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Und deshalb geschah es, daß, bevor der Schläfer im fernen Washington erwachte, Kator Zweitvetter, in der Umgebung eines variablen Cepheiden – den seine Karten als 47391 L bezeichneten, aber den der Schläfer Ursae Minoris oder Polaris, den Polarstern, genannt hätte –, daß also Kator, wie gesagt, plötzlich das Gefühl hatte, der Zufallsfaktor, den alle suchen, sei ihm in die Hände gefallen.
Auch wenn er nur ein Zweitvetter war, gehörte er doch der Familie von Brutogas an. Und so reagierte er sofort, ergriff die Möglichkeit, die sich ihm bot und blockierte die Steuerorgane. Vor ihm strahlte seine große Chance, ein Reich zu gründen. Und deshalb plante er sorgfältig, aber schnell. Ein Zugstrahl griff nach dem im Weltall treibenden Artefakt, das der Zufallsfaktor ihm geboten hatte. Es war ein schönes Artefakt, selbst in seinem bruchstückhaften Zustand, gut fünfmal so lang wie der Zwei-Mann-Aufklärer, in dem er und Aton Mutteronkel aus der Familie Ochadie routinemäßig die galaktische Drift abgesucht hatten.
Kator zentrierte das Artefakt in der Mitte seines Bildschirms und lehnte sich im Pilotensessel zurück. Ein auf Hochglanz poliertes Schott zur linken Seite des Schirms zeigte ihm sein eigenes Bild, und er drehte nachdenklich die steifen, katzenartigen Barthaare seines runden Gesichtes und lächelte dann zufrieden, während er seine Lage überdachte.
Günstiger hätte sich seine Chance kaum darbieten können. Aton Mutteronkel war nicht einmal durch Heirat mit der Familie Brutogas verbunden. Zugegebenermaßen hing er wie die Brutogasi eher dem Hakenglauben als den Stäben an. Andererseits war die Aussicht, daß sich ein solcher Zufallsfaktor wie dieser noch einmal auf einer wissenschaftlichen Forschungsfahrt ergeben würde, einfach astronomisch klein.
Damit waren die normalen Pflichten und Konventionen automatisch außer Kraft gesetzt. Aton Mutteronkel hätte es zweifellos gebilligt, daß Kator versuchte, den Zufallsfaktor positiv mit Kators eigenem Lebensmuster zu integrieren. „Außerdem“, dachte Kator und musterte sein Spiegelbild in dem Schott und strich seinen Bart, „bin ich jung, und die besten Jahre meines Lebens liegen noch vor mir.“
Er erhob sich, löste eine Verbindung am Recorder des Schiffes und streckte die acht Zentimeter langen Klauen seiner kurzen Stummelfinger aus. Dann ging er ins Schlafquartier hinter der Steuerkanzel. Auf einem größeren Schiff wäre die Tür stets verschlossen gewesen. Aber auf einem kleinen Schiff wie diesem mußten die Forscher ihre Arbeit ohne Schlüsselträger auf sich nehmen. Aton schlief auf der unteren Pritsche und wandte ihm den Rücken zu.
Geschickt stieß Kator dem Schläfer die Klauen unmittelbar unter seinem runden, mit schwarzem Pelz bewachsenen Schädel in die Wirbelsäule. Aton seufzte nur einmal auf und blieb dann reglos liegen. Er hatte nichts gespürt, dessen war Kator sicher. Er hatte schnell und sicher zugeschlagen. Kator zog den schweren Körper von der Pritsche, trug ihn vorsichtig zur Luftschleuse und stieß ihn ins Weltall. Dann kehrte er zu dem Recorder zurück, stellte die gelockerte Verbindung wieder her und zeichnete auf, daß Aton ihn in einem Anfall geistiger Umnachtung ohne Warnung angegriffen und dabei den Recorder beschädigt habe. Als Kator sich wehrte, war Aton in seinem Anfall in die Schleuse gerannt und hatte Selbstmord begangen, indem er sich selbst in das atmosphärelose All ausstieß.
Als Kator seinen Bericht aufgezeichnet hatte, dachte er mit einem Gefühl der Dankbarkeit über seine Ahnen nach. Während andere denken, handle ich, war das Motto des ersten Brutogas gewesen. Kator strich sich voll tiefer Dankbarkeit für seine Ahnen über den Bart.
Dann legte er seinen Raumanzug an. Etwa eine halbe Stunde später, in den Zeitbegriffen von Kators Volk, einem Volk, das sich selbst die Ruml nannte, hatte Kator eine Magnetleine an dem von einer Explosion zerstörten Rumpf des Artefakts befestigt und zog sich jetzt Hand über Hand darauf zu. Dann begann er seinen Fund im Licht eines hellen Scheinwerfers zu untersuchen.
