9

 

An dem Tag, an dem die Prüfung des Artefakts abgeschlossen wurde, stand Jason-Kator in seinem Zimmer und war gerade dabei, den zeremoniellen Kilt, den man bei offiziellen Anlässen trug, an seinen Harnisch zu hängen, als die Tür ihn ansprach.

„Bela Erstvetter möchte eintreten“, sagte sie.

Jason wandte sich der Tür zu. „Herein“, sagte er.

Die Tür öffnete sich, und Bela Erstvetter trat ein. Er sah Jason mit einer eigenartigen neuen Mischung aus Zuneigung und Respekt an.

„Man schickt mich mit einer Nachricht zu dir“, sagte er. „Der Brutogas möchte dich sprechen, ehe du das Schloß verläßt.“

„Der Brutogas?“

Jasons Hände zögerten an seinem Kilt. Er begriff jetzt den beinahe scheuen Respekt seines älteren Vetters. Plötzlich überkam ihn bittere Trauer. Er hatte Aton Mutteronkel, seinen Partner, so gern gehabt – und war gezwungen gewesen, Aton zu töten. Bela hier war sein einziger näherer Bekannter innerhalb der Familie gewesen, und jetzt mußte er Bela zurücklassen. Die Großen sind einsam, sagte das Sprichwort, und es traf zu. Jetzt merkte er, daß Bela ihn überrascht beobachtete.

„Was trauerst du?“ fragte Bela. „Es ist eine große Ehre.“

„Ich weiß. Es ist nur – ich spüre plötzlich, wie die Zeit verstreicht“, sagte Jason. Jetzt saß der Kilt.

„Du sprichst wie ein Mann, der bereits ein ehrenwertes Alter erreicht hat“, sagte Bela, der ihn immer noch betrachtete.

„Tatsächlich?“ fragte Jason, immer noch etwas bitter. „Ich bin bereit. Führst du mich?“

„Ich führe dich ins oberste Stockwerk des Schlosses und zeige dir den Weg“, sagte Bela. „Weiter kann ich nicht mit dir gehen, und keiner aus der unmittelbaren Familie kann in Ehren Führer eines Zweitvetters sein. Komm.“

Er führte Jason aus dem Zimmer, durch Korridore, zwei weitgeschwungene Rampen hinauf bis zu einer schweren, hohen, weißen Tür mit einem goldenen Griff. Bela nahm den Griff, drehte ihn und schob mit einiger Mühe die Tür weit genug auf, um Jason hindurchzulassen.

„Der Brutogas hat vier Helfer, die solche Türen öffnen“, sagte Bela und schnitt eine Grimasse. „Geh schnell durch.“

Aber Jason zögerte einen Augenblick. Durch die zum Teil geöffnete Tür erblickte er einen langen Korridor aus weißem Marmor, der rechts von hohen Fenstern durchbrochen war. Durch die Fenster verlor das Morgenlicht seine weiße Härte auf dem Marmor und wurde weich und sanft.

„Beeil dich!“ wiederholte Bela, der sich immer noch gegen das Gewicht der Tür stemmte. „Wasser, Schatten und Frieden seien mit dir.“

„Ich danke dir, Vetter“, sagte Jason dankbar und trat in den von der Sonne erhellten Korridor. Hinter sich hörte er, wie die Tür mit einem feierlichen Dröhnen zufiel. Aber er sah sich nicht mehr um. Bela hatte ihm den Weg zum Arbeitsraum des Brutogas beschrieben, und diesem Weg folgte er jetzt.

Da es früh am Morgen war, begegnete ihm auf dem ganzen Weg kein einziges Mitglied der unmittelbaren Familie. Als er schließlich die kleine weiße Tür mit dem goldenen Drehknopf erreichte, die sein Ziel war, erwachte in ihm die Erinnerung.

