geben. Nur auf meine Weise – ebenso wie Sie auf die Ihre …“
Er drehte sich um, öffnete ungeschickt die Bibliothekstür und ging hinaus, schloß sie hinter sich. Draußen taumelte er und stützte sich mit der Hand an der Wand.
Aus dem Inneren des Raumes, den er im Moment verlassen hatte, durchdrang eine Stimme die dünnwandige Tür. Es war keine vertraute Stimme, und er vermutete daher, daß sie einem der Männer gehörte, die stets anwesend waren, aber nie das Wort ergriffen.
„Dieser Idiot in seinem Elfenbeinturm!“ sagte die Stimme. „Der muß wahrscheinlich nie arbeiten, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.“