Es hatte offenbar einem Volk gehört, das Kators eigener Art sehr ähnlich war. Die Türen hatten die richtige Größe, und Kator hätte bequem auf den Sitzgeräten Platz nehmen können. Unglücklicherweise war der größte Teil des Weltraumschiffes – denn um ein solches handelte es sich zweifellos – durch eine Explosion des Hyperfeldes, das es vernichtet hatte, zerrissen worden. Das war wichtig, sehr wichtig sogar, denn der überlichtschnelle Antrieb, den Kators Volk benutzte, ging auch von der Theorie des Hyperraums aus, und darin gab es ein Feld wie dieses, das bei seiner Explosion Spuren in allen Farben des Regenbogens an den zerfetzten Wänden des Artefakts hinterlassen hatte.
Selbstverständlich war praktisch alles, was nicht festgeschraubt gewesen war, nach außen abgestoßen worden und infolge der Explosion im Raum verlorengegangen … nein, entdeckte Kator, doch nicht alles. Er fand eine Art Tragebehälter mit einem halbkreisförmigen Handgriff, der zwischen den Beinen eines der Sitzgeräte festgeklemmt war. Kator löste den Behälter unter dem Stuhl heraus und nahm ihn mit in sein Forschungsschiff zurück.
Nachdem er die routinemäßigen Tests durchgeführt hatte, gelang es Kator, den Behälter zu öffnen. Der Fund war großartig. Da waren einige Gegenstände, die aus einer Art Stoff bestanden – geformt wie ein einteiliger, an allen Stellen gleich fester, dünner, alles bedeckender Körperharnisch. Es waren keine Vorrichtungen vorhanden, um Ehrenzeichen oder Waffen zu befestigen. Dennoch gab es Zeichen in verschiedenen Formen und Größen. Sie bestanden aus Metall und befanden sich ebenfalls in dem Behälter. Meistens waren sie ringförmig und von einer Größe, daß man sie vielleicht über Finger oder Arme schieben konnte. Und dann noch etwas, bei dem es sich offenbar um ein Schreibgerät handeln mußte. Es bestand aus weichem, rotem Wachs und hatte eine Spitze und eine Schraubvorrichtung, um es aus einem Behälter zu schieben.
Und in klares, durchsichtiges Verpackungsmaterial eingehüllt, gab es da noch zwei seltsam geformte Behälter, die vielleicht als Fußschutz dienen sollten. An der Unterseite klebten noch Bodenfragmente, und Kator hielt unwillkürlich den Atem an. Er löste die Erde und trug sie an ein Mikroskop, um sie vorsichtig zu untersuchen.
Der Zufallsfaktor hatte ihn nicht im Stich gelassen. Inmitten der zerbröckelten Erde entdeckte er ein winziges, totes, organisches Lebewesen. Ein Wurm, kaum von primitiven Würmern zu Hause zu unterscheiden.
Kator holte ihn vorsichtig mit einer Pinzette aus der Erde und verschloß ihn in einem kleinen Würfel aus durchsichtigem Material. Er schob den Würfel in die Tasche seines Harnischs. Das gehörte ihm, sagte er sich. Im Rest des Artefakts gab es genügend Material, um die Untersuchungskommission zu Hause glücklich zu machen. Daraus sollten sie die Herkunft der Rasse, die das Artefakt hergestellt hatte, ergründen. Aber dieses kleine Wesen, den Grundstein seines künftigen Reiches, würde er bei sich behalten. Und wenn der Zufallsfaktor fortfuhr, seine Situation zu unterstützen, würde er dieses kleine Ding auch gebrauchen können …
Kator zeichnete seine Position im Logbuch auf, ebenso die Richtung, in die das Artefakt getrieben war, als er es zum erstenmal entdeckt hatte. Dann nahm er es ins Schlepptau, stellte seinen Kurs auf die Heimatwelt ein und legte sich in Atons Bett, um sich der wohlverdienten Ruhe hinzugeben.
Als der Schlaf ihn umfing, begann er sich an einige der gemeinsamen Forschungsexpeditionen zu erinnern, die er mit Aton unternommen hatte, und das Bedauern brannte wie körperlicher Schmerz in ihm, bis der Schlummer ihn linderte.
Sie waren zwar nie verwandt gewesen, nicht einmal durch eine entfernte Heirat. Aber Kator hatte im Laufe der Zeit gelernt, tiefe Freundschaft für den älteren Ruml zu empfinden, und es fiel ihm gewöhnlich nicht leicht, Bekanntschaften zu schließen.
Nur, so dachte er an der Schwelle zum Schlaf, was kann man machen, wenn es schließlich um ein Reich geht?