Er erinnerte sich an das einzige Mal in seinem Leben, da er hier gewesen war – und der einzigen Gelegenheit, die einem normalerweise dafür gegeben ist, wenn man nicht der unmittelbaren Familie angehört. Es war am Tag seiner Namensgebung gewesen, in der traditionellen dritten Stunde, nachdem er den Beutel seiner Mutter verlassen hatte. Natürlich hatte er seitdem den Brutogas bei einer Anzahl von Familienzeremonien gesehen – aber nie aus der Nähe. Doch jetzt, als seine Hand nach dem goldenen Türgriff tastete, kam alles zurück. In diesem Augenblick war das Familienoberhaupt plötzlich nicht mehr der grau werdende, etwas vornübergeneigte Mann ehrenwerten Alters, den er bei Zeremonien gesehen hatte, sondern eine geheimnisvolle, hochaufragende Gestalt, die eine Hand auf seinen Kopf gelegt und irgendwelche tiefen, unbegreiflichen Laute dröhnend von sich gegeben hatte, von denen er erst später erfuhr, daß sie „Kator, Zweitvetter Brutogas“ bedeutet hatten.

Jasons Kehle zitterte unter seinem schwarzen Pelz. Er legte seine Hand auf den Griff, öffnete die Tür, ohne zu sprechen – denn hier im obersten Stockwerk gab es keine Schlüsselträger, keine Schlösser und keine Türsprecher –, und trat ein.

Der Raum war kleiner, als Jasons Erinnerung ihn gemacht hatte. Vor dem großen Fenster hockte der Brutogas auf einem niedrigen Podest hinter seinem Schreibtisch. Er war genauso, wie Jason ihn von den Familienfeiern her in Erinnerung hatte – ein grauer, nach vorne geneigter Ruml von ehrenwertem Alter. Jason trat vor den Tisch und neigte den Kopf. „Ich bin Kator Zweitvetter, Ehrenwerter“, sagte er.

Der Brutogas sah ihn beinahe nachdenklich an.

„Ja“, meinte das Familienoberhaupt schließlich. „Du warst ein aktiver Junge. Sie konnten dich an deinem Namenstag hier kaum still halten. Nun …“ Er schob die Papiere auf seinem Schreibtisch beiseite. „Es ist zu uns gedrungen, daß du den Ehrgeiz hast, die Expedition zu leiten, die in Kürze zur Heimatwelt der Verhüllten Leute ausgeschickt werden soll.“

„Ehrenwerter?“ sagte Jason ausdruckslos.

„Du weißt es nicht? Das ist der Name, den sie jenen Fremden angehängt haben, von denen das Artefakt stammt, das du gefunden und zurückgebracht hast. Anscheinend deshalb, weil sie sich in Tücher hüllen. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Willst du die Expedition leiten?“

„Ehrenwerter“, sagte Jason vorsichtig, „ich habe keine Ahnung, was das Prüfzentrum an dem Artefakt entdeckt und welche Schlüsse es daraus gezogen hat.“

„Ganz richtig“, sagte das Familienoberhaupt und nickte billigend. „Man soll sich nicht vorschnell auf etwas einlassen, was man nicht kennt. Ich habe zufällig eine Kopie des Berichts hier. Würdest du gern wissen, was das Zentrum festgestellt hat?“

„Ja, Ehrenwerter“, sagte Jason und stand so aufrecht da, wie das sein Körperbau nur zuließ. „Das würde ich gern.“

„Nun“, sagte der Brutogas und wendete das erste Blatt auf einem Stoß Papier, der vor ihm auf dem Tisch lag, „die Schlüsse, die man gezogen hat, besagen, daß die Fremden etwa von unserer Größe sind, zweibeinig, mit vergleichbarem Stand der Zivilisation …“

Jason entwich unwillkürlich ein Überraschungsruf.

„Ja“, sagte der Brutogas, blickte auf und wiederholte langsam: „Ein vergleichbarer Stand der Zivilisation! Die Herausforderung, die eine Rasse wie diese für uns bedeutet, wird größer als alles sein, was es bisher in der Geschichte gegeben hat. Aber um fortzufahren …“ Er las weiter. „Ein vergleichbarer Stand der Zivilisation, aber wahrscheinlich mit Tabus aus einem früheren primitiveren Stadium belastet, die die Stelle eines Systems von Ehren einnehmen. Sie … hast du eine Frage?“

„Ehrenwerter?“ fragte Jason. „Können denn intelligente Wesen eine Zivilisation aufbauen, ohne gleichzeitig einen Begriff von Ehre und ein System dafür zu entwickeln?“

Der Brutogas nickte wohlwollend.

„Der Bericht befaßt sich mit dieser Frage“, sagte er. „Er kommt zu folgendem Schluß: Nein, natürlich können sie dem Begriff der Ehre nicht ausweichen. Die Entwicklung einer Zivilisation erfordert ein rassisches Selbstbewußtsein. Und Selbstbewußtsein bedeutet, daß sie sich der Pflicht rassischen Überlebens als einer intellektuellen Sache bewußt werden müssen. Und gleichzeitig müssen sie einen Ehrbegriff entwickeln, um sicherzustellen, daß das Überleben unvermeidbar wird.“

Er sah Jason nachdenklich an.

„Andererseits“, meinte er, „sind wir davon überzeugt, daß unser Ehrsystem ihnen völlig unbegreifbar sein muß. Die Wahrscheinlichkeit, daß es sich spontan in einer fremden Rasse entwickeln könnte, ist so minimal, daß man sie überhaupt nicht in Zahlen ausdrücken kann. Was das Prüfzentrum für wahrscheinlich hält – ich erwähnte das schon – ist, daß diese Rasse ein System primitiver Tabus hat, das inzwischen verfeinert wurde, um einer komplexen technologischen Zivilisation zu entsprechen. Sie werden also, praktisch betrachtet, aus Gründen des Überlebens im Rahmen eines Ehrsystems operieren, es aber nicht begreifen.“

„Das bedeutet aber doch, Ehrenwerter“, sagte Jason, „daß eine zu ihnen entsandte Expedition sehr hohe Erfolgschancen hat!“

„Zweitvetter, Zweitvetter“, der Brutogas schüttelte den Kopf. „Glaubst du denn, daß ein Vorteil den Erfolg sichert? Es ist durchaus möglich, daß sie uns persönlich oder technisch überlegen sind.“

„Aber kein materieller oder charakterlicher Vorteil ist doch mit dem Vorteil zu vergleichen, den ein System der Ehren gegenüber allen anderen Systemen hat“, wandte Jason ein.

„Abstrakt betrachtet natürlich nicht“, sagte der Brutogas. „Aber praktisch gesehen kann es ernsthafte Schwierigkeiten in bezug auf die Zahl der Fremden oder die Fähigkeit ihrer Waffen geben. Es ist ein ehrenwertes Unterfangen, für eine gute Sache zu sterben, aber es ist nicht ehrenvoll zu riskieren, die eigene Rasse auszubluten. Wenn alle Väter getötet werden, wer soll dann Söhne zeugen?“

Jason stand stumm da und fühlte sich getadelt.

„Es bleibt immer noch die Möglichkeit“, sagte der Brutogas nach einer kurzen Pause, „daß sie zwar nicht dasselbe Ehrsystem wie wir, aber ein vergleichbares besitzen, das wir nur noch nicht identifizieren können. Und vielleicht ist es sogar dem unseren überlegen.“

„Überlegen?“ Jason starrte das Oberhaupt seiner Familie an.

„Theoretisch wäre das möglich“, sagte der Brutogas. „Erinnere dich an den Ausspruch: ‚Die Ehre ist ohne Grenzen, die Anstrengung ist ohne Grenzen, nur der Mensch hat Grenzen.’“

Jason neigte den Kopf.

„Willst du mir jetzt die Antwort geben, ob es dein Wunsch ist, die Expedition zu dieser Heimatwelt der Verhüllten Leute zu führen?“ fragte der Brutogas.

„Ehrenwerter“, antwortete Jason. „Ich wünsche es sehr.“

„Ich war sicher, daß es so sein würde.“ Der Brutogas atmete leicht durch die Nase aus und strich die steifen grauen Barthaare um seinen Mund und die Nase, die zweimal so lang waren wie die von Kator Zweitvetter. „Und es würde natürlich auch dem Ruf der Familie keinen Schaden zufügen, wenn ein Mitglied unseres Namens auf einer solchen Expedition Schlüsselträger wäre.“

„Ich danke Euch, Ehrenwerter.“

„Schon gut. Aber“, fuhr Brutogas langsam fort, „da ist noch etwas, das du begreifen mußt. Das ist auch der Grund, weshalb ich dich heute habe rufen lassen. Das politische Klima ist im Augenblick derart, daß ich nicht in Ehren das Prestige der Familie riskieren kann, indem ich dir helfe, den Schlüsselträgerposten bei dieser Expedition zu erlangen – oder selbst den Posten des Kapitäns …“

„Ehrenwerter …“ begann Jason.

„Ich weiß, ich weiß.“ Der Brutogas winkte seinen einsetzenden Protest weg. „Als Zweitvetter hast du nicht mit der Unterstützung der Familie gerechnet. Dennoch wünsche ich, daß du weißt, daß ich bereit wäre, sie dir zu geben, und zwar um des Funkens Ehrgeiz willen, den ich in dir sehe – wenn nur eben die politische Situation nicht wäre. Es ist dir wahrscheinlich bekannt, daß der Wahlausschuß aus sieben Personen bestehen wird. Es steht so gut wie fest, daß die Stäbe vier Leute im Ausschuß haben werden und wir Haken nur drei.“

Jason spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. Aber er ließ sich äußerlich nichts anmerken.

„Das macht meine Auswahl sehr zweifelhaft, Ehrenwerter“, sagte er.

„Ja“, pflichtete der Brutogas ihm bei. „Das würde ich auch sagen. Bist du dennoch entschlossen, es zu versuchen?“

„Ich sehe keinen Grund“, sagte Jason, bemüht, trotz dieser katastrophalen Nachricht die Haltung nicht zu verlieren, „meine augenblicklichen Ansichten zu ändern, Ehrenwerter.“

„Das habe ich mir gedacht.“ Der Brutogas lehnte sich auf seinem Podest zurück und sah ihn an. „Einer wie du kommt in einer Familie etwa jede Generation einmal zum Vorschein. Neunundneunzig Prozent erleben eine Katastrophe. Nur“, fügte er mit leiser Stimme hinzu, „einer von einer Million wird … sich dauernden Ruhm erwerben, den Ruhm des Erfolges.“

„Ehrenwerter …“ sagte Jason, dem der Kopf zu zerspringen drohte. Er hatte nie zu träumen gewagt, daß sein Ehrgeiz dem Oberhaupt seiner Familie bekannt werden würde.

„Die Brutogasi“, sagte der ältere, „können keine offizielle Anteilnahme an deinem Ehrgeiz zeigen und können auch offiziell deinen Wunsch, Schlüsselträger dieser geplanten Expedition zu werden, nicht unterstützen. Aber wenn du durch irgendein Wunder Erfolg haben solltest, so nehme ich an, deiner Ehre so weit vertrauen zu können, daß du den Verdienst der Familie für Rat und Anleitung und andere Hilfe anerkennen würdest.“

„Ehrenwerter – wie könntet Ihr anders denken?“ schrie Jason beinahe auf.

„Das ist ja auch gar nicht der Fall. Es ist nur meine Pflicht, jetzt auf folgendes hinzuweisen: Sollte dein Versuch irgendwie dazu führen, daß du in eine skandalöse oder zumindest nicht ehrenhafte Lage kommst, mußt du damit rechnen, daß die Hypothek, die du auf deinen Anspruch an die Familie aufgenommen hast, sofort zur Zahlung aufgerufen wird.“

Jasons Magen zog sich noch mehr zusammen.

„Ich begreife, Ehrenwerter“, sagte er.

„Nun“, meinte der Brutogas, „das wäre alles. Aber meine persönlichen Wünsche sind mit dir. Möge der Schatten dein sein, möge das Wasser dein sein, möge der Frieden dein sein.“

„Ich ehre das Oberhaupt meiner Familie, jetzt und für alle Zeit“, sagte Jason.

Langsam schob er sich rückwärts zur Tür und ging hinaus. Beim Hinausgehen warf er noch einmal einen Blick auf den Brutogas, sah aber nur seinen grauen Kopf, der sich bereits wieder über die Papiere auf dem Schreibtisch geneigt hatte.

Er wußte nachher kaum, wie er seinen Weg zurück durch die von der Sonne beleuchteten Marmorgänge gefunden hatte. Aber als er sie hinter sich gelassen hatte und sich wieder draußen vor dem Palast befand, fuhr er zum Prüfungszentrum und gab sich Mühe, die Gefühle abzuschütteln, die sein Interview mit dem Familienoberhaupt in ihm erzeugt hatten. Solche Gefühle waren etwas Ehrenwertes, aber er brauchte jetzt seine ganze Kraft für das, was ihm bevorstand.

Zwölf Einladungen für den Posten des Schlüsselträgers waren auf die – wie nicht anders zu erwarten gewesen war – Hunderte von Anträgen hinausgegangen. Nur diejenigen, bei denen mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden konnte, daß sie eine Chance hatten, durften vor den Prüfungsausschuß treten. Jason hatte erklärt, er sei es gewesen, der das Artefakt gefunden habe, und er könne deshalb den Anspruch erheben, daß der Zufallsfaktor ihn mehr als alle anderen Kandidaten bevorzuge. Für jeden anderen, der nicht mit Politik und Auswahlausschüssen vertraut war, hätte dieser Anspruch ohne Zweifel eine so überragende Rolle gespielt, daß der Akt der Auswahl nur mehr als Formalität erscheinen mußte.

Tatsächlich aber hatte Jason nur die elfte der zwölf Einladungen erhalten, die der Ausschuß ausgesandt hatte. Es hätte schlimmer sein können, dachte Jason im Bus. Er hätte auch nicht einmal der zwölfte sein können.

Als man ihn schließlich im Hauptquartier des Prüfungszentrums ins Besprechungszimmer gerufen hatte, wo ihm der sechsköpfige Ausschuß gegenübersaß, stellte er fest, daß die Gesichter hinter dem Tisch genauso kalte Augen und graue Barte hatten, wie er es befürchtet hatte.

Nur ein Ausschußmitglied zeigte eine Andeutung von Interesse.

Und das kam daher, daß dieses Ausschußmitglied selbst ein Brutogasi war – Ardolf Halbbruder. Die anderen fünf Mitglieder waren – bei Ardolf an der äußersten rechten Ecke des Tisches beginnend – ein Chilles, ein Worla (beide der Hakenpartei angehörend, daher wahrscheinlich Jason günstig gesonnen), vier Stäbe, ein Gulbano, ein Ferth, ein Achobka und der Nelkosan selbst. Schlimmer hätte es kaum kommen können. Nicht nur, daß der Nelkosan als Familienoberhaupt im Rang über allen anderen Ausschußmitgliedern stand, sondern es kam auch noch hinzu, daß Aton Mutteronkel, Kators toter Partner, seiner Familie angehört hatte. Der Untersuchungsausschuß bei Jansons Rückkehr hatte festgestellt, daß man ihm Atons Tod nicht anlasten konnte. Aber das Oberhaupt von Atons Familie konnte diesen Spruch natürlich nicht in Ehren hinnehmen. Als ehrenwerter Mann würde er es als seine Pflicht betrachten, Jason jeden erdenklichen Schaden zuzufügen.

Jason atmete tief durch, als er vor dem Tisch stehenblieb, hinter dem die sechs ihn erwarteten. Dann salutierte er mit den Klauen seiner rechten Hand, die er über das Herz streckte.

„Ich bin Kator Zweitvetter Brutogas“, sagte er, „und melde mich Eurer freundlichen Einladung gemäß. Ich vertraue, daß ich unter Freunden bin.“

„Hier, Zweitvetter“, sagte der Nelkosan und sprach somit als dienstältestes Ausschußmitglied die traditionelle Garantie aus, „bist du unter Freunden.“

Jasons Atem ging leichter. Die Garantie war ehrenwert, aber nicht erforderlich. Offensichtlich war der Nelkosan ein Mann von strenger Sitte. Aber wie dem auch sei, wenn er in seiner Fairneß strikt war, dann war er das auch in seinen Pflichten. Ohne Atem zu holen, setzte er das Zeremoniell des Ausschusses fort.

„Der Kandidat“, sagte er, „mag damit beginnen, uns seine Gründe zu schildern, die über das hinausgehen, was in seinem Antrag geschrieben steht, und was uns dazu veranlassen soll, einem so jungen Mann den Posten des Schlüsselträgers auf dieser wichtigen Expedition anzuvertrauen.“

„Ehrenwerte Ausschußmitglieder“, begann er, „meine Akte liegt Euch vor. Darf ich darauf hinweisen, daß meine Ausbildung als Aufklärer mich sowohl für wissenschaftliche als auch für navigatorische Tätigkeiten prädestiniert …“

Ebenso wie die anderen Kandidaten hatte er seinen ganzen Vortrag sorgfältig vorbereitet und auch einige Male geübt. Der Ausschuß hörte mit dem leichten Desinteresse einer Körperschaft zu, der bereits zehn solcher Vorträge gehalten worden waren. Die einzige Ausnahme in dieser allgemeinen Langeweile bildete der Nelkosan, der aufmerksam und drohend dasaß.

Als Jason schließlich endete, sahen sich die Ausschußmitglieder an.

„Nun“, sagte der Nelkosan kurz, „sollen wir abstimmen?“

Alle nickten. Ihre Hände griffen nach den Abstimmzetteln – schwarz für Annahme, rot für Ablehnung; die vier Mitglieder der Stäbepartei griffen automatisch nach den roten Zetteln, die Haken nach den schwarzen.

Jason fuhr sich verstohlen mit seiner trocken gewordenen Zunge über die Barthaare und fing dann zu reden an, ehe die Abstimmungszettel aufgenommen waren.

„Ich erhebe Einspruch!“ sagte er.

Sie erstarrten. Sieben Paare schwarzer Augen durchbohrten ihn. Jeder Kandidat hatte das Recht zum Einspruch – aber das zu tun, bedeutete gleichzeitig, daß man die Ehre eines Ausschußmitgliedes in Zweifel zog.

Wenn ein Kandidat, der hier ohne Unterstützung seiner Familie stand, einen solchen Ausschuß angriff, so bedeutete das, daß er sein ganzes zukünftiges Leben auf das Ergebnis seines Einspruchs aufbaute. Die Ausschußmitglieder lehnten sich auf ihren Podesten zurück und sahen Jason an.

„Weshalb, wenn es dem Kandidaten recht ist?“ fragte der Nelkosan mit viel zu freundlicher Stimme.

„Ehrenwerter, weil ich neben meiner bisherigen Erfahrung noch einen weiteren Grund habe, meine Wahl zu verlangen“, sagte Jason.

„Interessant“, knurrte der Nelkosan. Er sah die anderen Ausschußmitglieder an. „Findet ihr nicht auch?“

„Ehrenwerter, ich finde es wirklich interessant“, sagte Ardolf Halbbruder, der Brutogas, mit solch gleichmäßiger Stimme, daß man nicht sagen konnte, ob er dem Nelkosan zustimmte oder sich gegen ihn auflehnte.

„In diesem Fall, Kandidat“, wandte der Nelkosan sich wieder Jason zu, „solltest du uns das erklären. Was für Gründe hast du? Ich muß sagen …“ Er sah sich vielsagend am Tisch um, „… ich hoffe, daß dein Grund dein Verhalten rechtfertigt.“

„Ehrenwerter, ich glaube, das wird er.“ Jason griff in seine Harnischtasche, zog etwas Kleines hervor, trat einen Schritt vor und legte es vor ihnen allen auf den Tisch. Er nahm die Hand weg. Jeder sah jetzt den durchsichtigen Plastikwürfel, in dem ein winziges Etwas zu sehen war. Es sah aus, als schwebe es.

„Ein Wurm?“ Der Nelkosan sträubte seine Barthaare.

„Nein, Ehrenwerter“, sagte Jason. „Ein primitives Lebewesen vom Planeten der Verhüllten Leute.“

Was?“ Plötzlich war der ganze Saal in Aufruhr. Alle Ausschußmitglieder waren aufgesprungen. Einen Augenblick schienen alle gleichzeitig zu reden. Dann verstummten sie wieder. Alle Augen hefteten sich auf Jason, der in Hab-acht-Stellung vor ihnen stand.

„Woher hast du das?“

Das war der Nelkosan. Und obwohl seine Frage rein theoretischer Natur war, klang seine Stimme wie gefrorener Fels.

„Ehrenwerter“, sagte Jason – und das Wissen, daß ihm nicht einmal am Hals der Schweiß ausbrach, tat ihm gut. Jetzt, da jener entscheidende Augenblick gekommen war, fühlte er sich erleichtert, hochgehoben. Seine Stimme war ganz ruhig. „Von dem Artefakt, das ich zur Heimatwelt zurückgebracht habe.“

„Und du hast es niemals den zuständigen Behörden hier im Prüfungszentrum übergeben? Oder wenigstens die Tatsache gemeldet, daß du es besitzt?“

„Nein, Ehrenwerter.“

Einen Augenblick herrschte totengleiches Schweigen im Saal.

„Du weißt, was das bedeutet?“ Die Worte kamen deutlich und abgehackt von dem Nelkosan. Das Gesicht des Familienoberhaupts war steif wie eine Maske. Schon vorher hatte seine Ehre es von ihm erfordert, Kator Zweitvetter abzulehnen oder zu enttäuschen. Aber diese Entwicklung ging über ehrenwerten Tadel hinaus. Es war eine Angelegenheit höchst delikater Ehre. Und der Nelkosan war jetzt so unpersönlich wie ein Richter.

„Mir ist klar“, antwortete Jason, „daß es normalerweise …“

„Normalerweise!“

„Ja, Ehrenwerter, normalerweise. Aber mein Fall“, fuhr Jason fort, „ist nicht normal. Ich habe diesen Organismus nicht genommen, nur weil ich den Wunsch verspürte, ihn zu besitzen.“

Der Nelkosan hockte sich auf sein Podest, und die anderen Ausschußmitglieder folgten seinem Beispiel.

„Das hast du nicht?“ fragte der Nelkosan. „Warum hast du es dann getan – wenn wir fragen dürfen?“

„Ehrenwerter“, sagte Jason, „ich nahm ihn nach gründlicher Überlegung speziell zu dem Zweck, um ihn diesem Auswahlausschuß zu zeigen, wenn der Schlüsselträger für die Expedition zum Planeten der Verhüllten Leute ausgewählt wird.“

Er hatte geendet, und seine Worte schienen schwer zu lasten, so tief war das Schweigen der Ausschußmitglieder. Das Schweigen hallte in seinen Ohren, während er wartete.

„Warum hast du dich dazu entschlossen?“ fragte die Stimme des Nelkosan.

„Ehrenwerter“, sagte er, „und Ihr anderen Mitglieder des Ausschusses, dessen Pflicht in Ehren es ist, den Schlüsselträger auszuwählen, jenen Mann, der die höchste Autorität dieser Expedition tragen wird. Ihr wißt besser als sonst irgend jemand, wie wichtig die Expedition ist. Es ist ein ehrenwerter und vertrauter Zug unserer Rasse, daß wir uns angesichts einer großen Anstrengung unserer selbst sicher fühlen. Aber Selbstvertrauen ist nur ein Teil dessen, was für das Kommando dieser Expedition wichtig ist. Der Schlüsselträger muß nicht nur zuversichtlich sein, so daß er bei seinem ersten Kontakt mit einer Rasse, die der unseren beinahe gleichwertig sein kann, Erfolg hat – sondern absolut sicher!“

Er hielt inne, sah den Ausschuß an und wartete auf eine Reaktion. Aber es waren alles Männer ehrenwerten Alters. Ihre Züge waren undurchdringlich.

„Ich habe mich selbst erforscht, um einen Beweis für diese Sicherheit zu finden, die ich in mir empfand“, fuhr Jason fort. „Ich fühlte, daß es notwendig war, irgendeine Tat zu begehen, die für diese Sicherheit symbolisch war, damit Ihr – der Ausschuß – im Augenblick der Auswahl Euch autorisiert fühlen konntet, mich als Schlüsselträger auszuwählen.“

Wieder hielt er inne.

„Nur weiter“, sagte der ehrenwerte Nelkosan mit völlig ausdrucksloser Stimme und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen.

„Deshalb habe ich den toten fremden Organismus genommen und behalten“, sagte Jason. „Und ich biete ihn Euch jetzt an als Beweis für meine Hingabe an diese Expedition. Diese Hingabe werte ich so hoch, daß ich mein ganzes Vermögen, meine Familienbindungen und schließlich auch meine persönliche Ehre aufs Spiel gesetzt habe, um damit eine Geste zu machen, die Euch davon überzeugt, in mir einen Schlüsselträger zu sehen, der den Erfolg dieser Expedition über alles andere stellt. Ich bin in Eurer Hand. Wenn Ihr mich ablehnt, solltet Ihr sicher sein, daß der, den ihr wählt, noch mehr Hingabe für die Ziele dieser Expedition zeigt als ich.“

Er hörte auf zu reden. Sie sahen ihn wortlos an. Dann sprach der Nelkosan.

„Du nimmst einen Besitz, der dem Prüfungszentrum hier gehören sollte“, sagte er, „und damit nicht zufrieden, wagst du es, diesem Ausschuß vorzuschreiben, wen er als Schlüsselträger einer lebenswichtigen und einzigartigen Expedition auswählen soll. Die Frage ist …“ Er beugte sich vor und starrte Jason an. „… ist das nur Bluff und Unverschämtheit? Oder legst du wirklich alles auf die Waagschale, um diesen Posten zu gewinnen?“

Seine Stimme klang ernst und ehrlich fragend. Jason atmete innerlich auf. Zumindest war es ihm gelungen, den Nelkosan aus einer Haltung kleinlicher Rache herauszureißen und ihn zu zwingen, das echte Ehrproblem zu erkennen, das hier vorlag. Jetzt war der Augenblick gekommen. Es war nichts mehr rückgängig zu machen.

„Ich betrachte meine Tat, den fremden Organismus an mich genommen zu haben, als korrekten und ehrenwerten Beweis für mein Recht, den Posten des Schlüsselträgers zu besetzen, und ich meine, daß der Zufallsfaktor, der zuallererst mir das Artefakt zugänglich gemacht hat, mich darin bestärkt. Und deshalb …“ – er mußte innehalten, um Atem zu holen – „und deshalb spreche ich Euch das Recht ab, mir den Organismus wegzunehmen!“

Und plötzlich wirbelte die Szene vor Jasons Augen, wurde undeutlich und verschwand …